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Dienstag, 31. Mai 2016

Freundinnen

"Wie du das alles bewältigst." Sie staunt über meine Tatkraft.

"Ach, ich weiß nicht. Es bleibt trotzdem so vieles liegen", wiegele ich ab. 
Das ist keine falsche Bescheidenheit meinerseits, ich sehe es wirklich so. Mag sein, dass ich zu hohe Erwartungen an mich habe. Aber es ist nun einmal Fakt, dass die Welt noch nicht gerettet ist.

"Hey!" Sie streicht mir über den Arm. "Du musst die Welt nicht im Alleingang retten."
Sie kann meine Gedanken lesen, konnte es schon immer. Sie durchschaut mich, das nervt manchmal.

Wir sind Freundinnen, ein eingespieltes Team. Eingefahren. Festgefahren, denke ich in Augenblicken wie diesem, aber das ist irgendwie gemein. Oder?
Wir kennen uns gut, das hat etwas Beruhigendes. Und es engt uns ein. Abweichendes Verhalten bewerten wir gerne als nicht authentisch. Aber liegen wir damit richtig? 
Wieviel Entwicklung trauen und gestehen wir einander noch zu? Wieviel Überraschendes sind wir noch bereit anzunehmen, mit offenen Armen?

Manchmal wünschte ich, wir lernten uns gerade erst kennen und machten uns ganz neu miteinander vertraut. Ob wir dann freier wären, offener im Nehmen und im Geben? Ob wir uns sympathisch wären und mehr voneinander erfahren wollten?
Vielleicht entschieden wir uns heute dafür, entfernte Bekannte oder gar Fremde zu bleiben.

"Worüber grübelst du denn jetzt schon wieder nach, hm?" Sie zwickt mich in die Wange und wuschelt mir durchs Haar.

Soll ich’s ihr sagen?
Soll ich sagen, dass ich wünschte, wir kennten uns nicht, um unserer Freundschaft eine neue Chance zu geben? Auch auf die Gefahr hin, dass ...

"Bitte, sag’s nicht", flüstert sie, hält die Luft an und nimmt meine Hand, umschließt sie so fest, dass ich weiß: Sie wird mich nicht mehr loslassen.

Auf immer, denke ich, jede so oder so zu deutende Betonung vermeidend, und erleichtert atmet sie aus.

Donnerstag, 12. Februar 2015

Leere

Wie da manchmal so gar nichts ist, das in Worte gefasst werden kann. Wie da eine Leere aufscheint, von der du nicht weißt, ob sie dich ängstigen oder beruhigen will. Wie diese Leere hineingreift in dein Urteilsvermögen und du bis in eine Schicht stumm wirst, die tiefer liegt als die Schicht deines gewohnheitsmäßigen Verstummens. Wie diese Leere einen dunklen Raum bildet ohne Schutz vor einer Furcht, die gegenstandslos ist und deshalb den Namen Angst trägt, Urangst. Wie du plötzlich im Aufschreiben deiner Gedanken eine Hand vor Augen hast, auftauchend aus der Leere, ganz und gar vertraut. Eine große Hand, die dich gehalten hat, als du noch klein warst und die du viel zu früh losgelassen hast. Wie du die Leere auf einmal als den Abstand zwischen deiner und der anderen Hand begreifst. Und wie die Leere umso größer wird, je mehr sich der Abstand zwischen den zwei Händen verringert, weil du weißt, dass es nie zu einer Berührung kommen wird. Wie dich das schmerzt und wie dieser Schmerz zu etwas wird, das die Leere füllt und sich in Worte fassen lässt. Wie dich das erleichtert.

Dienstag, 16. Dezember 2014

Weihnachten

Der Vater verbringt viele Stunden in seiner Werkstatt. Er tut dort geheime Dinge, sägt und hämmert und leimt. Bald ist Weihnachten. Wir wünschen und erhoffen uns einen Kaufladen.
Trotzdem: So viele Stunden?
Aber das fragen wir Kinder uns nicht. Spüren nur die wachsende Unruhe der Mutter, jeden Abend. Ihren Unmut, der sich schließlich in gereizter Ungeduld uns gegenüber äußert. Wir spüren es, werden es aber erst viele Jahre später formulieren und in einen Zusammenhang bringen können. Zunächst einmal sind wir noch so klein, dass wir auf Stühle klettern müssen, um an die Dinge im höchsten Fach des Küchenschranks zu gelangen. So klein, dass wir noch eine Gutenachtgeschichte brauchen, um ruhig schlafen zu können. So klein, dass wir noch ans Christkind glauben.

Neben dem Weihnachtsbaum steht ein Gebirge, größer als wir. Ein rotsamtenes Tuch ist darüber drapiert. Das wird von der Mutter weggezogen, nachdem wir alle zusammen "Ihr Kinderlein, kommet" gesungen haben, mit kerzenfunkelnden Augen. Unter dem Tuch kommt ein Kaufladen zum Vorschein, ein wunderschöner, vom Vater gezimmerter, vom Christkind gebrachter. Ein Kaufladen mit aufklappbaren Seitenteilen, einer Verkaufstheke und Fächern und Laden in den verschiedensten Größen. Darin kleine Schächtelchen und Döschen und Gläschen, Netze, Körbe, Obst, Gemüse und Eier. Auf der Theke eine Klasse, die klingelt, wenn die Geldlade herausfährt.
Wir spielen "Ich wäre die Verkäuferin und du die Kundin", wechseln uns dabei ab, werden nicht müde der immer neuen Varianten.
Zwischendurch müssen wir Schnittchen und roten Heringssalat essen, müssen noch ein paar weniger wichtige Geschenke auspacken, müssen den Eltern beim Auspacken ihrer Geschenke zusehen, müssen mit ihnen anstoßen, in ihren Gläsern perlender Sekt, in unseren prickelnde Limonade, müssen verstohlen kichern über Mutters "Aber nur eins, versprochen?" zum Vater und dessen darauf folgendes Augenrollen.
Wir spielen den ganzen Abend mit unserem Kaufladen. Irgendwann muss der Vater noch einmal in seine Werkstatt, um etwas zu holen, das er vergessen hat. Dafür braucht er sehr lange, in der Zwischenzeit wird die Mutter wieder ganz unruhig, das bemerken wir wohl, aber da ist doch unser Kaufladen ...! Schließlich sind wir so müde, dass wir unter die Bettdecken schlüpfen, bevor der Vater zum Gutenachtsagen zurück ist.
Später schrecken wir kurz aus unseren Kaufladenträumen hoch, weil der Vater durch den Flur stolpert und irgendetwas klirrt. Das unterdrückte Schimpfen der Mutter und das Lallen des Vaters hören wir schon nicht mehr. Oder doch?

Sonntag, 23. November 2014

Weißt du noch?

Wir wollten immer wesentlich sein, weißt du noch? Keine Oberflächlichkeiten, keine Banalitäten. Alles musste Tiefe und Bedeutung haben. Eigentlich liefen wir immer hochschwanger herum, trugen mächtige Fragen und wahnsinnig komplexe Gedanken aus. Erinnerst du dich, wie unsere Köpfe rauchten und wie uns das erfüllte? Wir schürften tief und suhlten uns im Konglomerat des Rätselhaften. Schön war das, irgendwie befriedigend, auch wenn oder gerade weil die Antworten ausblieben. Und anstrengend war es auch.

Weißt du auch noch, wie wir zum Ausgleich herumalberten? Blödsinn erzählten, abstruse Assoziationsketten fertigten, irrsinnige Unternehmungen starteten, bis wir nicht mehr konnten vor Lachen. Überhaupt: Dieses Lachen. Wieso kam das damals so unmittelbar und prickelnd? So unstillbar. Wir kugelten uns, hielten uns die Bäuche, das Wasser spritzte uns aus den Augen. Diese unbezähmbare Fröhlichkeit, das Leichte daran. Der Ausgleich für das Schwere, das es unbestreitbar auch gab. 

Weißt du das noch? Nicht nur vom Kopf her, sondern auch so ganz tief in dir drin? Es fiel mir nur eben so ein. Manchmal würde ich gerne noch einmal dahin zurück.

Dienstag, 4. November 2014

Die Straßen meiner Kindheit

durch die Straßen meiner Kindheit weht ein jahrzehntealter Wind, ich quere den Platz mit dem raschelnden Ahornlaub, werde grundschulkindklein im vertrauten Duftgemisch aus U-Bahnschacht und Streuselstreifen von Merzenich, schmiege mich in den vertrauten Singsang des heimatlichen Dialekts und in die warme Kontur meiner alten Stadt ... wo ist mein Zuhause?


*


Die Straßen meiner Kindheit. Bin seit Jahren erstmals wieder hier. Gestern, am Tag meiner Ankunft, noch ein wenig umhergeirrt. Schon heute kannten sich meine Füße wieder aus. Auch meine Augen und Ohren. Und die Nase erst!
Wegen Dauerregens sechseinhalb Stunden Museum Ludwig. Guuute Entscheidung. Kunst kucken sortiert mich immer aufs wunderbarste.
Für morgen plane ich einen K-Tag. Muss so in der Stadt mit K.: Auf jeden Fall wieder Kunst kucken: diesmal Käthe Kollwitz; später Kaffee, aber nicht bei Kamps, sondern in einer schönen Konditorei, ich habe das Café Eigel in dunkler, aber guter Erinnerung; Kino vielleicht; Kölsch und Kurrywurst (oder Reibekuchen ...); Kommunizieren? Man kann nicht nicht kommunizieren in einer Stadt voller Menschen.

Am Donnerstag soll das Wetter besser sein, dann will ich ausgedehnt spazierengehen, das Haus aufsuchen, in dem ich aufgewachsen bin, durch den Volksgarten schlendern. Von dort ist uns damals ein Entenpaar zugeflogen und geblieben. Mein Vater hat ihnen im Garten einen Miniswimmingpool gebuddelt. Das Weibchen hat Eier gelegt, denen die harte Kalkschale fehlte. Windeier. Da gab's leider keinen Nachwuchs. 
Vielleicht finde ich auch noch den Weg zu meiner alten Grundschule. Frau Weihrauch-Kollenbusch, so hieß meine Lehrerin. Kein anderer Name blieb mir seither so gut im Gedächtnis. "Sich selbst bekämpfen ist der allerschwerste Krieg; sich selbst besiegen ist der allerschönste Sieg. von Friedrich von Logau", hat sie mir in mein in grünen Cordsamt gebundenes Poesiealbum geschrieben. Auch das weiß ich bis heute auswendig. Einmal sollte ich nachsitzen, weswegen, weiß ich nicht mehr. Da behauptete ich glattweg, zum Zahnarzt zu müssen. Ob sie mir glaubte? Jedenfalls ließ sie mich gehen, und ich kam mir ungeheuer verwegen vor mit meinen sechs, sieben Jahren. 
Ach, damals ...

Sonntag, 1. Juni 2014

Der Fünf-Mark-Trick

"Hier haste fünf Mark, kauf dir deine Kindheit zurück", sagt er und verschwindet, bevor ich etwas erwidern kann.
Komischer Traum, denke ich und schüttle mich wach. 
Hallo?!
Ich schüttle mich wahach!!
???
Nichts.
Okay, das kenne ich: Manche Träume sind gar keine. Was hat er gesagt?
Ich öffne meine Hand, die ich um das Fünfmarkstück geschlossen habe und muss grinsen. In mich hinein. Auch aus mir heraus, aber das geht niemanden was an.
Ich beginne über D-Mark und Euro nachzudenken und darüber, wieviel bzw. wie wenig man für diesen Geldbetrag käuflich erweben kann. Bremse mich aber rechtzeitig. Denn so absurd, wie diese Geschichte angefangen hat, soll sie auch weitergehen. Heißt: Alles ist möglich!

Was hätte ich denn gerne zurück?


... die warme weiche Bettdecke, die Kuscheltiere, das Fenster zu sämtlichen Jahreszeiten, die Leckmuschel, das kleine Vanilleeis am Stiel, die Wiese mit dem hüfthohen Gras, den klaren Bach und den hölzernen Steg darüber, die Schaukel, die so weit schwingt, weil sie an einem hohen Ast aufgehängt ist, den Grießbrei mit der Butterpfütze, das Sofa mit dem goldenen Cordbezug, Bonanza, Lassie, Flipper, mein erstes Fahrrad, meine ersten Schlittschuhe, das Tarzanspielen einen ganzen Sommer lang, das Lesezelt aus Tisch und Bettlaken ...

Das ist schon einiges, und das Fünfmarkstück ist noch längst nicht aufgebraucht. Um korrekt zu sein: Es ist nicht mal angebrochen. Weiter im Text:

... meine kleine Hand in einer großen Hand, den ersten Schultag, das buntgestreifte Sommerkleid, den Kletterapfelbaum, das zugeflogene Entenpaar, die roten Kniestrümpfe, die neuen Sandalen, das aufgeschürfte Knie und "Heile, heile Gänschen", die Freundinnen, die Lachanfälle, den Schwimmbadgeruch, das Sommergeräusch, den Glauben ans Christkind, das unbedingte unbewusste Vertrauen, die Karussell- und Achterbahnfahrten, die Zuckerwatte, alles ... alles bis zum Alter von zwölf Jahren, danach nichts mehr, erstmal ...

Die fünf Mark sind noch da. Ist ja klar, alles spielt sich in meinem Kopf ab. Oder? Immerhin ist es abrufbar. Es ist geblieben, weil nichts, das einmal war, je verschwindet. Auch nicht die doofen Sachen, leider. Aber für die taste ich das Fünfmarkstück nicht an.

Freitag, 10. Januar 2014

Wir hatten ja nichts

Wir hatten ja nichts außer einem ewig jungen Himmel.
Und einem Scheffel, randvoll mit Licht.
Und einer Bewegung, langsam genug, um darin zu wurzeln.
Wir hatten ja nichts, und davon noch nicht mal den Funken einer Ahnung.

Wir waren so reich in diesen Tagen mit den winzigen Zimmern und den klapprigen Autos, dem Gitarrengeklimper, den zerschlissenen Schlafsäcken und dem billigen Rotwein.
Wir waren so selig in unseren frei fließenden Assoziationen, in den Improvisationen, in den Erden und Himmeln, die wir erschufen, ohne nach Sinn oder Zweck oder gar Erlaubnis zu fragen.
Wir waren manchmal so fertig mit der Welt, so niedergeschlagen, so zerschmettert, aber nie allein und deshalb auch darin so reich.

Wir hatten echt nichts außer dem Nötigsten und uns und unserem geteilten Weltschmerz und einem unverstellten Blick ins Offene.
Für eine Zeitspanne von ein paar Jahren (vier, fünf?), in die ich heute noch manchmal meinen Löffel tauche, um davon zu essen und mich zu erinnern, was wirklich satt macht.


Und was wir damals so hörten ...

... u.a.
 

Montag, 25. Februar 2013

Alles mündet in Mensch

Wie sich der Vater zu jeder Mahlzeit quer über den Tisch legt und sich auf alle Teller verteilt in Schweigehäufchen, und wie wir Kinder glauben, dass er das tut, um zu gebieten, und dass er das volle Recht dazu hat, wir also unsere gehorsam-scheuen Münder nur öffnen, um winzige Häppchen hineinzuführen, jedes zweite vom Schweigehäufchen abgetragen, dabei könnte es auch die Mutter sein, die den strengen Vater austeilt mit ängstlichem Blick und die uns nur glauben machen will, dass zuerst das Gebieterische war und darauf die Angst, aber erst viele Jahre später denken wir, dass es auch so gewesen sein kann, dass zuerst die Angst war, eine Macht, die im Sichkleinmachen das Gebieten erzwang, und wir wissen nicht, ob wir uns vielleicht irren, nicht nur in der Wahl zwischen diesen beiden Möglichkeiten, sondern in der Beschränkung auf die Zahl zwei, wodurch wir etwas Totales erschaffen, viel zu simpel, das ahnen wir schon, aber anders nicht zu begreifen für unsere nie erwachsen gewordenen Seelen, die sich auf Schwarzweiß spezialisiert haben, nur manchmal, da denken wir in blassen Farben, Grautonnuancen noch fast, und befreien uns gewaltsam aus der kontraststarren Enge, die wir uns als Geborgenheitsgatter geschaffen haben, und dann sehen sich die Mutter und der Vater auf einmal so ähnlich, dass wir stutzen, denn wie kann das sein, diese Ähnlichkeit, wo wir doch gerade beginnen zu differenzieren, und neugierig geworden treiben wir das Ganze auf die Spitze und nehmen diese ähnlichen Elternbilder, halten sie neben den Spiegel, aus dem wir selbst uns entgegenblicken, und siehe da: die Ähnlichkeit ist eine übergreifende, wir sehen zwar deutlicher und in Farbe, und Details fliegen aus den Hintergründen auf uns zu, auch ganz und gar fremde, aber alles mündet in Mensch.

Samstag, 24. November 2012

Sonntagsspaziergang 2 (Vater Mutter Kind 4)

Wie zum Beispiel die Hand des Vaters sich um deine schließt und den langweiligen Sonntagsspaziergang zu einem Engelsflug macht. Verschwindet deine kleine Hand vollends in seiner großen. Ist sie ein Vögelchen im Nest. Bist du selbst ein Vögelchen unter weitem Fittich. Fällt dein Blick auf eure Füße, versuchen deine kleinen einen Gleichschritt mit den großen, merken die großen das und verlegen sich aufs Trippeln. Musst du kichern.
Ist es überhaupt immer ein Spaß mit dem Vater, macht der so lustige Dinge, kennt er so viele Witze, kann er so tolle Sachen wie Hütten bauen und Schaukeln an hohen Ästen aufhängen und auf Grashalmen und Eichelhülsen pfeifen und Lagerfeuer machen. Kann er dich am Ende des Spaziergangs auf seinen Schultern tragen, ohne müde zu werden. Sitzt er später geduldig auf dem Sofa und lässt sich von dir die Haare kämmen und zu einer Königsfrisur gestalten.
Sind während alldem die Mutter und die Schwester unzufrieden. Schießen sie euch Blicke in den Rücken, flüstern sie einen Ärger hinaus, den du nicht hören willst. Scheppern sie in der Küche mit dem Geschirr, stören sie euren Frieden. Willst du das nicht und verschließt du deine kleinen Ohren, öffnest du sie nur für die Geschichten und die Lieder des Vaters.
Merkst du gar nicht, wie sie dich schützen, wie sie dich nicht einweihen in ihr Wissen um das Böse, wie sie dich im Glauben lassen, alles sei gut. Halten sie dich für klein und dumm. Aber bist du das nicht. Schützt du dich nämlich selbst. Wählst du die Türen, die du öffnest und die du schließt. Machst du es ganz anders als die Mutter und die Schwester. Wirst du ein ganz und gar stures Kind, lässt du nichts mehr an dich heran. Wird das immer so bleiben.
Sehen die Mutter und die Schwester deine kleine Gestalt und deine weiche Haut. Glauben sie, dass du nichts siehst und nichts weißt. Beneiden sie dich darum, manchmal so sehr, dass sie dir böse sind. Wünschen sie zugleich, dass du so unangetastet bleibst, so kindlich und frei.
Wissen sie nichts über dich.

Freitag, 23. November 2012

In deinem Bett 2 (Vater Mutter Kind 3)

Wie zum Beispiel euer Ehebett nach Verlangen riecht und du würgen musst. Stehst du davor und blickst auf den trunken schlafenden Leib. Liegt dieser mittendrin. Wird er erwachen, sobald du dich legst, wird er sich bäumen und über dich kommen. Hörst du sein gieriges Keuchen, spürst du sein gewaltiges Fordern, wirst du verschwindend klein. Kannst du dich nicht überwinden, deinen Platz einzunehmen. Schleichst du hinaus und schließt leise die Tür.
Stehst du gefällt im Flur zwischen drei Türen, hinter denen es schläft. Öffnest du die zum Zimmer deiner älteren Tochter. Weckst du das Kind, rückt es ganz nah an die Wand, macht es dir Platz in der Wärme. Zieht es eine Grenze dicht an seinem Rücken entlang. 
Kennst du diese Art Grenze, hast du selbst eine solche gezogen, damals im letzten Kriegsjahr. Lebte dieses jüdische Mädchen bei euch, versteckt und beschützt, ein ganzes Jahr lang. War sie so alt wie du, hätte sie deine Gefährtin sein können. Stahl sie dir aber deinen Platz im Bett. Nahm sie dir die Möglichkeit, deine Freundinnen zu treffen. Musstest du immerzu im Haus bleiben, war ja die Schule sowieso geschlossen und war die Gefahr viel zu groß, dass ein Wort über deine Lippen käme. Hast du versucht, verständig zu sein. Hast du ein Einsehen gehabt, war dieses Einsehen aber fern deinem Herzen. War da ein großer Zorn in dir auf das fremde Mädchen, so groß, wolltest du sein Leid nicht mehr sehen und die tödliche Gefahr. Sahst du nur noch dich und deinen Verzicht.
Hast du bald darauf begonnen dich zu schämen, so sehr. Wolltest du nie wieder selbstsüchtig sein. Wolltest du helfen und gut sein, wolltest du retten, was dir in die Hände fiel, wie zum Beispiel den zerschlagenen Mann ohne Mutter und ohne Heimat. Wolltest du alles wiedergutmachen, was schlecht war. Stießest du aber in jeder Richtung an eine Grenze ähnlich der im Bett deiner Tochter. Entzieht sich ein jedes deiner Hand, die sich so gerne beschwichtigend und heilend auf alles legen würde. 
Fällst du ohnmächtig in einen ohnmächtigen Raum.

Donnerstag, 8. November 2012

Sonntagsspaziergang (Vater Mutter Kind 2)

Wie zum Beispiel die Hand deiner jüngsten Tochter sich in deine schmiegt, den ganzen weiten Spazierweg lang und du manchmal zu fest zudrückst aus lauter Furcht, sie könnte dir ihre Hand entziehen. Aber tut sie das nicht, tritt sie dir stattdessen auf den Fuß und ruft "Hey, nicht so fest!", lacht noch dabei, ach, schießt dir eine Träne ins Auge. Nicht fassen kannst du dein Glück. Ist es so ganz und gar unverdient, zetern von hinten die Blicke, fallen sie stumm über eure Händeeinheit her. Sind da eine Frau und ein Mädchen, waren deine Frau und deine älteste Tochter. Spürst du den Vorwurf in ihren Blicken. Und die Traurigkeit. Bist du weit entfernt von einem Triumph, würdest du die beiden in deinem Rücken doch ebenso gern an den Händen halten. Wird das aber nie wieder möglich sein. Bist du ein Ungeheuer. Kannst du einfach nicht stehenbleiben und dich umdrehen und ein anderer sein. Wirst du immerzu wüten. 
Und wirst du immer der Mann sein, der ein Sohn ist, der die Mutter vermisst. Hat diese keine Hand für dich frei, hält sie darin deine toten Brüder. Bist du selbst mit dem einen Bruder nach dessen Geburt gestorben, bist du mit dem anderen im Krieg gefallen, bist du mit dem dritten verschollen. Bist du dreimal verschwunden und unsichtbar. Bis die Mutter eines Tages nicht länger vermisst, sondern vergisst, sich selbst und die Brüder und dich. Kennt sie dich nicht und niemanden mehr. Bist du nun tot oder frei? Weißt du es nicht. Vergisst du dich. 
Spürst du die bedingungslose Hand, die in deiner liegt. Spürst du die verhungernden Blicke im Rücken. Spürst du dein Unvermögen. Denkst du während des gesamten Weges an die Flasche in der Werkstatt und dass immer etwas zu werkeln ist in diesem vorwurfsfreien Raum mit dem unerschöpflichen Vorrat an Vergessen.

Sonntag, 4. November 2012

In deinem Bett (Vater Mutter Kind 1)

Wie zum Beispiel die Mutter dich weckt mitten in der Nacht und dich bittet, dichter zur Wand zu rücken, damit sie Platz hat neben dir, in deinem Bett. Nicht zu dem stinkenden Vater will sie sich legen, der über sie hereinbrechen könnte, der seine wütenden Fäuste auf ihrem Gesicht platzieren könnte und seinen ganzen berauschten Leib auf dem ihren, der doch ein Nein ist.
Spürst du diesen Nein-Leib neben deinem, wirst du zum Stock, willst du weder die Wand noch diesen entsetzten Rücken berühren. Braucht die Mutter ihren ganzen Schutz für sich selbst. Musst du im Zeitraffer wachsen und dich entscheiden. Gegen den Vater musst du dich entscheiden. Und musst du über deine kleine Schwester wachen, die im ahnungslosen Raum nebenan schläft, wie man sich nur wünschen kann zu schlafen.
Wirst du nie wieder so schlafen können wie die kleine Schwester, nie wieder allein in deinem Bett, auch dann nicht, wenn die Mutter den Platz gar nicht wünscht, wenn sie doch wieder beim Vater liegt.
Der Vater. Erkennst du seine Hände nicht mehr, die dich gehalten und hoch in die Luft geworfen und wieder aufgefangen haben. Erkennst du gar nichts mehr an ihm, nicht die Reiterknie, nicht die Hochsitzschultern, nicht die Blaublitzaugen, nicht den Mundharmonikamund, nicht die Gitarrenfinger. Wie kann das ein und derselbe Vater sein.
Und erkennst du auch die Mutter nicht mehr, ihren Schoß und ihren Leib, ihre Brust, ihre Arme, kennst das Warme, das Weiche, das Starke nicht mehr, war doch eine Burg und hat niemals gezittert vor Angst.
Kennst du sie beide nicht mehr. Sind nicht mehr Vater und Mutter, sind nur noch Mann und Frau, sind dein verstoßener Sohn und deine geliebte Tochter, und bist du hundertmal älter als zehn.

Samstag, 9. Juni 2012

Hände und Himmelshöhe

Wie er mich hoch in die Luft warf und als jauchzendes Bündel wieder auffing, wie er mich auf seinen Schultern reiten ließ in gemächlichem Trab und wildem Galopp, dass meine Zöpfe flogen, wie er mich auf gefährlich hohe Mauern hob, damit ich dort entlang balancieren konnte mit hoheitsvollem Blick auf die unter mir liegende Welt, seine Hände sichernd zu mir emporgereckt, wie er die Schaukel am höchsten der starken Äste aufhängte, damit ich weit hinauf in den Himmel schwingen konnte, um mit den Zehenspitzen die Wolken anzutippen, wie er mir Gutenachtgeschichten vom Fliegen erzählte, damit ich's im Traum ausprobieren konnte, wie er mich durch das große Teleskop schauen ließ und mich lehrte, nach den Sternen zu greifen, all das erinnere ich wieder, nachdem ich es mir so lange verboten hatte, weil mein Vater in der Schublade "der Böse" und meine Mutter in der Schublade "die Arme" steckte, denn ich hatte eine Entscheidung getroffen, für die ich viel zu jung war und die zu revidieren mich einen langen Entwicklungsprozess kostete, der sich gelohnt hat, weil seit Jahren Stück für Stück Erinnerungen zurückkommen, deren schönste mit zwei Händen zu tun haben, die mich halten und emporheben, zwei Händen, die als Kind voller Vertrauen ergriffen und festgehalten zu haben mich längst nicht mehr reut, im Gegenteil.

Montag, 16. April 2012

Gold

Ich erinnere mich an eine Zeit, die vorüberging wie alle anderen, aber die, als sie war, eine Kugel zu sein schien, eine Kugel aus geschmolzenem Gold, darin eine nicht enden wollende Zahl Samstagnachmittage, Badewannen, gefüllt mit Schaumgebirgen, Tauchwettbewerbe, verschrumpelte Finger und Zehen, ein blauer Frotteebademantel mit tiefen Taschen, die Hände der Mutter, die sanft die Haare aus dem Gesicht streichen, während ein warmer Luftstrom aus dem Föhn die Kopfhaut massiert und in den Ohren kitzelt, der Platz auf der Couch mit dem goldbraunen Cordbezug, auf den ich mich mit angezogenen Füßen kuschelte, in Erwartung des Grießbreis mit der Butterpfütze und der Vorabendserie, deren Titelmelodie ich immer noch auswendig kenne, und ob das alles so war, wie ich es erinnere, so golden, könnte ich nicht beschwören, aber es ist im Laufe der Jahre so geworden, und in dieser Bearbeitungsmöglichkeit im Nachhinein liegt eine Freiheit, die derjenigen der Wahlmöglichkeit im Vorhinein nicht unähnlich ist, eine Freiheit, die lediglich genommen werden will, denke ich mir, und setze auf meine heutige Einkaufsliste ein Päckchen Grieß.

Mittwoch, 11. April 2012

Peter und Marion

Warum sie mir gerade jetzt wieder einfallen, weiß ich nicht, oder doch, schließlich war gerade Ostern, überall sind noch Hasenspuren zu finden, direkt neben meinem Laptop hockt ein unversehrtes Exemplar seiner Gattung, eingehüllt in Goldfolie, ein rotes Schleifenband mit Glöckchen um den Hals, also ist es gar nicht so verwunderlich, dass ich in diesem Augenblick an Peter und Marion denken muss, die zwei Hasen (richtiger: Kaninchen), die während meiner Kölner Kindheit ein Jahr lang zur Familie gehörten, genauer: so lange, bis wir in den Winterurlaub fuhren, in ein Ferienhäuschen in der verschneiten Eifel, und niemanden hatten, der sich um Peter und Marion kümmern konnte, mitnehmen ging nicht, aber unsere Eltern hatten eine Lösung gefunden, nämlich einen Bauernhof, der auch Kleintiere hielt und sich ihrer annehmen würde, und zwar, wie uns während der Ferien mitgeteilt wurde, auch über unseren Schneeaufenthalt hinaus, da die lieben Hasen (richtiger: Kaninchen) es draußen auf dem Land doch viel besser hatten als bei uns in der Stadt mit der begrenzten Auslaufmöglichkeit, was meiner Schwester und mir einleuchtete, schließlich liebten wir unsere Tiere und wollten nur ihr Bestes, so dass wir uns bereits während des Ferienaufenthaltes mit dem Verlust abfanden und uns auch nichts dabei dachten, als es bereits am zweiten Tag, nach Schneeballschlacht und Schlittenfahrt, zum Mittagessen ein leckeres Hirschgulasch gab.

Samstag, 31. März 2012

Prinzessin vom anderen Stern

Ich war acht Jahre alt und besuchte die dritte Klasse der Grundschule, als ich meinen Freundinnen Inge und Marion, nachdem ich sie absolute Geheimhaltung hatte schwören lassen, anvertraute, dass ich in Wahrheit eine Prinzessin vom anderen Stern wäre und nur für begrenzte Zeit in ihrer Stadt (Hagen/Westfalen) verweilte, nämlich so lange, bis mein Vater seinen Forschungsauftrag auf ihrem Planeten erfüllt hätte, in dem es aber um derart geheime Sachen ginge, dass ich ihnen leider nichts darüber erzählen könnte, wobei die Tatsache, dass ich eine Prinzessin und noch dazu von einem anderen Stern war, schon Anlass genug zur Aufregung bot, jedenfalls, nachdem die Überzeugung vollends gelungen war, und die beiden immer mehr Einzelheiten hören wollten, welche zu erfinden ich aber irgendwann müde wurde, sodass ich, nachdem sich zusätzlich zu der Ermüdung noch Gewissensbisse eingestellt hatten, die Sache aufklärte, oder jedenfalls aufzuklären versuchte, was sich als überaus schwierig erwies, da Inge und Marion inzwischen derart überzeugt waren, es wahrscheinlich auch gerne sein wollten, dass sie meinten, ich müsste keinen Rückzieher machen, sie könnten ein Geheimnis wahren, ich sollte ihnen vertrauen und mir keine Sorgen machen, schließlich wären wir beste Freundinnen, worauf mich mehr und mehr das Gefühl beschlich, es könnte etwas dran sein, ich wäre vielleicht wirklich eine Prinzessin vom anderen Stern, deren Gehirn aus Sicherheitsgründen so gepolt worden war, dass sie sich für eine Erdbewohnerin hielt, die Märchen erfand.
(Bis zum heutigen Tag weiß ich nicht ...)

Dienstag, 14. Februar 2012

Sandkasten

Meine Schwester und ich waren drei und fünf Jahre alt, als wir einmal einen Nachmittag allein zuhause verbringen mussten, ausgestattet mit Spielsachen, Papier und Buntstiften und der Ermahnung, im Haus zu bleiben, was bedeutete, dass wir nicht draußen im Garten und im Sandkasten spielen konnten, worauf uns nichts anderes übrig blieb, als den Sand mit unseren Eimerchen aus der Kiste ins Kinderzimmer zu transportieren - was ein mühsames, aber lohnendes und lustiges Unterfangen war -, ihn dort auf den Teppich zu häufen, Wasser hinzuzufügen und zahllose kleine Kuchen zu backen, die wir auf dem Wohnzimmertisch anrichteten, voller Vorfreude auf die Rückkehr unserer Eltern und deren garantierten Stolz auf ihre selbstständigen, einfallsreichen und gehorsamen Töchter, die sich darüberhinaus weder gezankt noch geprügelt hatten, was während unserer Kindheit eine absolute Seltenheit darstellte.


(Noch mehr S-Wörter gibt's im Zeitnetz.)

Mittwoch, 8. Februar 2012

Pampelmuse

Der Duft einer Grapefruit erinnert mich an die Zeit, als sie noch Pampelmuse hieß und zum täglichen Frühstück meiner Großmutter gehörte, neben Pumpernickel und frisch gebrühtem Bohnenkaffee, dessen Aroma mich aus dem Ehebett lockte, in dem ich in der Besucherritze geschlafen hatte, eingemummelt in meinen Schlafsack, mit dem ich in die Küche hüpfte, wo Großvater mir durch die vom Schlaf zersausten Haare wuschelte, mich auf einen Stuhl hob, ein Frühstücksbrettchen und ein Messer vor mich hinlegte, die er mit dem Brotkorb, der Butter, Honig und selbstgemachter Marmelade umringte, und mir warmen Kakao in den Becher schenkte, über dessen Rand später mein Blick der Großmutter folgte, wie sie die geblümte Wachstuchtischdecke mit einer Hand in die andere leer fegte, dann die Balkontür öffnete, hinaustrat und die Brotkrumen über die Brüstung in den Hof warf, in dessen Mitte sich bereits die Spatzen versammelt hatten, in Erwartung der Fütterung und um mit ihrem Gezwitscher die Komposition des Morgens nach einem Tag und einer Nacht bei meinen Großeltern vollkommen zu machen.


(Inspiriert wurde ich, wie schon beim Azur, von der Weberin und ihrem Alphabet, von dem heute das P an der Reihe war.)