Lange Zeit ist er stumm seiner Wege gegangen.
Er hat etwas aufgegeben, so unser spontaner Eindruck, wird aber kaum gewillt sein, es für uns in Worte zu fassen.
Die Dinge, soviel wissen wir bereits, verraten ihm vertrauensvoll ihre Namen. Sie tun dies, indem sie seine Netzhaut und seine Handflächen beschriften. Nicht mit Buchstaben, die würden bloß die Wirklichkeit verzerren.
Noch immer sucht er regelmäßig seinen Freund, den Fluss auf. Von seiner Lieblingsstelle aus hat er einen Sommer lang eine Frau und einen Mann beobachtet. Die beiden hatten hinter der Biegung ein Lager aufgeschlagen. Er hat sich bedeckt gehalten, hat Liebe und Tod gesehen und die Fürsorge für ein kleines Wesen, das er, als es nach Wochen erwachte und einen Gesang anstimmte, als Nachtigall erkannte.
Er weiß nicht, ob sie ihn bemerkten. Die Dinge aber, die zwischen ihnen das Ufer bevölkerten, verwoben sie miteinander in ihrem unbedingten Netz. Eine wortlose Verknüpfung, gehalten vom Gleichgewicht der gemeinsam geatmeten Luft.
Vielleicht, überlegt er, sollte er seiner Mutter ein paar von den alten Geschichten zurückgeben. Er braucht sie nicht mehr, sind doch so viele freundlich gesinnte Stimmen um ihn herum. Sie aber, die Mutter, ist angewiesener denn je nach ihrem langen, mit Verlernen angefüllten Leben.
Nein, dies ist kein Hochmut, fällt ihm der Fluss ins innere Wort.
Der Zweifel ist ihm ein treuer steinerner Begleiter, für dessen Auswaschung es Jahrzehnte bedarf.
~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~
Wir lassen ihn nur ungern wieder los, wissen wir doch nicht, wie weit und für welche Zeitspanne er sich diesmal entfernen wird. Trotzdem ... (denn auch wir haben dazugelernt) ...
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Donnerstag, 19. Juni 2014
Montag, 16. Juni 2014
Veras Aufzeichnungen (Vogelfrau 10)
...
Dieses kaum spürbare Kitzeln in den Schulterblättern. Fängt es so an?
Dass ich es wirklich will, werde ich daran merken, dass meine Haut dünner wird. Und daran, dass die diffuse Angst einen untergeordneten Platz einnimmt. (Haben sie gesagt. Sie müssen es wissen.)
Wie wird es sein? Da oben. Mit der ungewohnten Last im Rücken. Einer weltausdehnenden Last.
Und du, mein Lieber. Wie wird es für dich sein? Eines Tages wird ein ununterdrückbarer Schreck aus deiner Handfläche in deinen Blick wandern. Du wirst nur langsam begreifen. Dennoch schnell genug. Hoffe ich.
Ich bin so schrecklich müde.
Schreib mich in meine Geschichte, Vera. Was auch immer das heißen mag. Enthalte mir nichts vor, nicht den leisesten Funken fantastischer Möglichkeit.
...
Dieses kaum spürbare Kitzeln in den Schulterblättern. Fängt es so an?
Dass ich es wirklich will, werde ich daran merken, dass meine Haut dünner wird. Und daran, dass die diffuse Angst einen untergeordneten Platz einnimmt. (Haben sie gesagt. Sie müssen es wissen.)
Wie wird es sein? Da oben. Mit der ungewohnten Last im Rücken. Einer weltausdehnenden Last.
Und du, mein Lieber. Wie wird es für dich sein? Eines Tages wird ein ununterdrückbarer Schreck aus deiner Handfläche in deinen Blick wandern. Du wirst nur langsam begreifen. Dennoch schnell genug. Hoffe ich.
Ich bin so schrecklich müde.
Schreib mich in meine Geschichte, Vera. Was auch immer das heißen mag. Enthalte mir nichts vor, nicht den leisesten Funken fantastischer Möglichkeit.
...
Freitag, 16. Mai 2014
Vogelfrau (Vogelfrau 9)
S T I L L E
Um mich her hochkonzentrierte Geschäftigkeit. Nein, keine Hektik, kein Durcheinander. Sie halten an sich und besprechen sachlich das weitere Vorgehen. Aber ich spüre ihr inneres Vibrieren. Sie wollen wissen, unbedingt. Die Ornithologin ist schon eine Nummer. Ein bisschen verrückt, glaube ich. Als sie kurz allein mit mir im Raum war, hat sie mich auf die Stirn geküsst und mir ins Ohr geflüstert, dass sie ganz sanft sein werde. Sie hat einen irren weißen Haarschopf, dem mit einem Kamm wohl nur schwer beizukommen ist. Trägt knallroten Lippenstift. Der ist schon ein bisschen verwischt, weil sie immer wieder den Zeigefinger auf ihre gekräuselten Lippen legt. Dann halten lustigerweise auch alle anderen inne, so deutlich zeigt ihre Geste, dass sie eine Denkpause braucht.
S T I L L E
Ich habe mich ein wenig verliebt. Wie ich mich immerzu verliebt habe. In Menschen, die minimal abweichen. Und das erklärt doch schon alles, nicht wahr? Denn wer, bitteschön, weicht bei genauerem Hinsehen nicht ab von der Masse? Die ganze Masse ist, in ihren Einzelteilen besehen, ein einziges Abweichen und sich Positionieren auf winzigkleinem Raum, der nur eine einzige Person fasst. Nur dass ich bei manchen genauer hinsehe als bei anderen. Weil sie unmittelbar meinen Instinkt ansprechen. Wie Bluhm und Treuer mit ihrer auffälligen stillen Zugewandtheit. Wie die Ornithologin mit ihrer offensichtlichen Schrägheit. Wobei die, natürlich, auch allen anderen hier auffällt. Da werden überraschte und amüsierte und genervte Blicke getauscht. Da wird auch mal hörbar geseufzt. Mir gefällt's.
S T I L L E
Ihr merkt, ich vibriere selbst ein wenig. Meine Melancholie weicht einer Art gespannter Vorfreude. Und fast könnte ich über meiner Menschenverliebtheit den Ernst der Lage vergessen. Aber keine Sorge, Schwestern, das tue ich nicht. Ich traue den Menschen hier im Raum einiges zu. Versteht, dass sie Zeit brauchen, um das alles zu verdauen! Ich bin in guten Händen. Soeben wird das Sezierbesteck ausgebreitet. Es geht los.
S T I L L E
Um mich her hochkonzentrierte Geschäftigkeit. Nein, keine Hektik, kein Durcheinander. Sie halten an sich und besprechen sachlich das weitere Vorgehen. Aber ich spüre ihr inneres Vibrieren. Sie wollen wissen, unbedingt. Die Ornithologin ist schon eine Nummer. Ein bisschen verrückt, glaube ich. Als sie kurz allein mit mir im Raum war, hat sie mich auf die Stirn geküsst und mir ins Ohr geflüstert, dass sie ganz sanft sein werde. Sie hat einen irren weißen Haarschopf, dem mit einem Kamm wohl nur schwer beizukommen ist. Trägt knallroten Lippenstift. Der ist schon ein bisschen verwischt, weil sie immer wieder den Zeigefinger auf ihre gekräuselten Lippen legt. Dann halten lustigerweise auch alle anderen inne, so deutlich zeigt ihre Geste, dass sie eine Denkpause braucht.
S T I L L E
Ich habe mich ein wenig verliebt. Wie ich mich immerzu verliebt habe. In Menschen, die minimal abweichen. Und das erklärt doch schon alles, nicht wahr? Denn wer, bitteschön, weicht bei genauerem Hinsehen nicht ab von der Masse? Die ganze Masse ist, in ihren Einzelteilen besehen, ein einziges Abweichen und sich Positionieren auf winzigkleinem Raum, der nur eine einzige Person fasst. Nur dass ich bei manchen genauer hinsehe als bei anderen. Weil sie unmittelbar meinen Instinkt ansprechen. Wie Bluhm und Treuer mit ihrer auffälligen stillen Zugewandtheit. Wie die Ornithologin mit ihrer offensichtlichen Schrägheit. Wobei die, natürlich, auch allen anderen hier auffällt. Da werden überraschte und amüsierte und genervte Blicke getauscht. Da wird auch mal hörbar geseufzt. Mir gefällt's.
S T I L L E
Ihr merkt, ich vibriere selbst ein wenig. Meine Melancholie weicht einer Art gespannter Vorfreude. Und fast könnte ich über meiner Menschenverliebtheit den Ernst der Lage vergessen. Aber keine Sorge, Schwestern, das tue ich nicht. Ich traue den Menschen hier im Raum einiges zu. Versteht, dass sie Zeit brauchen, um das alles zu verdauen! Ich bin in guten Händen. Soeben wird das Sezierbesteck ausgebreitet. Es geht los.
S T I L L E
Samstag, 10. Mai 2014
Treuer (Vogelfrau 8)
Ein paar Stunden zuvor:
Treuer fürchtete sich.
Nicht nur jetzt, in diesem Moment. Nein, die Furcht war ihr ständiger Begleiter, treu wie kein anderer.
Niemand wusste davon, niemand sah es ihr an. Da war auch nichts, das man ihr hätte ansehen können, denn sobald sie unter Menschen war, verspürte sie keinerlei Furcht mehr. Dann war sie stark und präsent. Dann konnte sie frei heraus reden und lachen, Forderungen stellen und Respekt einflößen, und alles war echt. Ihre Furcht verschwand, sobald sie am Morgen das Haus verließ.
Aber in der Nacht, allein in ihrer Wohnung, da fürchtete sie sich. Wenn sie nach Hause kam, knipste sie mit dem Sammelschalter, den sie direkt neben der Wohnungstür hatte installieren lassen, sämtliche Lampen an. Anschließend machte sie ihren Kontrollgang durch die Zimmer mit Blick in jede Ecke, hinter jede Tür. Erst dann drehte sie dreimal den Schlüssel im Schloss und zog Schuhe und Jacke aus.
Treuer dachte an die Tote. Die Vogelfrau, wie Bluhm sie nannte. Ihre Haut war weiß und zart, jedenfalls da, wo sie vom Sturz unbeschadet war. Da schien sie regelrecht unangetastet. Die weißen Schwingen. Der Flaum und die zarteren Federn, die vom geringsten Lufthauch bewegt wurden und von Lebendigkeit sprachen. Nicht von Auslöschung, wie der Asphalt und das Blut und der kalte Obduktionstisch.
Das Wunder der angewachsenen Flügel. Dr. F... hatte, als ihr das Wort Wunder von den Lippen sprang, die Stirn gerunzelt. Natürlich, hier in der kalten Sezierkammer war man Wissenschaftler pur. Es gab Fakten und streng begrenzte Schlüsse, die daraus gezogen wurden. Es gab offene Fragen und Thesen und Methoden und Spuren und Indizien und Beweise. Aber Wunder gab es nicht. Jedenfalls keine ausgesprochenen. Morgen sollte weiter untersucht, sollte geröntgt, seziert und mikroskopiert werden. Ein Ornithologe würde hinzugezogen werden.
Treuer dachte an den Satz, der auf der Rückseite der Liste stand: Ich bin nicht die Einzige. Einer der Kollegen hatte am Abend noch gemeint, wenn sie nicht allein gewesen sei, müsse man unbedingt auch in diese Richtung ermitteln. Ihr war das sofort aufgestoßen, der andere Wortlaut: die Einzige - allein. Sie war zu müde für eine Klarstellung und eine möglicherweise folgende Diskussion gewesen und hatte deshalb nichts gesagt. Ich bin nicht die Einzige. Nicht die einzige was? Vogelfrau? Nicht die Einzige, aber mit Sicherheit allein, sonst hätte sie sich nicht in den Tod gestürzt. Und wie es aussah, waren da noch mehr, die zwar nicht die Einzigen, aber ganz und gar allein waren.
Treuer lag im Bett, die Lampen waren ausgeschaltet bis auf die im Flur, die brannte die ganze Nacht hindurch. Ein kleines Licht gegen die Furcht. Wovor? Vor dem Dunkel und den darin lauernden Gestalten, die nur darauf warteten, ihre Nerven zu zerfetzen. Die mit ihren Klauen ihr Fleisch durchbohrten, mitten in ihren Leib griffen, um alles säuberlich Geschichtete durcheinander zu stoßen. Die keinen Halt machten vor dem Weggesperrten, die mit ihren Zähnen Schlösser knackten ...
Treuer stöhnte auf und wälzte sich auf die andere Seite, knipste zusätzlich das Lämpchen auf ihrem Nachttisch an, betrachtete das Foto, das dort im Silberrahmen stand: Sie als Kind auf einer Schaukel, hoch in der Luft, die Flügel des Elfenkostüms schimmerten in der Mittagssonne. Es war ihr fünfter Geburtstag, die Schaukel hatte der Vater gerade am stärksten Ast des Kastanienbaums aufgehängt. Bald würden die Gäste kommen. Sie spürte den Wind an den nackten Beinen, goldener Sonnenflitter regnete durchs Blätterdach auf sie herab. Alles sprühte und ihr kleines Herz platzte fast vor Glück. Das war die ganze herrliche Welt und sie mittendrin.
Irgendwann schlief Treuer ein, endlich, und mit ihr schlief die Furcht.
Treuer fürchtete sich.
Nicht nur jetzt, in diesem Moment. Nein, die Furcht war ihr ständiger Begleiter, treu wie kein anderer.
Niemand wusste davon, niemand sah es ihr an. Da war auch nichts, das man ihr hätte ansehen können, denn sobald sie unter Menschen war, verspürte sie keinerlei Furcht mehr. Dann war sie stark und präsent. Dann konnte sie frei heraus reden und lachen, Forderungen stellen und Respekt einflößen, und alles war echt. Ihre Furcht verschwand, sobald sie am Morgen das Haus verließ.
Aber in der Nacht, allein in ihrer Wohnung, da fürchtete sie sich. Wenn sie nach Hause kam, knipste sie mit dem Sammelschalter, den sie direkt neben der Wohnungstür hatte installieren lassen, sämtliche Lampen an. Anschließend machte sie ihren Kontrollgang durch die Zimmer mit Blick in jede Ecke, hinter jede Tür. Erst dann drehte sie dreimal den Schlüssel im Schloss und zog Schuhe und Jacke aus.
Treuer dachte an die Tote. Die Vogelfrau, wie Bluhm sie nannte. Ihre Haut war weiß und zart, jedenfalls da, wo sie vom Sturz unbeschadet war. Da schien sie regelrecht unangetastet. Die weißen Schwingen. Der Flaum und die zarteren Federn, die vom geringsten Lufthauch bewegt wurden und von Lebendigkeit sprachen. Nicht von Auslöschung, wie der Asphalt und das Blut und der kalte Obduktionstisch.
Das Wunder der angewachsenen Flügel. Dr. F... hatte, als ihr das Wort Wunder von den Lippen sprang, die Stirn gerunzelt. Natürlich, hier in der kalten Sezierkammer war man Wissenschaftler pur. Es gab Fakten und streng begrenzte Schlüsse, die daraus gezogen wurden. Es gab offene Fragen und Thesen und Methoden und Spuren und Indizien und Beweise. Aber Wunder gab es nicht. Jedenfalls keine ausgesprochenen. Morgen sollte weiter untersucht, sollte geröntgt, seziert und mikroskopiert werden. Ein Ornithologe würde hinzugezogen werden.
Treuer dachte an den Satz, der auf der Rückseite der Liste stand: Ich bin nicht die Einzige. Einer der Kollegen hatte am Abend noch gemeint, wenn sie nicht allein gewesen sei, müsse man unbedingt auch in diese Richtung ermitteln. Ihr war das sofort aufgestoßen, der andere Wortlaut: die Einzige - allein. Sie war zu müde für eine Klarstellung und eine möglicherweise folgende Diskussion gewesen und hatte deshalb nichts gesagt. Ich bin nicht die Einzige. Nicht die einzige was? Vogelfrau? Nicht die Einzige, aber mit Sicherheit allein, sonst hätte sie sich nicht in den Tod gestürzt. Und wie es aussah, waren da noch mehr, die zwar nicht die Einzigen, aber ganz und gar allein waren.
Treuer lag im Bett, die Lampen waren ausgeschaltet bis auf die im Flur, die brannte die ganze Nacht hindurch. Ein kleines Licht gegen die Furcht. Wovor? Vor dem Dunkel und den darin lauernden Gestalten, die nur darauf warteten, ihre Nerven zu zerfetzen. Die mit ihren Klauen ihr Fleisch durchbohrten, mitten in ihren Leib griffen, um alles säuberlich Geschichtete durcheinander zu stoßen. Die keinen Halt machten vor dem Weggesperrten, die mit ihren Zähnen Schlösser knackten ...
Treuer stöhnte auf und wälzte sich auf die andere Seite, knipste zusätzlich das Lämpchen auf ihrem Nachttisch an, betrachtete das Foto, das dort im Silberrahmen stand: Sie als Kind auf einer Schaukel, hoch in der Luft, die Flügel des Elfenkostüms schimmerten in der Mittagssonne. Es war ihr fünfter Geburtstag, die Schaukel hatte der Vater gerade am stärksten Ast des Kastanienbaums aufgehängt. Bald würden die Gäste kommen. Sie spürte den Wind an den nackten Beinen, goldener Sonnenflitter regnete durchs Blätterdach auf sie herab. Alles sprühte und ihr kleines Herz platzte fast vor Glück. Das war die ganze herrliche Welt und sie mittendrin.
Irgendwann schlief Treuer ein, endlich, und mit ihr schlief die Furcht.
Sonntag, 27. April 2014
Wir könnten uns - wie die Ornithologin - ... (Vogelfrau 7)
... mit den Harpyien beschäftigen. Ja!
Dieser Gedanke, der uns alle ergreift, als wären wir eins, kommt so unerwartet, dass wir nicht anders können, als ihm zu trauen.
Auf der Stelle stürzen wir uns in die Recherche, besorgen uns Literatur sowohl über den Vogel als auch und vor allem über den Mythos des Mischwesens.
Wir verstummen, wir fiebern, wir lechzen.
Wir freuen uns an der Erforschung des größten Greifvogels der Welt.
Wir erschrecken ob der einseitigen Darstellung der mythologischen Gestalt.
Vogelfrau!
Wir sind sowas von auf deiner Seite! Wer das nicht erkennt an der Ausrichtung unseres Herzschlags, dem ist nicht zu helfen.
Wir fragen: Wo sind die Dichterinnen unter uns?
Überlasst nicht den Männern das Feld! Weder den alten (Homer, Vergil, Ovid) noch den jungen (zum Beispiel: Durs Grünbein, ha! Sorry, aber selbst du mit deinem zerpflückenden Blick verlässt nicht den ausgetretenen Pfad.).
Was wissen sie schon, die sie aus ganz anderen Wunden bluten?
Wir haben zu tun, liebe Freunde der gefiederten Wesen. Wir glühen wie Kinder im Spiel.
Und entschuldigt!: Wir nahmen im Eifer unserer Begeisterung etwas vorweg. Aber jetzt nehmen wir uns wieder zurück und überlassen der Geschichte selbst das Weitererzählen.
(Und erwähnen nur schnell noch am Rande, dass die Ornithologin sich neben den Harpyien auch mit dem Einfluss von Viren auf den genetischen Code befasst.)
Dieser Gedanke, der uns alle ergreift, als wären wir eins, kommt so unerwartet, dass wir nicht anders können, als ihm zu trauen.
Auf der Stelle stürzen wir uns in die Recherche, besorgen uns Literatur sowohl über den Vogel als auch und vor allem über den Mythos des Mischwesens.
Wir verstummen, wir fiebern, wir lechzen.
Wir freuen uns an der Erforschung des größten Greifvogels der Welt.
Wir erschrecken ob der einseitigen Darstellung der mythologischen Gestalt.
Vogelfrau!
Wir sind sowas von auf deiner Seite! Wer das nicht erkennt an der Ausrichtung unseres Herzschlags, dem ist nicht zu helfen.
Wir fragen: Wo sind die Dichterinnen unter uns?
Überlasst nicht den Männern das Feld! Weder den alten (Homer, Vergil, Ovid) noch den jungen (zum Beispiel: Durs Grünbein, ha! Sorry, aber selbst du mit deinem zerpflückenden Blick verlässt nicht den ausgetretenen Pfad.).
Was wissen sie schon, die sie aus ganz anderen Wunden bluten?
Wir haben zu tun, liebe Freunde der gefiederten Wesen. Wir glühen wie Kinder im Spiel.
Und entschuldigt!: Wir nahmen im Eifer unserer Begeisterung etwas vorweg. Aber jetzt nehmen wir uns wieder zurück und überlassen der Geschichte selbst das Weitererzählen.
(Und erwähnen nur schnell noch am Rande, dass die Ornithologin sich neben den Harpyien auch mit dem Einfluss von Viren auf den genetischen Code befasst.)
Montag, 21. April 2014
Gestern gerieten wir in Streit, weil ... (Vogelfrau 6)
... die Neuen, die dazugestoßen sind, nicht fraglos hinnehmen wollten, dass wir die Geschichte scheinbar aus der Hand geben.
Zunächst einmal: Was macht man mit neuen Stimmen, die aus dem Nichts auftauchen und sich gebärden, als gehörten sie wie selbstverständlich dazu? Antwort: Man schluckt (oder schläft eine Nacht darüber, wenn Schlucken nicht reicht) und akzeptiert, dass sie tatsächlich selbstverständlich dazugehören. Dass sie später eintreffen und unsere Regeln noch nicht kennen, tut nichts zur Sache. Weder sie noch wir sind aufgefordert, uns blind anzupassen, sondern uns neu zusammen zu finden.
Puh, anstrengend.
Es gab die "Das geht so aber nicht."- und die "Keine Lust auf den Sch..."-Stimmen. Es gab die, die am liebsten alles hinschmeißen wollten und die, die versuchten zu beschwichtigen. Aufruhr. Tumult.
Dann gab's Kaffee und Kuchen. Den hatten die Neuen mitgebracht. Mjam. Annäherung geht durch den Magen. Wir beschlossen, zu reden.
Die Neuen waren, so stellte sich heraus, gar nicht sooo neu, sondern hatten den Verlauf unserer Geschichte von Anfang an verfolgt. Schweigend und aus einer gewissen Distanz. Wir anderen fühlten uns seltsam nackt.
Es befremdete sie, dass wir uns derart zurücknahmen, völlig kritiklos aufschrieben, was kam, aber von uns aus nichts hinzufügten.
Wir verstanden, dass es von außen so wirken musste und versuchten zu erklären, dass genau das Gegenteil zutraf: Was wir ungehindert kommen lassen, kommt nicht von außen, sondern aus uns. Was wir zurückhalten, ist das, was uns von uns trennt, all das aufgepfropfte, übergestülpte Wissen und Denken aus Jahrzehnten einer manipulierenden Unterrichtung.
Sie schluckten. Manche, denen das nicht reichte, schliefen eine Nacht darüber.
Und nun sitzen wir wieder zusammen. Sie, die Neuen, haben uns gefragt, ob wir nicht langsam einen Teil unserer Angst ablegen wollten. Ob nicht mittlerweile manches von dem, was wir nicht kommen lassen, sondern selbst hinzufügen, frei sein könnte von der alten Manipulation. Schon wieder etwas zum Nachdenken! Es ist anstrengend. Aber auch anregend. Ja, sind wir ehrlich, es macht sogar irgendwie Spaß.
Zurück zur Vogelfrau. Bluhm und Treuer stehen schon in den Startlöchern. Wir meinen sogar, einen leicht genervten Seufzer aufgeschnappt zu haben, weil wir solange mit unseren Grundsatzdiskussionen beschäftigt sind. Lasst uns! Alles ist wichtig. Und lohnt sich, denn das "uns" zwei Sätze zuvor trennt schon nicht mehr zwischen den Alten und den Neuen.
Ist der Ornithologe schon eingetroffen? Ach, eine Ornithologin? Wunderbar!
Zunächst einmal: Was macht man mit neuen Stimmen, die aus dem Nichts auftauchen und sich gebärden, als gehörten sie wie selbstverständlich dazu? Antwort: Man schluckt (oder schläft eine Nacht darüber, wenn Schlucken nicht reicht) und akzeptiert, dass sie tatsächlich selbstverständlich dazugehören. Dass sie später eintreffen und unsere Regeln noch nicht kennen, tut nichts zur Sache. Weder sie noch wir sind aufgefordert, uns blind anzupassen, sondern uns neu zusammen zu finden.
Puh, anstrengend.
Es gab die "Das geht so aber nicht."- und die "Keine Lust auf den Sch..."-Stimmen. Es gab die, die am liebsten alles hinschmeißen wollten und die, die versuchten zu beschwichtigen. Aufruhr. Tumult.
Dann gab's Kaffee und Kuchen. Den hatten die Neuen mitgebracht. Mjam. Annäherung geht durch den Magen. Wir beschlossen, zu reden.
Die Neuen waren, so stellte sich heraus, gar nicht sooo neu, sondern hatten den Verlauf unserer Geschichte von Anfang an verfolgt. Schweigend und aus einer gewissen Distanz. Wir anderen fühlten uns seltsam nackt.
Es befremdete sie, dass wir uns derart zurücknahmen, völlig kritiklos aufschrieben, was kam, aber von uns aus nichts hinzufügten.
Wir verstanden, dass es von außen so wirken musste und versuchten zu erklären, dass genau das Gegenteil zutraf: Was wir ungehindert kommen lassen, kommt nicht von außen, sondern aus uns. Was wir zurückhalten, ist das, was uns von uns trennt, all das aufgepfropfte, übergestülpte Wissen und Denken aus Jahrzehnten einer manipulierenden Unterrichtung.
Sie schluckten. Manche, denen das nicht reichte, schliefen eine Nacht darüber.
Und nun sitzen wir wieder zusammen. Sie, die Neuen, haben uns gefragt, ob wir nicht langsam einen Teil unserer Angst ablegen wollten. Ob nicht mittlerweile manches von dem, was wir nicht kommen lassen, sondern selbst hinzufügen, frei sein könnte von der alten Manipulation. Schon wieder etwas zum Nachdenken! Es ist anstrengend. Aber auch anregend. Ja, sind wir ehrlich, es macht sogar irgendwie Spaß.
Zurück zur Vogelfrau. Bluhm und Treuer stehen schon in den Startlöchern. Wir meinen sogar, einen leicht genervten Seufzer aufgeschnappt zu haben, weil wir solange mit unseren Grundsatzdiskussionen beschäftigt sind. Lasst uns! Alles ist wichtig. Und lohnt sich, denn das "uns" zwei Sätze zuvor trennt schon nicht mehr zwischen den Alten und den Neuen.
Ist der Ornithologe schon eingetroffen? Ach, eine Ornithologin? Wunderbar!
Freitag, 18. April 2014
Vogelfrau (Vogelfrau 5)
S T I L L E
Sie haben mir das Kleid vom Leib geschnitten und taten das so vorsichtig, als wollten sie mir nicht weh tun. Dabei spürt dieser Körper längst nichts mehr. Wahrscheinlich liegt es an den Flügeln. Die haben bisher noch jedem, der sie zu Gesicht bekam, sowas wie Ehrfurcht eingeflößt. Ich musste dann immer schmunzeln. Die Kripobeamten waren schon vor dem Haus ganz erschrocken, als sie feststellten, dass man sie nicht einfach so abnehmen konnte. Die Flügel meine ich. Das war immer so: Alle dachten, ich hätte sie umgeschnallt. Die meisten ließ ich in dem Glauben, die Wahrheit hätte mir sowieso keiner abgenommen.
S T I L L E
Was sie inzwischen wissen: Dass die Flügel mit meinem Skelett verwachsen sind. Wie, das wissen sie noch nicht. Dr. F... sprach von verschiedenen Möglichkeiten, von der des natürlichen Wachstums und von der des Einpflanzens. Er wird nun einen Ornithologen zu Rate ziehen. Das wird amüsant.
S T I L L E
Bluhm und Treuer mag ich irgendwie. Wie sie miteinander umgehen. Sie achten aufeinander. Ich freue mich darauf, mehr über sie zu erfahren. Bluhm nennt mich Vogelfrau. Guter Mann. Momentan hat er vergessen, was auf der Rückseite meiner Liste steht: Dass ich nicht die einzige bin. Nicht die einzige Vogelfrau. Ach, und so müde bin ich jetzt. Schwestern, hört ihr mich? Könnt ihr mich sehen, hier in dem kühlen, dunklen Raum? Ich bleibe noch ein wenig.
S T I L L E
Sie haben mir das Kleid vom Leib geschnitten und taten das so vorsichtig, als wollten sie mir nicht weh tun. Dabei spürt dieser Körper längst nichts mehr. Wahrscheinlich liegt es an den Flügeln. Die haben bisher noch jedem, der sie zu Gesicht bekam, sowas wie Ehrfurcht eingeflößt. Ich musste dann immer schmunzeln. Die Kripobeamten waren schon vor dem Haus ganz erschrocken, als sie feststellten, dass man sie nicht einfach so abnehmen konnte. Die Flügel meine ich. Das war immer so: Alle dachten, ich hätte sie umgeschnallt. Die meisten ließ ich in dem Glauben, die Wahrheit hätte mir sowieso keiner abgenommen.
S T I L L E
Was sie inzwischen wissen: Dass die Flügel mit meinem Skelett verwachsen sind. Wie, das wissen sie noch nicht. Dr. F... sprach von verschiedenen Möglichkeiten, von der des natürlichen Wachstums und von der des Einpflanzens. Er wird nun einen Ornithologen zu Rate ziehen. Das wird amüsant.
S T I L L E
Bluhm und Treuer mag ich irgendwie. Wie sie miteinander umgehen. Sie achten aufeinander. Ich freue mich darauf, mehr über sie zu erfahren. Bluhm nennt mich Vogelfrau. Guter Mann. Momentan hat er vergessen, was auf der Rückseite meiner Liste steht: Dass ich nicht die einzige bin. Nicht die einzige Vogelfrau. Ach, und so müde bin ich jetzt. Schwestern, hört ihr mich? Könnt ihr mich sehen, hier in dem kühlen, dunklen Raum? Ich bleibe noch ein wenig.
S T I L L E
Sonntag, 13. April 2014
Verwachsen (Vogelfrau 4)
Als Bluhm tief in der Nacht nach Hause kam, schlief seine Frau bereits. Er streifte die Kleider ab und kroch zu ihr unter die Decke, schmiegte sich sacht an ihren Rücken. Federleicht war sie in den vergangenen Monaten geworden. Die Schulterblätter stachen heraus. Er strich mit dem Finger darüber - diese zarte Haut, diese zerbrechlich wirkenden Knochen.
Die andere Frau ging ihm nicht aus dem Kopf, die Vogelfrau, wie er und die Kollegen sie inzwischen nannten.
Sie lag auf dem Obduktionstisch in der Rechtsmedizin. Eine erste Untersuchung hatte ergeben, dass die Flügel nicht, wie zunächst angenommen, mit der Haut der Toten vernäht oder verklebt, sondern offenbar mit ihrem Skelett verwachsen waren.
Sprachlos starrten sie auf die weißen Federn, die den Rücken der Frau bis hinunter zu den Kniekehlen bedeckten. Schließlich zog Dr. F... das Laken über sie und verkündete, dass er morgen einen Ornithologen konsultieren werde.
Bluhm ahnte, dass die Vogelfrau in seinen Träumen auftauchen würde, und genauso war es. Aber nicht nur sie, auch er und seine Frau waren mit Flügeln ausgestattet. Vera hob ab und tanzte im Wind, als sei sie eine einzige Feder, leicht wie Blütenstaub. Er hingegen war zu schwer und wagte wohl auch nicht, den festen Boden unter seinen Füßen zu verlassen. Das einzige, was er zustande brachte, war ein Winken mit dem rechten Flügel, wie zum Abschied. Und der klägliche Versuch, mit dem linken die Tränen aus den Augen zu wischen, nachdem beide Frauen seinem Blick entschwunden waren.
Die andere Frau ging ihm nicht aus dem Kopf, die Vogelfrau, wie er und die Kollegen sie inzwischen nannten.
Sie lag auf dem Obduktionstisch in der Rechtsmedizin. Eine erste Untersuchung hatte ergeben, dass die Flügel nicht, wie zunächst angenommen, mit der Haut der Toten vernäht oder verklebt, sondern offenbar mit ihrem Skelett verwachsen waren.
Sprachlos starrten sie auf die weißen Federn, die den Rücken der Frau bis hinunter zu den Kniekehlen bedeckten. Schließlich zog Dr. F... das Laken über sie und verkündete, dass er morgen einen Ornithologen konsultieren werde.
Bluhm ahnte, dass die Vogelfrau in seinen Träumen auftauchen würde, und genauso war es. Aber nicht nur sie, auch er und seine Frau waren mit Flügeln ausgestattet. Vera hob ab und tanzte im Wind, als sei sie eine einzige Feder, leicht wie Blütenstaub. Er hingegen war zu schwer und wagte wohl auch nicht, den festen Boden unter seinen Füßen zu verlassen. Das einzige, was er zustande brachte, war ein Winken mit dem rechten Flügel, wie zum Abschied. Und der klägliche Versuch, mit dem linken die Tränen aus den Augen zu wischen, nachdem beide Frauen seinem Blick entschwunden waren.
Samstag, 15. März 2014
Am Abend saßen wir zusammen und ... (Vogelfrau 3)
... sprachen über die Ereignisse des Tages. Einer von uns hatte gehört, wie Bluhm im Aufzug vor sich hin murmelte: "Lass dies um Himmels willen keinen Krimi sein, bitte lass dies keinen Krimi sein."
Wir lachten, aber nicht, weil wir Bluhms Aussage so witzig fanden, sondern um das Gefühl der Beklemmung abzuschütteln.
Zur Sache: Die Rollen waren klassisch verteilt, ohne dass wir bewusst Einfluss darauf genommen hatten. Letzteres war uns einzig gültiger Beweis für die Echtheit einer Geschichte. Anscheinend waren wir noch nicht so weit, uns vollkommen von alten Klischees zu lösen.
Nächster Punkt: Die Flügel. Einige hätten gerne ihre Ideen dazu geäußert, aber unser gemeinschaftlicher Beschluss lautete: Abwarten! Wir wollen nehmen, was kommt.
Nochmal zurück zu Bluhms gemurmelter Bitte: Da ließ sich was machen. Hielten wir doch ohnehin nicht viel von Genrezuordnungen. Wir konnten die Ereignisse laufen lassen, ohne sie unter einen Oberbegriff zu fassen. Konnten wir doch, oder? Oder?? Die Zweifler unter uns beeilten sich, zustimmend zu nicken. Naja ...
Das ist eben alles noch Neuland für uns. Groß die Gefahr (oder nur unsere Angst?), sich zu verlaufen. Aber selbst dann ... Hey, wir wollten das so! Wir wollten diese Form von Freihei!. Lasst sie uns bis zur Neige auskosten!
Freitag, 14. März 2014
Taube auf Balkonbrüstung (Vogelfrau 2)
Bluhm setzte sich auf den Drehstuhl vor dem Schreibtisch, ließ die Hand mit der Liste sinken und sah zum Fenster hinaus. Eine Taube hatte sich auf der Balkonbrüstung niedergelassen und schaute ihn mit schiefgelegtem Kopf an. Er zückte seine Kamera und schoss ein Foto. Vögel an Tatorten. Vor Jahren hatte er damit angefangen, inzwischen war eine ganze Serie daraus geworden. Seine Frau liebte diese Fotos. Wie überhaupt das Betrachten und Beobachten jeglichen Federvolks zu ihrer größten Leidenschaft geworden war, seit sie den Großteil ihrer Tage liegend verbringen musste. Im Bett, oder auf dem Sofa, von dem aus sie den Garten überblickte. Die Sträucher, in denen die Amseln nisteten, den Sandsteintrog, der als Tränke und Bad diente, das Vogelhaus, das im Winter mit Körnern lockte ...
Die Taube flatterte auf und verschwand aus seinem Sichtfeld.
Bluhm wendete das Papier in seiner Hand. Am unteren Rand der Rückseite stand in winzigen, blassen Buchstaben ein weiterer Satz: Ich bin nicht die Einzige! Ohne Anführungszeichen. Also kein Zitat diesmal?
Bluhm zückte sein Handy und klingelte Treuer an: "Wie weit seid ihr da unten?"
"Du kannst dir nicht vorstellen, was ... Komm mal runter, sie verfrachten sie gerade in den Wagen."
"Was ist mit den Flügeln?"
"Das ist es ja! Musst du dir selber ansehen. Wie weit bist du denn?"
"Hab gerade das obligatorische Vogelfoto geschossen."
Treuer seufzte deutlich hörbar durch die Leitung: "Ach Bluhm ..."
"Ich komm runter!", rief er und legte auf.
Er legte die Liste zurück auf den Schreibtisch, steckte Handy und Brille ein und verließ die Wohnung.
Die Taube flatterte auf und verschwand aus seinem Sichtfeld.
Bluhm wendete das Papier in seiner Hand. Am unteren Rand der Rückseite stand in winzigen, blassen Buchstaben ein weiterer Satz: Ich bin nicht die Einzige! Ohne Anführungszeichen. Also kein Zitat diesmal?
Bluhm zückte sein Handy und klingelte Treuer an: "Wie weit seid ihr da unten?"
"Du kannst dir nicht vorstellen, was ... Komm mal runter, sie verfrachten sie gerade in den Wagen."
"Was ist mit den Flügeln?"
"Das ist es ja! Musst du dir selber ansehen. Wie weit bist du denn?"
"Hab gerade das obligatorische Vogelfoto geschossen."
Treuer seufzte deutlich hörbar durch die Leitung: "Ach Bluhm ..."
"Ich komm runter!", rief er und legte auf.
Er legte die Liste zurück auf den Schreibtisch, steckte Handy und Brille ein und verließ die Wohnung.
Donnerstag, 13. März 2014
Du kannst nicht fliegen (Vogelfrau 1)
- Der Versuch der Um- oder Neuschreibung einer vor mehreren Jahren verfassten Kurzgeschichte, die zwar abgeschlossen, aber dennoch irgendwie unfertig war. Mal sehn, was dabei herauskommt. -
Die Wohnungstür war lediglich ins Schloss gezogen worden. Auch die Tür zum Balkonzimmer war nicht abgesperrt. Die Frau hätte problemlos auf dem üblichen Weg entkommen können. Warum sie einen anderen gewählt hatte? Das herauszufinden, war Ermittlungssache.
Entkommen können. In dieser Kategorie dachte Bluhm, nachdem er sich gründlich im Zimmer der Toten umgesehen hatte.
Treten wir ein paar Schritte und ein, zwei Stunden zurück:
Ein Grüppchen Passanten hatte die Polizei verständigt: Sie hatten bemerkt, wie die Frau auf die Brüstung des Balkons geklettert war. Einer hatte noch zu ihr hinauf gerufen, ein anderer war zur Haustür gestürzt, um sämtliche Klingelknöpfe zu drücken. Aber als die ersten Stimmen durch die Gegensprechanlage drangen, lag sie bereits auf dem Gehweg. Zerschmettert, in einer wachsenden Blutlache, die Flügel weitgehend unversehrt und zu beiden Seiten ausgebreitet.
Hauptkommissar Bluhm trat durch die offene Balkontür hinaus und beugte sich über die Brüstung. Sieben Stockwerke tiefer kümmerten sich seine Kollegen um die Leiche und um die Passanten. Verdammt nochmal, warum nahmen sie ihr nicht endlich die Flügel ab?! Er sandte einen schrillen Pfiff hinunter. Kollegin Treuer blickte auf und erhob sich, drehte die Handflächen nach außen, zog die Schultern hoch und schüttelte den Kopf. Dann machte sie eine flatternde Bewegung mit den Armen, griff sich an die Schulter und tat, als versuche sie ihren Arm abzutrennen. Was ihr nicht gelang. Erneut die Geste der Ratlosigkeit.
Was hatte das zu bedeuten? Bluhm fuchtelte ein Fragezeichen in die Luft, aber da war Treuer schon wieder in die Hocke gegangen, um sich weiter mit den Kollegen zu beraten.
Diese absurden, diese nutzlosen Flügel ...
Ah, offenbar waren sie überein gekommen, das lange weiße Kleid zu entfernen oder zu öffnen. Treuer und ein anderer waren mit Scheren zugange. Soweit er das auf die Entfernung erkennen konnte.
Bluhm wandte sich ab und trat über die Schwelle zurück ins Zimmer. Dort ließ er den Blick schweifen, so erwartungslos, wie es ihm möglich war. Ein Blatt Papier auf dem ansonsten leeren Schreibtisch fesselte seine Aufmerksamkeit.
Es war dicht beschrieben, in einer akkuraten Handschrift. Er nahm es vom Tisch: Eine Sammlung von Sätzen beziehungsweise Aussagen, teilweise durchgestrichen oder farbig markiert. Der Form nach eine Art Zitatliste.
Bluhm angelte seine Lesebrille aus der Brusttasche. "Du wirst MICH immer lieben, von Anbeginn liebe ICH dich.", lautete der erste Satz. Er war rot durchgestrichen und wiederholte sich mehrmals im Lauf der Liste. Desweiteren:
"Heute gehört uns der Himmel, morgen das ganze All."
"Es gibt kein Gold, nur toten Glanz."
"Wir singen, wir toben, wir regieren die Welt."
"Es gibt nur uns, für dich nur MICH, der Rest ist Schein."
"Wir wollen tanzen, bis der Boden blutet."
"Lass unsere Liebe einzig sein; ICH esse dich wie Brot, und du trinkst MICH wie Wein."
"Wir werden ewig sein, du bist alleine MEIN."
Und so weiter und so fort. Eine Auflistung seltsamer, befremdender Aussagen.
Am Ende: "ICH bin zu jeder Zeit und an jedem Ort."
Und als letzter Satz, so oft nachgezeichnet, bis das Papier an einigen Stellen gerissen war: "Du kannst nicht fliegen."
*
Die Wohnungstür war lediglich ins Schloss gezogen worden. Auch die Tür zum Balkonzimmer war nicht abgesperrt. Die Frau hätte problemlos auf dem üblichen Weg entkommen können. Warum sie einen anderen gewählt hatte? Das herauszufinden, war Ermittlungssache.
Entkommen können. In dieser Kategorie dachte Bluhm, nachdem er sich gründlich im Zimmer der Toten umgesehen hatte.
Treten wir ein paar Schritte und ein, zwei Stunden zurück:
Ein Grüppchen Passanten hatte die Polizei verständigt: Sie hatten bemerkt, wie die Frau auf die Brüstung des Balkons geklettert war. Einer hatte noch zu ihr hinauf gerufen, ein anderer war zur Haustür gestürzt, um sämtliche Klingelknöpfe zu drücken. Aber als die ersten Stimmen durch die Gegensprechanlage drangen, lag sie bereits auf dem Gehweg. Zerschmettert, in einer wachsenden Blutlache, die Flügel weitgehend unversehrt und zu beiden Seiten ausgebreitet.
Hauptkommissar Bluhm trat durch die offene Balkontür hinaus und beugte sich über die Brüstung. Sieben Stockwerke tiefer kümmerten sich seine Kollegen um die Leiche und um die Passanten. Verdammt nochmal, warum nahmen sie ihr nicht endlich die Flügel ab?! Er sandte einen schrillen Pfiff hinunter. Kollegin Treuer blickte auf und erhob sich, drehte die Handflächen nach außen, zog die Schultern hoch und schüttelte den Kopf. Dann machte sie eine flatternde Bewegung mit den Armen, griff sich an die Schulter und tat, als versuche sie ihren Arm abzutrennen. Was ihr nicht gelang. Erneut die Geste der Ratlosigkeit.
Was hatte das zu bedeuten? Bluhm fuchtelte ein Fragezeichen in die Luft, aber da war Treuer schon wieder in die Hocke gegangen, um sich weiter mit den Kollegen zu beraten.
Diese absurden, diese nutzlosen Flügel ...
Ah, offenbar waren sie überein gekommen, das lange weiße Kleid zu entfernen oder zu öffnen. Treuer und ein anderer waren mit Scheren zugange. Soweit er das auf die Entfernung erkennen konnte.
Bluhm wandte sich ab und trat über die Schwelle zurück ins Zimmer. Dort ließ er den Blick schweifen, so erwartungslos, wie es ihm möglich war. Ein Blatt Papier auf dem ansonsten leeren Schreibtisch fesselte seine Aufmerksamkeit.
Es war dicht beschrieben, in einer akkuraten Handschrift. Er nahm es vom Tisch: Eine Sammlung von Sätzen beziehungsweise Aussagen, teilweise durchgestrichen oder farbig markiert. Der Form nach eine Art Zitatliste.
Bluhm angelte seine Lesebrille aus der Brusttasche. "Du wirst MICH immer lieben, von Anbeginn liebe ICH dich.", lautete der erste Satz. Er war rot durchgestrichen und wiederholte sich mehrmals im Lauf der Liste. Desweiteren:
"Heute gehört uns der Himmel, morgen das ganze All."
"Es gibt kein Gold, nur toten Glanz."
"Wir singen, wir toben, wir regieren die Welt."
"Es gibt nur uns, für dich nur MICH, der Rest ist Schein."
"Wir wollen tanzen, bis der Boden blutet."
"Lass unsere Liebe einzig sein; ICH esse dich wie Brot, und du trinkst MICH wie Wein."
"Wir werden ewig sein, du bist alleine MEIN."
Und so weiter und so fort. Eine Auflistung seltsamer, befremdender Aussagen.
Am Ende: "ICH bin zu jeder Zeit und an jedem Ort."
Und als letzter Satz, so oft nachgezeichnet, bis das Papier an einigen Stellen gerissen war: "Du kannst nicht fliegen."
Mittwoch, 9. Oktober 2013
Epilog (nach dem Traum 25) & Geschafft! (fürs Erste)
Die zwei Frauen standen am geöffneten Fenster ihres Schlafsaals und blickten hinaus zur Mauer, die das gesamte Areal umschloss.
"Meinst du, wir können noch mit ihrer Rückkehr rechnen?", fragte die eine.
Die andere schüttelte den Kopf: "Hast du vergessen, wie lange sie schon fort ist? Morgen sind es genau drei Monate! Niemand kann da draußen so lange überleben."
Ein Windstoß trieb ein paar herbstlich gefärbte Blätter herein. Die Frauen schlossen das Fenster, warfen ihre Kutten über und machten sich auf den Weg zum Versammlungsraum. Sie waren spät dran, gleich begann der Morgenappell, und die Hüter legten großen Wert auf Pünktlichkeit.
*
Geschafft! Die Nachtigall-Geschichte ist abgeschlossen. Naja, fast, jetzt kommt die Überarbeitung, das Schleifen der Schnittstellen zwischen den einzelnen Fragmenten, das Füllen, Wegstreichen etc. Darauf freue ich mich aber.
Wer die Geschichte am Stück lesen möchte, kann das entweder hier * oder dort** tun.
*Hier kann man den Entstehungsprozess verfolgen inklusive meiner Überlegungen und sämtlichen Kommentaren, der jüngste Text steht an oberster Stelle, also zunächst ganz zurückscrollen.
**Dort steht der reine Text, die einzelnen Kapitel in chronologischer Reihenfolge, manches ist bereits überarbeitet, einen Prolog gibt es jetzt ebenfalls.
Und so, wie es nun ist, bleibt das Ganze für die nächsten zwei Wochen stehen. Denn:
Morgen geht's ans Meer! Genauer: an die Nordsee. Noch genauer: auf eine der nordfriesischen Inseln. Ich war schon fünfmal dort, aber noch nie im Herbst. Das Licht soll im Oktober besonders schön sein. Ich lasse mich überraschen.
Ahoi! Und bis bald.
Sonntag, 6. Oktober 2013
Der Aufbruch 3 (nach dem Traum 24)
Die Nachtigall. Der Abschied von ihr ist der seltsamste von allen, die mit meinem Fortgang einhergehen. Schliefe sie noch immer, könnte ich sie einfach mitnehmen, könnte sie weiterhin hüten und durch die notwendigen Verrichtungen am Leben halten. Aber nun, da sie erwacht ist, braucht sie mich nicht mehr, und ich bezweifle, dass sie mich aus freien Stücken begleiten wird. Sie wird sich einen Partner suchen, das heißt, da sie ein Männchen ist, wird sie sich eine Partnerin herbeisingen, mit dieser eine Familie gründen. Sie wird ganz einfach ihrem Instinkt folgen und genau das von der Natur für sie Vorgesehene tun. Und sie wird es nicht in Frage stellen. Wird sie glücklich sein? Ohne darum zu wissen?
Ich habe Rucksack und Tasche geschultert, halte in der einen Hand das Bündel mit dem Proviant und in der anderen einen Stock, den du mit Schnitzereien versehen und auf deinen Wanderungen benutzt hast. Meine Schultern sind stark und meine Beine kräftig. Am schwersten wiegt mein Herz. Noch.
Auf dem ersten Wegstück, dem Lauf des Flusses folgend, begleitet mich die Nachtigall. Manchmal fliegt sie ein Stück voraus, um sich dann auf einem Zweig niederzulassen, bis ich sie eingeholt habe. So geht das eine Weile, bis sie endlich von einem Zweig emporflattert, mich ein letztes Mal umkreist und dann in entgegengesetzter Richtung davonfliegt. Ach, du kleiner Vogel! Du geliebtes, zartes, starkes Wesen. Du Begleiter einer Zeit der Wunder. Ich wünsche dir alles Glück der Welt.
Die Endgültigkeit dieses Abschieds bedrückt mich weniger, als ich vermutet hatte. Da blitzt ein silbrigheller, knisternder Funke durch all das Dunkel der vergangenen Tage. Vorfreude, Gespanntheit, Lust auf etwas Neues.
Nach vielen Stunden, aber noch vor Einbruch der Dämmerung, mein Proviant ist fast aufgezehrt, erblicke ich die ersten Häuser am Rand der Siedlung. Wir hatten dort bei freundlichen Menschen und mit dem wenigen Geld, das wir besaßen, Ausrüstung für unseren Aufenthalt im Freien gekauft. Ich habe keine Furcht, die kleine Stadt und ihre Bewohner sind mir in guter Erinnerung. Bald nehme ich erste Geräusche wahr: Feierabendverkehr, vereinzelte Rufe, ein Kinderlachen, das Läuten der Türglocke beim Bäcker. Dann die Gerüche: Asphalt, Benzin, Brot, gebratenes Fleisch.
Am Brunnen auf dem Marktplatz lasse ich mich auf einer Bank nieder, Rucksack und Tasche platziere ich neben mir auf dem Boden. Ich strecke die Beine aus und dehne meine Arme. Das Plätschern des Brunnens erinnert mich an den Fluss, Freund unserer Lagerzeit, Begleiter meines heutigen Weges.
Am anderen Ende der Bank sitzt ein alter Mann, auf seinen Knien ein kleines Mädchen. Immer wieder taucht sie ihre Hände ins Wasser und streicht dann mit ihnen durch sein schütteres Haar. "Ich mache dir eine Königsfrisur", ruft sie und kichert. Der alte Mann brummt vor Vergnügen und kitzelt das Kind am Bauch, dass es zu zappeln beginnt und sich vor Lachen krümmt. Dann bemerkt es mich, sieht mich mit großen Augen an, streckt sich zum Ohr des Mannes und flüstert ihm etwas zu. Er nickt und wendet sich mir lächelnd zu.
"Meine Enkelin meint, wir sollten Sie mal nach Ihrem Namen fragen. Sie sind neu in der Stadt, nicht wahr?"
"Ja, das bin ich", erwidere ich und füge nach kurzem Zögern hinzu: "Und einen Namen habe ich nicht."
Der Alte stutzt und blickt mir forschend in die Augen. Die Kleine hingegen springt auf, klatscht in die Hände und ruft: "Das ist toll! Dann denken wir uns einen aus. Ja, Opa, machen wir das? Denken wir uns einen Namen für sie aus?"
Ohne den Blick von mir zu wenden, nimmt der Mann das Mädchen am Arm, zieht sie zu sich heran und mahnt sachte: "Pst, meine Kleine, immer mit der Ruhe. So etwas will mit Bedacht angegangen sein. Mir scheint, wir lernen hier gerade eine ganz besondere Person kennen."
Das Kind schmiegt sich an seine Beine und verstummt. Er aber nickt mir mit warmer Freundlichkeit zu, zwinkert und sagt: "Fürs erste heißen wir Sie herzlich willkommen in unserem Königreich."
Ich habe Rucksack und Tasche geschultert, halte in der einen Hand das Bündel mit dem Proviant und in der anderen einen Stock, den du mit Schnitzereien versehen und auf deinen Wanderungen benutzt hast. Meine Schultern sind stark und meine Beine kräftig. Am schwersten wiegt mein Herz. Noch.
Auf dem ersten Wegstück, dem Lauf des Flusses folgend, begleitet mich die Nachtigall. Manchmal fliegt sie ein Stück voraus, um sich dann auf einem Zweig niederzulassen, bis ich sie eingeholt habe. So geht das eine Weile, bis sie endlich von einem Zweig emporflattert, mich ein letztes Mal umkreist und dann in entgegengesetzter Richtung davonfliegt. Ach, du kleiner Vogel! Du geliebtes, zartes, starkes Wesen. Du Begleiter einer Zeit der Wunder. Ich wünsche dir alles Glück der Welt.
Die Endgültigkeit dieses Abschieds bedrückt mich weniger, als ich vermutet hatte. Da blitzt ein silbrigheller, knisternder Funke durch all das Dunkel der vergangenen Tage. Vorfreude, Gespanntheit, Lust auf etwas Neues.
Nach vielen Stunden, aber noch vor Einbruch der Dämmerung, mein Proviant ist fast aufgezehrt, erblicke ich die ersten Häuser am Rand der Siedlung. Wir hatten dort bei freundlichen Menschen und mit dem wenigen Geld, das wir besaßen, Ausrüstung für unseren Aufenthalt im Freien gekauft. Ich habe keine Furcht, die kleine Stadt und ihre Bewohner sind mir in guter Erinnerung. Bald nehme ich erste Geräusche wahr: Feierabendverkehr, vereinzelte Rufe, ein Kinderlachen, das Läuten der Türglocke beim Bäcker. Dann die Gerüche: Asphalt, Benzin, Brot, gebratenes Fleisch.
Am Brunnen auf dem Marktplatz lasse ich mich auf einer Bank nieder, Rucksack und Tasche platziere ich neben mir auf dem Boden. Ich strecke die Beine aus und dehne meine Arme. Das Plätschern des Brunnens erinnert mich an den Fluss, Freund unserer Lagerzeit, Begleiter meines heutigen Weges.
Am anderen Ende der Bank sitzt ein alter Mann, auf seinen Knien ein kleines Mädchen. Immer wieder taucht sie ihre Hände ins Wasser und streicht dann mit ihnen durch sein schütteres Haar. "Ich mache dir eine Königsfrisur", ruft sie und kichert. Der alte Mann brummt vor Vergnügen und kitzelt das Kind am Bauch, dass es zu zappeln beginnt und sich vor Lachen krümmt. Dann bemerkt es mich, sieht mich mit großen Augen an, streckt sich zum Ohr des Mannes und flüstert ihm etwas zu. Er nickt und wendet sich mir lächelnd zu.
"Meine Enkelin meint, wir sollten Sie mal nach Ihrem Namen fragen. Sie sind neu in der Stadt, nicht wahr?"
"Ja, das bin ich", erwidere ich und füge nach kurzem Zögern hinzu: "Und einen Namen habe ich nicht."
Der Alte stutzt und blickt mir forschend in die Augen. Die Kleine hingegen springt auf, klatscht in die Hände und ruft: "Das ist toll! Dann denken wir uns einen aus. Ja, Opa, machen wir das? Denken wir uns einen Namen für sie aus?"
Ohne den Blick von mir zu wenden, nimmt der Mann das Mädchen am Arm, zieht sie zu sich heran und mahnt sachte: "Pst, meine Kleine, immer mit der Ruhe. So etwas will mit Bedacht angegangen sein. Mir scheint, wir lernen hier gerade eine ganz besondere Person kennen."
Das Kind schmiegt sich an seine Beine und verstummt. Er aber nickt mir mit warmer Freundlichkeit zu, zwinkert und sagt: "Fürs erste heißen wir Sie herzlich willkommen in unserem Königreich."
Freitag, 4. Oktober 2013
Der Aufbruch 2 (nach dem Traum 23)
Meine Hände so tätig und leer zugleich.
Ich räume unseren Platz, falte Kleidung, rolle Decken und Planen zusammen, sortiere Verzichtbares aus, schaffe Essbares herbei zur Wegzehrung, fange einen Fisch, töte ihn und nehme ihn aus, entzünde ein letztes Feuer, brate den Fisch, stopfe mir das zarte Fleisch mit den Fingern in den Mund, stochere mit einem Ast in der Glut herum, lösche sie schließlich vollends, indem ich einen Topf Wasser hineinschütte.
Ich packe soviele von unseren Sachen in meine Tasche und in deinen Rucksack, dass beide fast aus den Nähten platzen, ziehe meine Decke unter Anstrengung wieder heraus und stopfe stattdessen deine hinein, wegen des daran haftenden Geruchs.
Ich bereite mir zum letzten Mal ein Schlaflager unter der Rotbuche, wasche mich am nächsten Morgen ein letztes Mal im Fluss, hülle mich anschließend in mehrere Lagen Kleidung, schnüre meine Schuhe, bündele meinen Proviant in einem deiner Hemden und verabschiede mich von diesem Ort, indem ich ein letztes Mal mit der Hand übers Gras streiche, sie auf die glatte Rinde des Baumes lege, sie in den Fluss tauche, der mich als einziger begleiten wird, denn ich habe mich entschieden, seinem Lauf zu folgen, zu der Siedlung, die einen Tagesmarsch entfernt in nordwestlicher Richtung liegt.
Ich schnüre mein Nachtlager zu einem Paket und vergrabe dieses mit der benutzten Spritze und dem Pop-up-Bilderbuch in dem Erdloch, das wir für die Fundstücke ausgehoben hatten. Auch den Klappspaten lasse ich zurück, zwischen den Wurzeln der Buche versteckt.
Ich knie ein letztes Mal vor deinem Grab nieder und lege beide Hände auf die Erde. Aus wie unendlich vielen Teilen doch ein einziger Abschied besteht.
Was ich nicht mehr berühren kann:
Dich, weil du zu tief schläfst.
Die Nachtigall, weil sie erwacht ist.
Ich räume unseren Platz, falte Kleidung, rolle Decken und Planen zusammen, sortiere Verzichtbares aus, schaffe Essbares herbei zur Wegzehrung, fange einen Fisch, töte ihn und nehme ihn aus, entzünde ein letztes Feuer, brate den Fisch, stopfe mir das zarte Fleisch mit den Fingern in den Mund, stochere mit einem Ast in der Glut herum, lösche sie schließlich vollends, indem ich einen Topf Wasser hineinschütte.
Ich packe soviele von unseren Sachen in meine Tasche und in deinen Rucksack, dass beide fast aus den Nähten platzen, ziehe meine Decke unter Anstrengung wieder heraus und stopfe stattdessen deine hinein, wegen des daran haftenden Geruchs.
Ich bereite mir zum letzten Mal ein Schlaflager unter der Rotbuche, wasche mich am nächsten Morgen ein letztes Mal im Fluss, hülle mich anschließend in mehrere Lagen Kleidung, schnüre meine Schuhe, bündele meinen Proviant in einem deiner Hemden und verabschiede mich von diesem Ort, indem ich ein letztes Mal mit der Hand übers Gras streiche, sie auf die glatte Rinde des Baumes lege, sie in den Fluss tauche, der mich als einziger begleiten wird, denn ich habe mich entschieden, seinem Lauf zu folgen, zu der Siedlung, die einen Tagesmarsch entfernt in nordwestlicher Richtung liegt.
Ich schnüre mein Nachtlager zu einem Paket und vergrabe dieses mit der benutzten Spritze und dem Pop-up-Bilderbuch in dem Erdloch, das wir für die Fundstücke ausgehoben hatten. Auch den Klappspaten lasse ich zurück, zwischen den Wurzeln der Buche versteckt.
Ich knie ein letztes Mal vor deinem Grab nieder und lege beide Hände auf die Erde. Aus wie unendlich vielen Teilen doch ein einziger Abschied besteht.
Was ich nicht mehr berühren kann:
Dich, weil du zu tief schläfst.
Die Nachtigall, weil sie erwacht ist.
Donnerstag, 26. September 2013
Der Aufbruch 1 (nach dem Traum 22)
Als ich aufwache - weit über den nächsten Morgen hinaus, so fühlt es sich jedenfalls an - als ich also endlich aufwache, ist jede Faser meines Körpers so schlafsatt, als hätte ich einen ganzen Berg von Nächten verschlungen. Ich verspüre einen immensen Tatendrang.
Trotzdem springe ich nicht sofort auf, denn auch mein Geist ist blitzwach und rät mir, mich mit Bedacht in den neuen Tag hineinzutasten. Kann ich doch hinter meinen noch immer geschlossenen Lidern nicht wissen, wie die Welt um mich herum aussieht. Jetzt, nachdem ich offenbar endgültig erwacht bin aus dem Traum und dem daraus geborenen Geschehen.
Ich lausche aufmerksam, versuche auszumachen, ob sich der Klang meiner Umgebung verändert hat. Aber da ist das gewohnte Streichen des Windes, das Gluckern des Wassers im Flussbett, das leise Rascheln vereinzelt fallender Blätter. Da ertönt ein vertrauter Gesang.
Zögernd streiche ich mit den Händen über meinen warmen Leib unter der dicken Decke, taste weiter, streiche über mein Gesicht, durchs Haar, über den Rand der Lagerstatt hinaus durchs taufeuchte Gras. Alles fühlt sich vollkommen vertraut an.
Ich öffne die Augen und erblicke über mir die Plane, die wir an Regentagen verwendeten. Mir fällt wieder ein, dass ich sie trotz des wolkenlosen Himmels vorsorglich über mein Lager gespannt hatte, weil ich nicht wusste, wie die Spritze wirken würde. Ob ich vor dem zu erwartenden Erwachen zunächst in tiefen Schlaf sinken oder in irgendeiner anderen Weise schutzbedürftig sein könnte.
Mein Körper und mein nächster Umkreis scheinen unverändert.
Ich richte mich auf und wage einen Blick hinüber zu deinem Grab. Auch dort ist alles wie zuvor. Du bist nicht mehr bei mir. Aber du warst da, ich habe dich nicht bloß geträumt. Dein Grab ist da, umrundet von Kieseln, in der feuchten Erde der Abdruck meines Körpers, am Kopfende das Treibholz-Ypsilon, auf Brusthöhe der Herzstein.
Alles Sichtbare um mich her legt Zeugnis ab von unserer gemeinsamen Zeit.
Was aber hat sich dann verändert? Denn dass etwas anders ist, spüre ich überdeutlich.
Ich horche in mich hinein. In meinen Körper scheint eine neue Lust nach Bewegung und Tätigkeit eingezogen zu sein. Meine Füße zappeln, als wollten sie auf der Stelle losmarschieren. Meine Hände lassen sich nicht stillhalten, sie wollen unbedingt zupacken. Mein Blick schweift in die Ferne, und ich erkenne, dass er über die Grenze des Gewohnten springen will.
Ich muss los, sage ich zu mir und, weil ich einen Zeugen wünsche, zur Nachtigall. Dann beginne ich, meine Sachen zu packen.
Fortsetzung folgt
Trotzdem springe ich nicht sofort auf, denn auch mein Geist ist blitzwach und rät mir, mich mit Bedacht in den neuen Tag hineinzutasten. Kann ich doch hinter meinen noch immer geschlossenen Lidern nicht wissen, wie die Welt um mich herum aussieht. Jetzt, nachdem ich offenbar endgültig erwacht bin aus dem Traum und dem daraus geborenen Geschehen.
Ich lausche aufmerksam, versuche auszumachen, ob sich der Klang meiner Umgebung verändert hat. Aber da ist das gewohnte Streichen des Windes, das Gluckern des Wassers im Flussbett, das leise Rascheln vereinzelt fallender Blätter. Da ertönt ein vertrauter Gesang.
Zögernd streiche ich mit den Händen über meinen warmen Leib unter der dicken Decke, taste weiter, streiche über mein Gesicht, durchs Haar, über den Rand der Lagerstatt hinaus durchs taufeuchte Gras. Alles fühlt sich vollkommen vertraut an.
Ich öffne die Augen und erblicke über mir die Plane, die wir an Regentagen verwendeten. Mir fällt wieder ein, dass ich sie trotz des wolkenlosen Himmels vorsorglich über mein Lager gespannt hatte, weil ich nicht wusste, wie die Spritze wirken würde. Ob ich vor dem zu erwartenden Erwachen zunächst in tiefen Schlaf sinken oder in irgendeiner anderen Weise schutzbedürftig sein könnte.
Mein Körper und mein nächster Umkreis scheinen unverändert.
Ich richte mich auf und wage einen Blick hinüber zu deinem Grab. Auch dort ist alles wie zuvor. Du bist nicht mehr bei mir. Aber du warst da, ich habe dich nicht bloß geträumt. Dein Grab ist da, umrundet von Kieseln, in der feuchten Erde der Abdruck meines Körpers, am Kopfende das Treibholz-Ypsilon, auf Brusthöhe der Herzstein.
Alles Sichtbare um mich her legt Zeugnis ab von unserer gemeinsamen Zeit.
Was aber hat sich dann verändert? Denn dass etwas anders ist, spüre ich überdeutlich.
Ich horche in mich hinein. In meinen Körper scheint eine neue Lust nach Bewegung und Tätigkeit eingezogen zu sein. Meine Füße zappeln, als wollten sie auf der Stelle losmarschieren. Meine Hände lassen sich nicht stillhalten, sie wollen unbedingt zupacken. Mein Blick schweift in die Ferne, und ich erkenne, dass er über die Grenze des Gewohnten springen will.
Ich muss los, sage ich zu mir und, weil ich einen Zeugen wünsche, zur Nachtigall. Dann beginne ich, meine Sachen zu packen.
Fortsetzung folgt
Montag, 23. September 2013
Das Erwachen 3 (nach dem Traum 21)
Welches Wort drückt einen Seufzer aus, so tief und lang, dass er Stunden, Tage und Nächte füllt? Welches Wort? Ich suche und finde es nicht. Es gibt keins. Soll ich eins erschaffen?
Manches will unbezeichnet bleiben, stelle ich mir vor, denn jede Bezeichnung wäre ein zu enger Raum, jeder einzelne Buchstabe ein scharfkantiger Stein.
Es gibt kein Wort für diesen langen, tiefen Seufzer, es gibt nur stummen Zwischenraum, bereit, gefüllt zu werden. Ich lernte von dir, dieses weite Gefäß zwischen den Zeilen zu lieben, das so geduldig und beharrlich alles aufnimmt.
Du fehlst! Ich lag in deiner Hand, sie war mir ein Hafen. Nie dachte ich, dass ich den Anker je wieder lichten und erneut aufbrechen würde. Nun hat der Hafen mich ausgestoßen, und ich treibe, einsam.
Und frage mich, welche Einsamkeit die größere ist: Die eine, hervorgerufen durch das Fehlen deiner Hand, oder die andere, verursacht durch die Nachtigall, die, nun endlich erwacht, meiner Hand nicht mehr bedarf.
Es ist früher Abend. Ich sitze auf unserer Lagerstatt, vor mir die Spritze und das Bilderbuch. Der Gedanke lässt mich nicht los, dass ich mich möglicherweise immer noch in einem Traum befinde. Also habe ich beschlossen, mir die Spritze zu verabreichen, das Serum, welches laut deiner Notiz ein Erwachen bewirken soll.
Ich löse die Schutzkappe von der Kanüle, halte sie senkrecht in die Höhe und drücke den Kolben, bis ein winziges, zähflüssiges Tröpfchen austritt. Ich werde weder unter die Haut noch in die Vene spritzen, ersteres erscheint mir zu unsicher bezüglich der Wirkung, zweiteres traue ich mir nicht zu. Mit der linken Hand fasse ich das Fleisch meines Oberschenkels, zähle bis drei und stoße die daumenlange Nadel in den Muskel. Dann schiebe ich langsam den Kolben bis zum Anschlag hinunter. Ein leichter Druck, ein Brennen, beides erträglich. Ich ziehe die Nadel heraus und presse ein Huflattichblatt auf die Einstichstelle, bis sie nicht mehr blutet.
Anschließend schlage ich das Pop-up-Bilderbuch auf mit seinen samtroten, hintereinander fallenden Vorhängen. Ich öffne einen nach dem anderen bis ich in der Buchmitte angekommen bin und wieder, wie damals in dem seltsamen Haus, den dunklen Spalt vor mir habe. Ich erinnere mich an den grenzenlosen Raum dahinter, in den wir mit unseren Armen vorgestoßen waren. Diesmal tauche ich mein Gesicht hinein und finde zunächst den tiefsten je geschlafenen Schlaf.
Fortsetzung folgt
Manches will unbezeichnet bleiben, stelle ich mir vor, denn jede Bezeichnung wäre ein zu enger Raum, jeder einzelne Buchstabe ein scharfkantiger Stein.
Es gibt kein Wort für diesen langen, tiefen Seufzer, es gibt nur stummen Zwischenraum, bereit, gefüllt zu werden. Ich lernte von dir, dieses weite Gefäß zwischen den Zeilen zu lieben, das so geduldig und beharrlich alles aufnimmt.
Du fehlst! Ich lag in deiner Hand, sie war mir ein Hafen. Nie dachte ich, dass ich den Anker je wieder lichten und erneut aufbrechen würde. Nun hat der Hafen mich ausgestoßen, und ich treibe, einsam.
Und frage mich, welche Einsamkeit die größere ist: Die eine, hervorgerufen durch das Fehlen deiner Hand, oder die andere, verursacht durch die Nachtigall, die, nun endlich erwacht, meiner Hand nicht mehr bedarf.
*
Es ist früher Abend. Ich sitze auf unserer Lagerstatt, vor mir die Spritze und das Bilderbuch. Der Gedanke lässt mich nicht los, dass ich mich möglicherweise immer noch in einem Traum befinde. Also habe ich beschlossen, mir die Spritze zu verabreichen, das Serum, welches laut deiner Notiz ein Erwachen bewirken soll.
Ich löse die Schutzkappe von der Kanüle, halte sie senkrecht in die Höhe und drücke den Kolben, bis ein winziges, zähflüssiges Tröpfchen austritt. Ich werde weder unter die Haut noch in die Vene spritzen, ersteres erscheint mir zu unsicher bezüglich der Wirkung, zweiteres traue ich mir nicht zu. Mit der linken Hand fasse ich das Fleisch meines Oberschenkels, zähle bis drei und stoße die daumenlange Nadel in den Muskel. Dann schiebe ich langsam den Kolben bis zum Anschlag hinunter. Ein leichter Druck, ein Brennen, beides erträglich. Ich ziehe die Nadel heraus und presse ein Huflattichblatt auf die Einstichstelle, bis sie nicht mehr blutet.
Anschließend schlage ich das Pop-up-Bilderbuch auf mit seinen samtroten, hintereinander fallenden Vorhängen. Ich öffne einen nach dem anderen bis ich in der Buchmitte angekommen bin und wieder, wie damals in dem seltsamen Haus, den dunklen Spalt vor mir habe. Ich erinnere mich an den grenzenlosen Raum dahinter, in den wir mit unseren Armen vorgestoßen waren. Diesmal tauche ich mein Gesicht hinein und finde zunächst den tiefsten je geschlafenen Schlaf.
Fortsetzung folgt
Mittwoch, 11. September 2013
Das Erwachen 2 (nach dem Traum 20)
In den darauffolgenden Tagen kümmere ich mich weiter um dein Grab. Es soll schön sein.
Ich ebne den aufgeworfenen Erdhügel. Er wird sich mit der Zeit weiter senken.
Ich umrunde es mit Kieseln, die ich aus dem Flussbett klaube.
Ich säe die Sonnenblumensamen aus und hoffe, dass sie den Winter überleben und im nächsten Sommer aufgehen werden. Auf dem Tütchen steht: Aussaat März bis Juni.
Ich nehme mir das Stück Treibholz vor und überlege, ob ich ein Kreuz daraus fertigen soll. Als ich es probehalber am einen Ende spalte, biegt es sich auf zu einem Ypsilon. Das gefällt mir. Viel besser als ein Kreuz. Eine nach oben sich weitende Öffnung. Es wird verwittern, aber das werde ich nicht mehr mitbekommen, also ist es in Ordnung für mich. Ich stecke das Ypsilon ans Kopfende deines Grabs und drücke als zusätzlichen Halt rundum ein paar faustgroße Kiesel in den Boden.
Ich suche stundenlang nach einem herzförmigen Stein und platziere diesen, nachdem ich ihn endlich gefunden habe, auf Höhe deiner Brust. Ich lege mich dazu, bis die Nacht hereinbricht.
Bei allen Verrichtungen schlägt mein Herz seltsam ruhig. Ich kümmere mich um dein Grab und um unseren Platz, beschaffe Nahrung, bade täglich im Fluss und wasche meine Kleider. Ich esse, trinke, schlafe, funktioniere.
Die Nachtigall unternimmt derweil kleine Ausflüge, von denen sie bisher noch jedesmal zurückkehrt. Sie singt. Für mich und von Liebe und Tod, bilde ich mir ein und lege unsere ganze Geschichte in ihr Lied. Irgendwann wird sie zuende gesungen, unsere Geschichte zuende erzählt haben und nicht mehr an diesen Platz zurückkehren. Dann werde auch ich aufbrechen müssen. Nur: Wohin?
Wie ich in allem nach Zeichen und Hinweisen suche. Wie ich allem eine höhere Bedeutung beimessen will.
Und doch kann dies nicht verhindern, dass die Tage kürzer und die Nächte kühler werden. Dass es häufiger regnet und die ersten Blätter fallen. Dass der Herbst kommt, um unseren Sommer endgültig abzulösen.
Manchmal beschäftigt mich die Frage, ob ich vielleicht noch immer träume.
Die Spritze fällt mir ein und deine Notiz, dass das Serum ein Erwachen bewirkt. Ich krame sie hervor, ebenso das Pop-up-Bilderbuch und lasse ein paar neue, ungewohnte Gedanken zu.
Fortsetzung folgt
Ich ebne den aufgeworfenen Erdhügel. Er wird sich mit der Zeit weiter senken.
Ich umrunde es mit Kieseln, die ich aus dem Flussbett klaube.
Ich säe die Sonnenblumensamen aus und hoffe, dass sie den Winter überleben und im nächsten Sommer aufgehen werden. Auf dem Tütchen steht: Aussaat März bis Juni.
Ich nehme mir das Stück Treibholz vor und überlege, ob ich ein Kreuz daraus fertigen soll. Als ich es probehalber am einen Ende spalte, biegt es sich auf zu einem Ypsilon. Das gefällt mir. Viel besser als ein Kreuz. Eine nach oben sich weitende Öffnung. Es wird verwittern, aber das werde ich nicht mehr mitbekommen, also ist es in Ordnung für mich. Ich stecke das Ypsilon ans Kopfende deines Grabs und drücke als zusätzlichen Halt rundum ein paar faustgroße Kiesel in den Boden.
Ich suche stundenlang nach einem herzförmigen Stein und platziere diesen, nachdem ich ihn endlich gefunden habe, auf Höhe deiner Brust. Ich lege mich dazu, bis die Nacht hereinbricht.
Bei allen Verrichtungen schlägt mein Herz seltsam ruhig. Ich kümmere mich um dein Grab und um unseren Platz, beschaffe Nahrung, bade täglich im Fluss und wasche meine Kleider. Ich esse, trinke, schlafe, funktioniere.
Die Nachtigall unternimmt derweil kleine Ausflüge, von denen sie bisher noch jedesmal zurückkehrt. Sie singt. Für mich und von Liebe und Tod, bilde ich mir ein und lege unsere ganze Geschichte in ihr Lied. Irgendwann wird sie zuende gesungen, unsere Geschichte zuende erzählt haben und nicht mehr an diesen Platz zurückkehren. Dann werde auch ich aufbrechen müssen. Nur: Wohin?
Wie ich in allem nach Zeichen und Hinweisen suche. Wie ich allem eine höhere Bedeutung beimessen will.
Und doch kann dies nicht verhindern, dass die Tage kürzer und die Nächte kühler werden. Dass es häufiger regnet und die ersten Blätter fallen. Dass der Herbst kommt, um unseren Sommer endgültig abzulösen.
Manchmal beschäftigt mich die Frage, ob ich vielleicht noch immer träume.
Die Spritze fällt mir ein und deine Notiz, dass das Serum ein Erwachen bewirkt. Ich krame sie hervor, ebenso das Pop-up-Bilderbuch und lasse ein paar neue, ungewohnte Gedanken zu.
Fortsetzung folgt
Sonntag, 8. September 2013
Das Erwachen 1 (nach dem Traum 19)
Ich schlafe unruhig in dieser Nacht nach deinem Begräbnis. Im Traum durchlebe ich wieder und wieder Szenen unserer gemeinsamen Zeit.
Die Flucht aus dem seltsamen Haus, nach der ich dich zunächst verloren glaubte.
Die Wiederbegegnung mit dir im Fluss, das Errichten unseres Lagers, das Erkunden der Umgebung. Das Verschwundensein des seltsamen Hauses.
Wie wir essbare Pflanzen sammelten, Fische fingen. Uns liebten. Am Tag und in der Nacht. Im Fluss, im Gras, auf der Sandbank.
Das gegenseitige Erforschen unserer Körper, unsere schier unersättliche Neugier.
Die Beschäftigung mit den Fundstücken aus dem Haus. Das Hüten und Versorgen der Nachtigall.
Unsere Zwiegespräche. Deine für mich oft rätselhaften Aussagen über Sinn und Zweck dessen, was uns geschieht und dessen, was wir tun. Über Liebe, Freiheit und Schönheit.
Deine stille Gelassenheit, mein berstendes Glück. Deine Geduld, meine Ungeduld. Deine Zugewandtheit, meine allmähliche Gesundung.
Unsere Verbindung, von der ich gehofft hatte, sie würde ewig dauern.
Dein plötzlicher Tod.
-
Kurz vor Einsetzen der Dämmerung reißen mich ungewohnte Laute aus meinen Träumen, ein nie zuvor gehörter Gesang.
Die Nachtigall ist aus ihrem Schlaf erwacht.
Fortsetzung folgt
Die Flucht aus dem seltsamen Haus, nach der ich dich zunächst verloren glaubte.
Die Wiederbegegnung mit dir im Fluss, das Errichten unseres Lagers, das Erkunden der Umgebung. Das Verschwundensein des seltsamen Hauses.
Wie wir essbare Pflanzen sammelten, Fische fingen. Uns liebten. Am Tag und in der Nacht. Im Fluss, im Gras, auf der Sandbank.
Das gegenseitige Erforschen unserer Körper, unsere schier unersättliche Neugier.
Die Beschäftigung mit den Fundstücken aus dem Haus. Das Hüten und Versorgen der Nachtigall.
Unsere Zwiegespräche. Deine für mich oft rätselhaften Aussagen über Sinn und Zweck dessen, was uns geschieht und dessen, was wir tun. Über Liebe, Freiheit und Schönheit.
Deine stille Gelassenheit, mein berstendes Glück. Deine Geduld, meine Ungeduld. Deine Zugewandtheit, meine allmähliche Gesundung.
Unsere Verbindung, von der ich gehofft hatte, sie würde ewig dauern.
Dein plötzlicher Tod.
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Kurz vor Einsetzen der Dämmerung reißen mich ungewohnte Laute aus meinen Träumen, ein nie zuvor gehörter Gesang.
Die Nachtigall ist aus ihrem Schlaf erwacht.
Fortsetzung folgt
Samstag, 7. September 2013
Ende und Anfang 3 (nach dem Traum 18)
Ich benötige zwei volle Tage, um ein Loch auszuheben, das lang und breit und tief genug ist. Du hattest genau diese Verwendungsmöglichkeit für unseren Klappspaten notiert. Ich war darauf gestoßen, als ich einmal heimlich in deinen Notizen geblättert hatte und wünschte nun, ich hätte unsere letzten gemeinsamen Tage frei von der Last dieses Wissens genießen können.
Mein Rücken und meine Arme schmerzen, meine Hände sind voller Blasen, aber jeder körperliche Schmerz ist besser als der andere, tiefere.
Zwischendurch lege ich Pausen ein, unter anderem, um dich zu waschen, dir frische Kleider anzuziehen und dich in Decken zu hüllen, auch dein Gesicht, was mich einige Überwindung kostet, aber notwendig ist, um dich vor den Fliegen zu schützen. Später, in der dunklen Erde, wird du gänzlich ausgesetzt sein, aber hier, im Licht, an der Luft, will ich es noch verhindern.
Mit Hilfe der Decken ziehe ich dich schließlich bis an den Rand deines Grabes. Ich würde dich gerne langsam hinablassen, aber dafür bist du mir zu schwer. Keinesfalls will ich dich hineinrollen, zu groß ist die Gefahr, dass du mit dem Gesicht nach unten zu liegen kämest. Nicht auszudenken!
Schließlich steige ich selbst in die Grube und ziehe dich herunter. Das funktioniert. Stück für Stück rutschst du hinab, gehalten von meinen Beinen auf der einen und der Erdwand auf der anderen Seite. Nachdem es geschafft ist, stemme ich mich wieder hinauf, hocke mich an die Kante oberhalb deiner Füße und betrachte ein letztes Mal dein Gesicht und die Konturen deiner Gestalt unter der Decke. Kaum dass ich dich noch darin finde.
Also bedecke ich dich endlich mit Blättern, zuerst das Gesicht, die Lider, dann den Rest und streue anschließend einen Teppich aus Blüten und Gräsern über dich. Ein paar besonders schöne Steine und Hölzer, die wir im Laufe der Zeit gesammelt hatten, füge ich hinzu. Und bevor ich die Erde aufschütte, beuge ich mich noch einmal hinab, um einen Schmetterling zu befreien, der sich auf einer der Blüten niedergelassen hat.
Es dunkelt bereits, als ich die letzte Schicht Erde auftrage. Ich nehme ein kurzes kühles Bad im Fluss und krieche erschöpft zwischen meine Decken. Hier in der warmen Geborgenheit unseres Nachtlagers, mit dem sanften Abendwind auf meinem Gesicht und dem Sternendach über mir, weine ich zum ersten Mal, seit ich dich auf der Sandbank gefunden habe. Die Tränen rinnen erst leise über meine Wangen, aber als meiner Brust ein tiefer Schluchzer entfährt, kann ich mich nicht mehr halten.
Du fehlst mir so. Was soll nun werden?
Fortsetzung folgt
Mein Rücken und meine Arme schmerzen, meine Hände sind voller Blasen, aber jeder körperliche Schmerz ist besser als der andere, tiefere.
Zwischendurch lege ich Pausen ein, unter anderem, um dich zu waschen, dir frische Kleider anzuziehen und dich in Decken zu hüllen, auch dein Gesicht, was mich einige Überwindung kostet, aber notwendig ist, um dich vor den Fliegen zu schützen. Später, in der dunklen Erde, wird du gänzlich ausgesetzt sein, aber hier, im Licht, an der Luft, will ich es noch verhindern.
Mit Hilfe der Decken ziehe ich dich schließlich bis an den Rand deines Grabes. Ich würde dich gerne langsam hinablassen, aber dafür bist du mir zu schwer. Keinesfalls will ich dich hineinrollen, zu groß ist die Gefahr, dass du mit dem Gesicht nach unten zu liegen kämest. Nicht auszudenken!
Schließlich steige ich selbst in die Grube und ziehe dich herunter. Das funktioniert. Stück für Stück rutschst du hinab, gehalten von meinen Beinen auf der einen und der Erdwand auf der anderen Seite. Nachdem es geschafft ist, stemme ich mich wieder hinauf, hocke mich an die Kante oberhalb deiner Füße und betrachte ein letztes Mal dein Gesicht und die Konturen deiner Gestalt unter der Decke. Kaum dass ich dich noch darin finde.
Also bedecke ich dich endlich mit Blättern, zuerst das Gesicht, die Lider, dann den Rest und streue anschließend einen Teppich aus Blüten und Gräsern über dich. Ein paar besonders schöne Steine und Hölzer, die wir im Laufe der Zeit gesammelt hatten, füge ich hinzu. Und bevor ich die Erde aufschütte, beuge ich mich noch einmal hinab, um einen Schmetterling zu befreien, der sich auf einer der Blüten niedergelassen hat.
Es dunkelt bereits, als ich die letzte Schicht Erde auftrage. Ich nehme ein kurzes kühles Bad im Fluss und krieche erschöpft zwischen meine Decken. Hier in der warmen Geborgenheit unseres Nachtlagers, mit dem sanften Abendwind auf meinem Gesicht und dem Sternendach über mir, weine ich zum ersten Mal, seit ich dich auf der Sandbank gefunden habe. Die Tränen rinnen erst leise über meine Wangen, aber als meiner Brust ein tiefer Schluchzer entfährt, kann ich mich nicht mehr halten.
Du fehlst mir so. Was soll nun werden?
Fortsetzung folgt
Donnerstag, 5. September 2013
Ende und Anfang 2 (nach dem Traum 17)
Der rot gefärbte Stein dein ins Nirgends gerichteter Blick dein Kopf der unnatürlich weit nach hinten fällt als ich dich an den Schultern hochziehe dein schlaffer Leib dein ungeheures Gewicht der weite Weg zurück zum Schlafplatz die Schleifspur die wir hinterlassen die Taubheit meiner Arme der Fluss die Wiese die Sonne der Baum die Nachtigall die Fundstücke unsere Dinge unser Platz die Nacht lange vor Einbruch der Dunkelheit dieser Tag dieser nicht enden wollende Traum
Fortsetzung folgt
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