Freitag, 30. November 2012

So ein Wort

Ein Wort wie ein Baum
oder eins wie der Wipfel
eines Baums
oder eins wie ein Nest
im Wipfel
eines Baums
oder eins wie ein Vogel
im Nest
im Wipfel
eines Baums
oder eins wie die Brust
eines Vogels
im Nest
im Wipfel
eines Baums
oder eins wie das Herz
in der Brust
eines Vogels
im Nest
im Wipfel
eines Baums
wie ein pochendes Vogelherz
so ein Wort

Donnerstag, 29. November 2012

Ljudmila Ulitzkaja: Das grüne Zelt

Hätte damals am Gymnasium die Russisch-AG nicht wegen Raummangels in der nullten Stunde (also bereits um 7:00 Uhr!) stattfinden müssen, wäre ich mit Sicherheit länger als ein halbes Jahr dabeigeblieben, und das Wenige bis zu meiner Kapitulation Erlernte wäre nicht innerhalb kürzester Zeit in Vergessenheit geraten. Ich hatte nämlich ein Faible für die Sprache Tolstois, mir gefielen ihr Klang und das kyrillische Alphabet, gefallen mir bis heute. 
Hätte der Unterricht damals also nicht zu solcher Unzeit stattgefunden, wäre ich nun (möglicherweise) des Russischen mächtig und könnte mir die Lesung, die zu besuchen ich gestern Abend das Vergnügen hatte, im Originalton ins Gedächtnis rufen. So muss nun leider die - allerdings geniale - Übersetzung Ganna-Maria Braungardts herhalten.

Ljudmila Ulitzkaja gehört zu meinen Lieblingsautorinnen, seit ich 1997 ihren ersten Roman Medea und ihre Kinder las. Es folgten Reise in den siebenten Himmel, Die Lügen der Frauen, Ergebenst, euer Schurik, Maschas Glück, zwischen diesen einige, die ich nicht gelesen habe und hier deshalb nicht aufzähle.

Und nun ihr neuester, 600 Seiten starker Roman Das grüne Zelt, in dem es um drei Freunde geht, die in der Sowjetunion zu Dissidenten werden. 
Aus dem Klappentext: "Ilja, der Fotograf, vervielfältigt und verbreitet in seiner Freizeit verbotene Literatur. Als sich Jahre später herausstellt, dass er auch für den KGB tätig war, muss er fliehen. Micha ist Jude und schreibt seit seiner Jugend Gedichte. Wegen seiner Nähe zum Samisdat wird er denunziert und kommt ins Lager. Sanja kümmert sich während Michas Haft um dessen Frau und kleine Tochter. Dennoch hält ihn nach Michas Tod nichts mehr in der Sowjetunion."

Die Geschichte ist breit angelegt, in mehreren ineinander verwobenen Strängen erzählt und mit üppigem, um die überschaubare Hauptgruppe von sechs Menschen gruppiertem Personal ausgestattet. Es vermischen sich Biografie und Fiktion, einige Personen existierten real, werden aber wohl eher den russischen Lesern bekannt sein, manches entspringt den konkreten Erfahrungen der Autorin.
Wie in ihren früheren Werken besticht sie auch hier mit einer Kombination aus entlarvendem Blick und zwerchfellkitzelndem Humor, soviel lässt sich nach dem Hören eines Ausschnitts bereits sagen.

In einem vom Hanser-Verlag auf YouTube hochgeladenen Interview beschreibt Ulitzkaja ihr Verhältnis zur Sowjetmacht und ihre Beobachtung einer "Restalinisierung" in Russland, welche sie zum Schreiben des Grünen Zelts veranlasste:



 
Ihre Lesung beendete sie auf die Frage aus dem Publikum, ob sie ihre Bücher als Frauenliteratur bezeichnen würde, mit einer Feststellung, die ich hier mit Vergnügen festhalte und weitergebe: Der Begriff Frauenliteratur werde immer als Abwertung verstanden. Es sei natürlich eine Tatsache, dass Frauen viel später mit dem Schreiben begonnen haben als Männer, folglich stamme aber auch die größere Anzahl schlechter Bücher von Männern. Ihrer Auffassung nach sei inzwischen die Zeit der Frauen angebrochen, was auf eine Rettung der Erde hoffen lasse.

Das grüne Zelt nehme ich mir nun vor und empfehle es hier bereits ungelesen allein aufgrund meiner Erfahrung mit ihren früheren Büchern und des gestern Abend Gehörten.

Mittwoch, 28. November 2012

Schreibarbeitsvergnügen (Loses Blatt #51)

Seitdem ich Schreiben als Arbeit betrachte, bereitet es mir noch mehr Vergnügen.

Montag, 26. November 2012

Frei bewohnbare Wörter

Vielleicht leere ich bei Gelegenheit ein paar Wörter und wasche sie aus und lasse sie an der Sonne trocknen und stelle sie den Dingen zur Verfügung als frei wählbare und frei bewohnbare Gefäße. 
Vielleicht zieht dann ein Baum ins Haus und ein Vogel ins Lied und ein Buch ins Brot, zieht die Bewegung in den Weg und der Weg ins Ziel und das Ziel in den Beginn. 
Vielleicht geschieht dies mit großer Ernsthaftigkeit, vielleicht wird es aber auch ein großer Spaß, ein Spiel wie Blindekuh oder Bäumchen wechsle dich.
Vielleicht wird es ein Fest.
Vielleicht kann es funktionieren, wenn ich mich raushalte.

Samstag, 24. November 2012

Für mich

Vorgestern sprach ich übers Teilen, heute bekam ich ein wunderbares Geschenk (als Reaktion auf meine "Vater Mutter Kind"-Reihe), das mich sprachlos macht:



sie wendet sich ab
und zu nach dir um
sie kennt kein ich du er es
nicht einmal sich selbst kennt sie

ab und zu taucht sie
auf dreht sich um / ohne zu sehen
wer da steht / sie kennt niemanden
man sagt: sie kenne kein pardon

taucht auf ab und zu und Du
stehst da / ertappt und überwältigt und hast k
eine sprache gefunden sie vorwärts zu w
enden


von Sebastian van Roehlek 

*

Ich danke Dir von Herzen, lieber Sebastian, und sage es hier noch einmal: Du findest so gute Worte, da kann ich getrost sprachlos werden.

Sonntagsspaziergang 2 (Vater Mutter Kind 4)

Wie zum Beispiel die Hand des Vaters sich um deine schließt und den langweiligen Sonntagsspaziergang zu einem Engelsflug macht. Verschwindet deine kleine Hand vollends in seiner großen. Ist sie ein Vögelchen im Nest. Bist du selbst ein Vögelchen unter weitem Fittich. Fällt dein Blick auf eure Füße, versuchen deine kleinen einen Gleichschritt mit den großen, merken die großen das und verlegen sich aufs Trippeln. Musst du kichern.
Ist es überhaupt immer ein Spaß mit dem Vater, macht der so lustige Dinge, kennt er so viele Witze, kann er so tolle Sachen wie Hütten bauen und Schaukeln an hohen Ästen aufhängen und auf Grashalmen und Eichelhülsen pfeifen und Lagerfeuer machen. Kann er dich am Ende des Spaziergangs auf seinen Schultern tragen, ohne müde zu werden. Sitzt er später geduldig auf dem Sofa und lässt sich von dir die Haare kämmen und zu einer Königsfrisur gestalten.
Sind während alldem die Mutter und die Schwester unzufrieden. Schießen sie euch Blicke in den Rücken, flüstern sie einen Ärger hinaus, den du nicht hören willst. Scheppern sie in der Küche mit dem Geschirr, stören sie euren Frieden. Willst du das nicht und verschließt du deine kleinen Ohren, öffnest du sie nur für die Geschichten und die Lieder des Vaters.
Merkst du gar nicht, wie sie dich schützen, wie sie dich nicht einweihen in ihr Wissen um das Böse, wie sie dich im Glauben lassen, alles sei gut. Halten sie dich für klein und dumm. Aber bist du das nicht. Schützt du dich nämlich selbst. Wählst du die Türen, die du öffnest und die du schließt. Machst du es ganz anders als die Mutter und die Schwester. Wirst du ein ganz und gar stures Kind, lässt du nichts mehr an dich heran. Wird das immer so bleiben.
Sehen die Mutter und die Schwester deine kleine Gestalt und deine weiche Haut. Glauben sie, dass du nichts siehst und nichts weißt. Beneiden sie dich darum, manchmal so sehr, dass sie dir böse sind. Wünschen sie zugleich, dass du so unangetastet bleibst, so kindlich und frei.
Wissen sie nichts über dich.

Freitag, 23. November 2012

In deinem Bett 2 (Vater Mutter Kind 3)

Wie zum Beispiel euer Ehebett nach Verlangen riecht und du würgen musst. Stehst du davor und blickst auf den trunken schlafenden Leib. Liegt dieser mittendrin. Wird er erwachen, sobald du dich legst, wird er sich bäumen und über dich kommen. Hörst du sein gieriges Keuchen, spürst du sein gewaltiges Fordern, wirst du verschwindend klein. Kannst du dich nicht überwinden, deinen Platz einzunehmen. Schleichst du hinaus und schließt leise die Tür.
Stehst du gefällt im Flur zwischen drei Türen, hinter denen es schläft. Öffnest du die zum Zimmer deiner älteren Tochter. Weckst du das Kind, rückt es ganz nah an die Wand, macht es dir Platz in der Wärme. Zieht es eine Grenze dicht an seinem Rücken entlang. 
Kennst du diese Art Grenze, hast du selbst eine solche gezogen, damals im letzten Kriegsjahr. Lebte dieses jüdische Mädchen bei euch, versteckt und beschützt, ein ganzes Jahr lang. War sie so alt wie du, hätte sie deine Gefährtin sein können. Stahl sie dir aber deinen Platz im Bett. Nahm sie dir die Möglichkeit, deine Freundinnen zu treffen. Musstest du immerzu im Haus bleiben, war ja die Schule sowieso geschlossen und war die Gefahr viel zu groß, dass ein Wort über deine Lippen käme. Hast du versucht, verständig zu sein. Hast du ein Einsehen gehabt, war dieses Einsehen aber fern deinem Herzen. War da ein großer Zorn in dir auf das fremde Mädchen, so groß, wolltest du sein Leid nicht mehr sehen und die tödliche Gefahr. Sahst du nur noch dich und deinen Verzicht.
Hast du bald darauf begonnen dich zu schämen, so sehr. Wolltest du nie wieder selbstsüchtig sein. Wolltest du helfen und gut sein, wolltest du retten, was dir in die Hände fiel, wie zum Beispiel den zerschlagenen Mann ohne Mutter und ohne Heimat. Wolltest du alles wiedergutmachen, was schlecht war. Stießest du aber in jeder Richtung an eine Grenze ähnlich der im Bett deiner Tochter. Entzieht sich ein jedes deiner Hand, die sich so gerne beschwichtigend und heilend auf alles legen würde. 
Fällst du ohnmächtig in einen ohnmächtigen Raum.

Donnerstag, 22. November 2012

Teilen

Da lese ich im Netz verschiedene kleine Artikel zum Thema Zufriedenheit und Glück und freue mich daran, auch an deren wechselseitiger Wirkung, denke in Folge über meine eigene Haltung dazu nach und stelle fest, dass Glück für mich untrennbar mit Dankbarkeit verbunden ist, beide aber nicht als bloßes Empfinden, sondern als etwas Aktives. Setze ich mich also hin und verfasse eine seitenlange Abhandlung über meine Sicht der Dinge, gespickt mit diversen Links, lehne mich Stunden später zufrieden zurück, koche mir dann einen Kaffee und lese nochmal eben Korrektur, um das Ganze anschließend mit einem Klick auf meinem Blog zu veröffentlichen, und stelle mit Erschrecken fest, dass ich eine regelrechte Predigt geschrieben habe. Eine Erkenntnis, die mich würgen lässt. Ich könnte mir in den Hintern treten, was ich nach einem sekundenbruchteilkurzen Moment des Überlegens auch tue. In Form eines Klicks auf den Button "löschen". Puh.

(Dieser christlich-fundamentalistische Einfluss, über den ich bereits in diversen Texten mehr oder weniger verschlüsselt geschrieben habe, lässt sich, auch wenn er mittlerweile 20 Jahre zurückliegt, nicht so leicht abschütteln. Ich hüte mich seither zwar vor allem, was nach Vereinnahmung und Manipulation riecht. Erfolgreich. Eine Sensibilisierung, die mich fast vom einen auf den anderen Moment schützte vor erneuter "feindlicher Übernahme". Trotzdem kommen manchmal noch Dinge aus mir, eine Art, mich auszudrücken, Verinnerlichtes, das sich anscheinend nicht mit einem einzigen Ruck abwerfen lässt, das in die tiefsten Schichten eingedrungen und auch nach der zigsten Häutung noch nicht komplett abgestreift ist. Ich schäme mich dafür, so zu sein. Es verletzt mich, und ich arbeite daran. Aber dieses Arbeiten gleicht tatsächlich einem Prozess des wiederholten Häutens, der sich nicht künstlich beschleunigen lässt, sondern seine Zeit braucht.)

- Einatmen. Ausatmen. -

Eigentlich wollte ich über Glück schreiben und über Dankbarkeit. Auch über das Teilen, das sich bei mir als nächste Assoziation einstellte. Aber jetzt ist die Luft raus. Oder ich traue mich nicht mehr.
Ich schicke meine Gedanken zurück an den Punkt der Freude über die Vernetzung auf verschiedenen Ebenen. Die kleinen feinen Texte der Mützenfalterin über Zufriedenheit und Glückmomente und den zeitlich dazwischenliegenden von Sherry über Glück. Zurück an den Punkt, wo ich merkte, dass Glück für mich nicht in erster Linie ein Ereignis oder ein Empfinden ist, sondern eher mit meiner Haltung zu tun hat, mit der Fähigkeit und Bereitschaft, neben dem, was fehlt, das zu sehen, was ist, dieses nicht als selbstverständlich zu betrachten, sondern als Glück und für dieses Glück zu danken, übrigens ohne einen Adressaten wie Gott, das Leben, oder das Schicksal dafür zu brauchen. Den Dank wiederum nicht als ein Sichabfinden oder Sichzufriedengeben zu betrachten, sondern als Energiequelle für ein Fortschreiten zu nutzen ...

(Ich breche hier ab. Vielleicht ist es nicht so leicht nachzuvollziehen, aber ich kämpfe gerade sehr mit meinem eigenen Ton.)

Zum Schluss noch der Hinweis auf ein Projekt, auf das ich über Ute Schätzmüllers heutigen Blogeintrag gestoßen bin: the light ekphrastic von Jenny O'Grady. 
Utes Beschreibung des Projekts: "Alle drei Monate wird ein Kombinationsprojekt ausgeschrieben, zu dem sich bildende Künstler und Autoren bzw. Dichter bei ihr melden können. Sie wählt aus den Anmeldungen ca. acht Teilnehmer aus und erstellt Paare aus jeweils einem bildenden und einem schreibenden Künstler. Anschließend übermitteln die Partner sich gegenseitig Werkbeispiele und wählen schließlich ein Werk des jeweils anderen als Inspiration für die Erschaffung eines neuen Kunstwerks.  Diese fertigen Werke werden schließlich mitsamt ihrer Inspirationsquelle und einigen Informationen zu den Künstlern und Autoren auf dem Blog: “the light ekphrastik” und bei Facebook präsentiert."
Ein schönes Beispiel dafür, wie bereichernd Teilen sein kann. Im Gegensatz zu Konkurrieren.

Was mich übrigens kürzlich überaus freute: Dass Melusine meine Blütenblätter in ihrem schönen Interview auf Gesine von Prittwitz' Blog SteglitzMind empfahl. Das ehrt mich, denn abgesehen davon, dass ich Melusine persönlich sehr mag und schätze, sind ihre Gleisbauarbeiten für mich eines der inspirierendsten in der weiten Landschaft der Blogs.

Gehört das alles überhaupt zusammen? Ja, natürlich!

Dienstag, 20. November 2012

So friedlich

So friedlich, das lässt sich nicht ergreifen und festhalten, das lässt sich nur still ein- und ausatmen. 
(Und als tatsächlich erlebt und somit möglich in der Erinnerung abspeichern.)

Samstag, 17. November 2012

Hinaus

Sie hat sich wieder hingelegt. Endlich zufrieden mit der Tiefe der Grube. Die Erde ist kühl, aber das Blut im Rücken ist warm. Bald wird das Wasser hereinströmen, dann kann sie ihre Kiemen testen. 
Derweil liegen die Flügel ordentlich gefaltet in der Truhe. Dort teilen sie sich den Platz mit Notizbüchern, Muscheln und Steinen. Wer möchte den Deckel hochklappen und stöbern? Mit den Fingern über die Federn streichen, die Bänder von den Kladden lösen und den Träumen folgen, die immer nur aufs Meer gerichtet waren. 
Irgendwann wuchsen die Flügel, ihrem unbezähmbaren Wunsch Folge leistend. Nun liegen sie abgetrennt, nutzlos. Wollt ihr die DNA zum Beweis? Die offenen Wunden an ihren Schultern - noch würden sie sich wieder um die Wurzeln schließen. 
So viele Jahre hatte sie geglaubt, es ginge ums Fliegen. Als die Flügel dann endlich durchgebrochen waren, verging ihr die Lust. Diese Höhe. Dieser Abstand. 
Nun würde sie tauchen und ahnte doch schon, dass es auch darum nicht ging. Es war ein weiterer Abstecher, den sie machte, um in die Nähe von Weite zu gelangen.
Hört, das Wasser kommt! 
Sie atmet ganz ruhig und denkt nicht an den übernächsten Schritt. Wir hingegen denken an nichts anderes und werden dennoch geduldig warten, werden dabei nicht untätig sein. Das Boot kann einen neuen Anstrich vertragen. Die Segel wollen ausgebessert sein. Proviant muss an Bord ...
Wir könnten ausrasten vor Freude auf die bevorstehende Fahrt. Denn diesmal wird es weder hinauf noch hinunter gehen, sondern hinaus, weit hinaus.

Donnerstag, 15. November 2012

Jost Renner: Sag

Sag,
was Du zu sagen hast.
Sag es im Guten.

Sprich von Deiner Liebe,
red von Deinem Schmerz.

Sag es in Versen
und wahre die Form,
in der Du erkennbar bleibst.

Und wenn niemand Dich hört,
dann red gegen Wände
oder rufe laut in den Wald.

Sag, was Du zu sagen hast,
denn Dein Wort zählt -
die Dir verbleibenden Tage.


*


Dieses Gedicht habe ich gestern bei Jost Renner gefunden, dessen Blog Liebesenden zu meinen Lieblingslektüren gehört. Es finden sich dort lauter feine Gedichte, die in ganz eigener und, wie ich finde, zärtlicher Weise von Schmerz und Liebe sprechen.


"Sag, was Du zu sagen hast. Sag es im Guten." - Dieser Satz trifft mitten hinein in meine persistenten Zweifel daran, ob ich denn etwas zu sagen habe. Also etwas, das von Bedeutung sein könnte für irgendjemanden in irgendeinem Zusammenhang. Es geht nicht um eine Erlaubnis, oder höchstens um eine, die ich mir selbst erteile oder verweigere. Es geht um die Relevanz. (Ich wiederhole mich hier, schreibe nicht zum ersten Mal darüber, sorry, sicher werden noch mehr Einträge dazu folgen.)
Aber es sind da ja Gedanken, und sie wollen hinaus. Im Guten, das ist mir wichtig, denn wo es nicht im Guten gemeint ist, kann es auch nichts Gutes bewirken, davon bin ich überzeugt.
(Und ich tanze trotzdem auf dem Blocksberg! Das muss als Randbemerkung mit hinein, ohne dass ich es an dieser Stelle näher erläutern will. Notiz an mich: Irgendwann mal über die Radikalität des leisen Liebens schreiben.)

"Sprich von Deiner Liebe, red von deinem Schmerz." - Wovon sonst, denke ich im ersten Moment, im zweiten fallen mir all die Texte ein, in denen ich nicht explizit über mich und von mir schreibe, und im dritten Moment wird mir klar, dass auch diese Texte meine Liebe und meinen Schmerz wenn nicht zum Thema, dann doch als Richtschnur haben. Das Erleben meiner Figuren muss nichts mit meinem eigenen Erleben zu tun haben, aber mein Umgang mit ihnen ist davon geprägt. Man kann sich schlicht nicht aus seinen Texten heraushalten.
Und dann gibt es sie ja trotzdem auch, diese Texte, die von der eigenen Liebe und dem eigenen Schmerz sprechen. Diese sind die schwierigsten, finde ich, ist man nicht auf Reaktionen der Anteilnahme aus, sondern will dieses Persönliche genau wie alles andere zur Verfügung stellen, teilen und freilassen, damit der Leser es betrachten und benutzen oder verwerfen kann, wie er es will und braucht, ohne (falsche) Rücksicht auf den Verfasser.
Und es schließt ja nicht aus, dass man mit einigen wenigen dann doch ins Gespräch kommt über die persönlichen Dinge, aber mein Ziel ist das nie, da wähle ich lieber den direkten Weg des Gesprächs.

"Sag es in Versen und wahre die Form, in der Du erkennbar bleibst." - Für mich müssen es nicht unbedingt Verse sein. Aber die Form zu wählen, in der ich erkennbar bin/ bleibe, das ist eine Forderung, zu der ich ein Ja, ein Nein und ein Jein habe. Ich will mich ausdrücken, aber oft ist es eher so, dass ich etwas ausdrücken will, und möchte, dass sich der Leser der Sache zuwendet und nicht mich im Text zu erkennen sucht. Nicht, weil ich mich verstecken will, sondern weil es mir wirklich, wirklich, wirklich um die Sache geht.
Auch hier ist es also wieder so, dass es in manch einem Text nicht um meine Person geht, sondern um irgendeinen Gegenstand materieller oder ideeller Art, aber wie und weshalb ich darüber schreibe, hat natürlich mit mir zu tun und zeigt etwas von mir, nur dreht es sich eben nicht um mich. Vielleicht ist genau das mit obigem Satz gemeint.
Davon abgesehen empfinde ich es als (möglicherweise lebenslangen) Prozess, eine/ die Form zu finden, in der man unverwechselbar erkennbar ist, die also eine wirklich ganz und gar eigene ist.

"Und wenn niemand Dich hört, dann red gegen Wände oder rufe laut in den Wald." - Diesen Satz finde ich so schön, weil er zwar etwas Trauriges beinhaltet (nicht gehört zu werden), aber auch etwas Befreiendes: Ich muss mich nicht von Hörern (bzw. Lesern) abhängig machen, weder von ihrer Anwesenheit noch von ihren Reaktionen, ich kann auch für mich und in die Stille und in den Lärm sprechen, flüstern, schreien. Das hat etwas sehr Integres, was sich darin fortsetzt, dass, wenn dann doch einmal Hörer anwesend sind, die zudem reagieren oder nicht, ich nicht anders sprechen möchte als zur Wand oder zum Wald.
Nicht missverstehen! Ich meine damit nur, dass meine Rede sich nicht an Zuwendung, Gefallen oder Missfallen orientieren soll. Entgegengebrachte Aufmerksamkeit möchte ich jedoch mit Aufmerksamkeit erwidern. Und einem Verständniswunsch kann ich durchaus mit einem Verständlichmachungsversuch begegnen.

"Sag, was Du zu sagen hast, denn Dein Wort zählt - die Dir verbleibenden Tage." - Dieser Satz berührt mich am stärksten. Er ist so gut formuliert in seiner Mehrdeutigkeit. Mein Wort zählt. - Ja, nicht mehr und nicht weniger als das eines jeden. Das kann ich ohne weiteres akzeptieren und für mich in Anspruch nehmen, ohne darin einen Widerspruch zu meinen Zweifeln an der Relevanz meiner Äußerungen zu entdecken.
Aber meint denn dieses Zählen nicht gerade, dass es Relevanz hat? Nein, ich glaube nicht. Meines Erachtens geht es vielmehr um einen Wert abseits jeglicher Leistung und zu erwartender oder erzielter Wirkung. Mein Wort zählt, es ist etwas wert, allein aus dem Grund, weil es mein Wort ist. (Ich bin nicht ganz zufrieden damit, wie ich das hier formuliere, aber ich krieg's grade nicht besser hin.)
Und: Mein Wort zählt die mir verbleibenden Tage. - Dieser Hinweis auf die Endlichkeit des Lebens ändert den Blick auf die Fragen nach Relevanz und Form. Wir haben nicht unendlich viel Zeit und werden sowieso keine Vollkommenheit erreichen. Warum also nicht wertschätzen, was ist, im vollen Bewusstsein der Vorläufigkeit, die in allem liegt.

*

Lieber Jost, ich danke Dir herzlich fürs Ausleihen Deines Gedichts und bin mir bewusst, dass meine Auslegung eine sehr subjektive und unvollständige ist. Ich durfte mir Deine Worte zu eigen machen, das hat mir gut getan.

Montag, 12. November 2012

In Bewegung zu bleiben

Aufzubrechen
etwas zu finden
sich zu bücken
es aufzuheben
es nach Hause zu tragen
ihm einen Platz einzuräumen
es täglich zu betrachten
es zu pflegen
sich daran zu freuen
sich daran zu gewöhnen
ein Sehnen zu spüren
erneut aufzubrechen
etwas zu finden
sich zu bücken
...
zu begrüßen
zu sammeln
zu schätzen
zu bewahren
...
zu verwerfen
...
ein Gefüge zu schaffen
...
bewegt zu sein
in Bewegung zu bleiben

Sonntag, 11. November 2012

Tauchgang

Warum ich ausgerechnet jetzt an der tiefsten Stelle tauche - ich weiß es nicht, es schien richtig zu sein, wenn nicht gar notwendig und unausweichlich. Diese Sicherheit ging mir während des Tauchgangs verloren. Ich verharre zwischen Tiefer- und Wiederauftauchen. Irgendetwas will zum Abschluss gebracht sein, so scheint es mir. Ich müsste den Sauerstoffvorrat kontrollieren, will gleichzeitig auf Risiko spielen, denn wer weiß, ob ich noch einmal den Mut aufbringen werde. Oder die Kraft, die Ausdauer, die Lust.

Ließe sich Wahrhaftigkeit pflücken wie eine Blume, aufheben wie ein Kiesel, schälen wie eine Frucht. Ließe sie sich in irgendeiner Weise erschließen, die nichts mit graben und schürfen und aufbrechen zu tun hat. Oder wäre sie wie Luft, umhüllend und durchdringend, oder fließend und umschließend wie Wasser. Vielleicht ist sie das und bin ich mittendrin oder unlöslicher Teil, mir dessen nur nicht bewusst ...

Ich befinde mich mitten im Ozean, die Maße der Abstände zu Oberfläche und Grund sind identisch, ich halte Zwiesprache mit der Strömung und den Meeresbewohnern. Alles sieht mich an und ich fürchte mich nicht, jedenfalls nicht auf dieser Ebene der relativen Kontrollierbarkeit. Dennoch: Ein Zuhause ist das hier nicht, worin gleichzeitig etwas Anziehendes liegt, denn ein Zuhausegefühl wage ich seit je am ehesten in der Fremde zu entfalten. Wenn ich noch ein Weilchen bliebe ...

Ich habe nicht die geringste Ahnung, ob ich, entschlossen loslassend, aufsteigen oder sinken würde.

Samstag, 10. November 2012

Rettung

Gerät sie unter den Turm
schüttet sie Feuer ins taumelnde Blut
senkt das verwüstete Kind ins Meer
hebt sie das Wort hoch hinaus übers Tal
umschlingt sie die fallende Welt

Donnerstag, 8. November 2012

Sonntagsspaziergang (Vater Mutter Kind 2)

Wie zum Beispiel die Hand deiner jüngsten Tochter sich in deine schmiegt, den ganzen weiten Spazierweg lang und du manchmal zu fest zudrückst aus lauter Furcht, sie könnte dir ihre Hand entziehen. Aber tut sie das nicht, tritt sie dir stattdessen auf den Fuß und ruft "Hey, nicht so fest!", lacht noch dabei, ach, schießt dir eine Träne ins Auge. Nicht fassen kannst du dein Glück. Ist es so ganz und gar unverdient, zetern von hinten die Blicke, fallen sie stumm über eure Händeeinheit her. Sind da eine Frau und ein Mädchen, waren deine Frau und deine älteste Tochter. Spürst du den Vorwurf in ihren Blicken. Und die Traurigkeit. Bist du weit entfernt von einem Triumph, würdest du die beiden in deinem Rücken doch ebenso gern an den Händen halten. Wird das aber nie wieder möglich sein. Bist du ein Ungeheuer. Kannst du einfach nicht stehenbleiben und dich umdrehen und ein anderer sein. Wirst du immerzu wüten. 
Und wirst du immer der Mann sein, der ein Sohn ist, der die Mutter vermisst. Hat diese keine Hand für dich frei, hält sie darin deine toten Brüder. Bist du selbst mit dem einen Bruder nach dessen Geburt gestorben, bist du mit dem anderen im Krieg gefallen, bist du mit dem dritten verschollen. Bist du dreimal verschwunden und unsichtbar. Bis die Mutter eines Tages nicht länger vermisst, sondern vergisst, sich selbst und die Brüder und dich. Kennt sie dich nicht und niemanden mehr. Bist du nun tot oder frei? Weißt du es nicht. Vergisst du dich. 
Spürst du die bedingungslose Hand, die in deiner liegt. Spürst du die verhungernden Blicke im Rücken. Spürst du dein Unvermögen. Denkst du während des gesamten Weges an die Flasche in der Werkstatt und dass immer etwas zu werkeln ist in diesem vorwurfsfreien Raum mit dem unerschöpflichen Vorrat an Vergessen.

Sonntag, 4. November 2012

In deinem Bett (Vater Mutter Kind 1)

Wie zum Beispiel die Mutter dich weckt mitten in der Nacht und dich bittet, dichter zur Wand zu rücken, damit sie Platz hat neben dir, in deinem Bett. Nicht zu dem stinkenden Vater will sie sich legen, der über sie hereinbrechen könnte, der seine wütenden Fäuste auf ihrem Gesicht platzieren könnte und seinen ganzen berauschten Leib auf dem ihren, der doch ein Nein ist.
Spürst du diesen Nein-Leib neben deinem, wirst du zum Stock, willst du weder die Wand noch diesen entsetzten Rücken berühren. Braucht die Mutter ihren ganzen Schutz für sich selbst. Musst du im Zeitraffer wachsen und dich entscheiden. Gegen den Vater musst du dich entscheiden. Und musst du über deine kleine Schwester wachen, die im ahnungslosen Raum nebenan schläft, wie man sich nur wünschen kann zu schlafen.
Wirst du nie wieder so schlafen können wie die kleine Schwester, nie wieder allein in deinem Bett, auch dann nicht, wenn die Mutter den Platz gar nicht wünscht, wenn sie doch wieder beim Vater liegt.
Der Vater. Erkennst du seine Hände nicht mehr, die dich gehalten und hoch in die Luft geworfen und wieder aufgefangen haben. Erkennst du gar nichts mehr an ihm, nicht die Reiterknie, nicht die Hochsitzschultern, nicht die Blaublitzaugen, nicht den Mundharmonikamund, nicht die Gitarrenfinger. Wie kann das ein und derselbe Vater sein.
Und erkennst du auch die Mutter nicht mehr, ihren Schoß und ihren Leib, ihre Brust, ihre Arme, kennst das Warme, das Weiche, das Starke nicht mehr, war doch eine Burg und hat niemals gezittert vor Angst.
Kennst du sie beide nicht mehr. Sind nicht mehr Vater und Mutter, sind nur noch Mann und Frau, sind dein verstoßener Sohn und deine geliebte Tochter, und bist du hundertmal älter als zehn.

Samstag, 3. November 2012

Wunsch

Ach, könnte ich meine Zeilen so eng setzen, dass nicht der geringste Raum dazwischen bliebe.
  
*

- Bedeutet das Öffnen der Türen zugleich die Erlaubnis zum beliebigen Füllen der freien Räume mit Projektionen jeglicher Art? 
- Warum reißt meine Haut so leicht? 
- Wer sagt denn, dass die Ungezähmten laut sein müssen? 
- Mein Reichtum bleibt das noch nicht Preisgegebene.
- Die Sehnsucht, die ich selbst kaum kenne, auch wenn es einzig meine ist, wer wollte sie mir deuten?
- Das wird hier zu persönlich, um noch meins zu sein.
- Du stellst dich selbst zu sehr in Frage.
- Beende die Assoziation. 

- Lesen Sie nicht das Kleingedruckte, und wenn Sie nicht widerstehen können:
- Nehmen Sie es nicht persönlich, aber ernst, und verzichten Sie auf Interpretation (wenn Sie können).

Freitag, 2. November 2012

Wild (Blatt #50)

Der Wolf ist nicht wilder als das Reh.

Donnerstag, 1. November 2012

Zum Glück ...

... von drüben ein Leuchten.
Der Mützenfalterin sei Dank.

Suchanzeige

Winter gewesen und nie wieder Tau
Frühling, federnder Sprung in den
Sommer gewesen und - oh - auf ewig -
Herbst sein wollen und Fall
durch zuschreibungslosen Raum in ein
anderes, eigenes Sein 
- werden - wollen - was ist - wäre möglich -

verzweifelt gesucht: Ein wilder Ort, 
irgends