ein Stück Brot, ein Glas Wein, ein Strauß Blumen, ein junger Vogel, ein Löffel, ein Buch, ein Stift, ein Messer, ein Stock, ein Brief, ein Telefon, eine Wange, ein Türgriff, eine Taschenlampe, eine Maus, ein Schmetterling, ein Haarbüschel, ein Kamm, eine Schere, eine Gießkanne, eine Fernbedienung, ein Hammer, eine Lupe, ein Schneeball, eine Muschel, ein Stein
...
eine andere Hand
Donnerstag, 29. September 2011
Dienstag, 27. September 2011
Von dem, das vor der Tür wartet
Ich gehe doch nicht vor die Tür, um meinen Gang beurteilen zu lassen, die Länge meiner Schritte beispielsweise, und ob ich die Füße ein- oder auswärts setze, ob ich die Arme schwinge und den Kopf in den Nacken werfe, ob ich mein Glück auf dem Boden suche oder in der Luft, ob ich pfeife oder schmunzle oder eine Träne verdrücke, ob ich der Nachbarskatze über den Kopf streiche, einen Stein umdrehe, in eine Pfütze spucke, oder ob ich endlich meine Flügel ausbreite, um mich abzuheben von dem, das vor der Tür wartet, um meinen Gang zu beurteilen, die Länge meiner Schritte beispielsweise, und ob ich die Füße ein- oder auswärts setze, ob ich die Arme schwinge und den Kopf in den Nacken werfe, ob ich mein Glück auf dem Boden suche oder in der Luft, ob ich pfeife oder schmunzle oder eine Träne verdrücke, ob ich der Nachbarskatze über den Kopf streiche, einen Stein aufhebe, in eine Pfütze springe, oder ob ich endlich meine Flügel ausbreite, um mich abzuheben von dem, das vor der Tür wartet, um meinen Gang zu beurteilen, die Länge meiner Schritte beispielsweise, und ob ich die Füße ein- oder auswärts setze, ob ich die Arme schwinge und den Kopf in den Nacken werfe, ob ich mein Glück auf dem Boden suche oder in der Luft, ob ich pfeife oder schmunzle oder eine Träne verdrücke, ob ich der Nachbarskatze über den Kopf streiche, einen Stein werfe, in eine Pfütze tauche, mit offenen Augen, oder ob ich endlich meine Flügel ausbreite, um mich abzuheben von dem, das vor der Tür wartet
Sonntag, 25. September 2011
Vergnügungen - Kontrastprogramm
Mitbringsel von der 12. Emmendinger Lesenacht, bei der es
Gereimtes und Ungereimtes zu hören gab, darunter bestimmt mehr Gutes, Schönes,
Wahres als bei der parallel stattfindenden Massenveranstaltung im 15 Kilometer
entfernten Freiburg.
Vergnügungen
Der erste Blick aus dem Fenster am Morgen
Das wiedergefundene alte Buch
Begeisterte Gesichter
Schnee, der Wechsel der Jahreszeiten
Die Zeitung
Der Hund
Die Dialektik
Duschen, Schwimmen
Alte Musik
Bequeme Schuhe
Begreifen
Neue Musik
Schreiben, Pflanzen
Reisen
Singen
Freundlich sein.
Bertolt Brecht
Dichter sii
Dichter sii heisst villicht
Gànz eifàch bis àn’s And geh
Vo dr eigena Sproch
Un vom Courage f’r sa z’reda
Un schwiga erscht
Wenn uns d’Sproch nimma brücht
Adrien Finck
Donnerstag, 22. September 2011
Bin grünende Hügel
Bin grünende Hügel
sei Asche sei Glut
bin blauendes Meer
sei Ebbe und Flut
lass uns Lichtbrecher sein
durchs Spiegelnde ziehn
in den Händen des Abends
zu Rosen erblühn
lass ins Dunkle uns springen
sei nächtlich vertraut
und leck mir am Feuer
den Tag von der Haut
[Dir ist fremd wie ich hinter
geometrischen Schleiern
auf der Suche bin nach der
Ursituation?
Sieh doch:
Drum hab ich das Tier
ins Quadrat gesperrt.]
Entwirr meine Sinne
sei heller als hell
und wirf dich in meinen blinden Lauf
sei Zahn sei Kralle
sei nächtliches Fell
reiß all meine grauen Stellen auf
lass ins Dunkle uns springen
lass uns Lichtbrecher sein
ins Dunkle springen
Lichtbrecher sein
ins Dunkle
ins Licht
...
bin blauendes Meer
sei Ebbe und Flut
bin grünende Hügel
sei Asche sei Glut
sei Asche sei Glut
bin blauendes Meer
sei Ebbe und Flut
lass uns Lichtbrecher sein
durchs Spiegelnde ziehn
in den Händen des Abends
zu Rosen erblühn
lass ins Dunkle uns springen
sei nächtlich vertraut
und leck mir am Feuer
den Tag von der Haut
[Dir ist fremd wie ich hinter
geometrischen Schleiern
auf der Suche bin nach der
Ursituation?
Sieh doch:
Drum hab ich das Tier
ins Quadrat gesperrt.]
Entwirr meine Sinne
sei heller als hell
und wirf dich in meinen blinden Lauf
sei Zahn sei Kralle
sei nächtliches Fell
reiß all meine grauen Stellen auf
lass ins Dunkle uns springen
lass uns Lichtbrecher sein
ins Dunkle springen
Lichtbrecher sein
ins Dunkle
ins Licht
...
bin blauendes Meer
sei Ebbe und Flut
bin grünende Hügel
sei Asche sei Glut
Montag, 19. September 2011
Mehr als alles auf der Welt
Sie mehr zu lieben als alles auf der Welt
und doch die Lippen manchmal nicht
schließen zu können vor dem Ausbruch
überschluckter Worte die ihre Augen erst
weit werden lassen und dann eng die es
um ihre Münder zucken lassen bevor sie
ihre Rücken aufstellen zu einem Stück
Abschied der dein Herz bluten lässt
nachdem für einen winzigen Augenblick
Ausatmen war und dann dieses weitere
Stück diesen weiteren Meter Rückzug
hinzunehmen als von Generationen
bereiteten Weg aber auf diesen sich
addierenden Metern Tabubruch zu
pflanzen einen musterdurchbrechenden
Keim und sie mutig immer weiter zu
lieben mehr als alles auf der Welt
nachdem für einen winzigen Augenblick
Ausatmen war und dann dieses weitere
Stück diesen weiteren Meter Rückzug
hinzunehmen als von Generationen
bereiteten Weg aber auf diesen sich
addierenden Metern Tabubruch zu
pflanzen einen musterdurchbrechenden
Keim und sie mutig immer weiter zu
lieben mehr als alles auf der Welt
Samstag, 17. September 2011
Laienhafte Anmerkungen zur bevorstehenden Sonnenfinsternis
!!! Einige Optiker verfügen noch über Restbestände an Schutzbrillen, die anlässlich der letzten großen Sonnenfinsternis hergestellt wurden. Gönnen wir ihnen den Verdienst und greifen zu, solange der Vorrat reicht. Denn jeder, der nicht wegsehen will, wäre - ungeschützt - vom Einbüßen seiner Klarsicht bedroht. !!!
Derweil laufen die Vorbereitungen in den drei betroffenen Städten auf Hochtouren. Über Sicherheitsvorkehrungen, Kosten und Brimbamborium wird an anderen Stellen bereits ausführlich berichtet. Hier soll es - s.o. - nur einige wenige ergänzende und - soviel zur Unterstreichung unserer Integrität - laienhafte Anmerkungen geben:
Das Ereignis ist zwar kein gott-, aber ein (menschen)naturgegebenes und wird als solches unabwendbar eintreffen.
Die Schar der Neugierigen und der Anbeter wird groß sein, wir sollten uns dazugesellen und mitbeobachten.
Und wir sollten unsere Aufmerksamkeit nicht nur der Erscheinung selbst (ihrem blendenen und gleichzeitig verdunkelnden Auftritt) schenken, sondern auch unsere Umgebung wahrnehmen:
Das unvermeidliche Verstummen ganzer Herden,
das Anlegen der Flügel sonst freier Wesen,
das Verbergen wahrer Gesichter hinter gefalteten Blütenblättern.
Und wir könnten hoffen, dass es sich dabei - zumindest bei Einigen - nicht um Zeichen der Ehrfurcht handelt, sondern um Maßnahmen zum Schutz der eigenen empfindlichen Seelen.
!!! Aus sich gut unterrichtenden Kreisen verlautet, dass es weder ein Verstummungsgebot, noch ein Flugverbot für Blätter, seien sie auch noch so herbstlich gefärbt, geben wird, desweiteren keine Kleiderordnung, die beispielsweise das Tragen einer guten Miene vorschreiben könnte. !!!
Derweil laufen die Vorbereitungen in den drei betroffenen Städten auf Hochtouren. Über Sicherheitsvorkehrungen, Kosten und Brimbamborium wird an anderen Stellen bereits ausführlich berichtet. Hier soll es - s.o. - nur einige wenige ergänzende und - soviel zur Unterstreichung unserer Integrität - laienhafte Anmerkungen geben:
Das Ereignis ist zwar kein gott-, aber ein (menschen)naturgegebenes und wird als solches unabwendbar eintreffen.
Die Schar der Neugierigen und der Anbeter wird groß sein, wir sollten uns dazugesellen und mitbeobachten.
Und wir sollten unsere Aufmerksamkeit nicht nur der Erscheinung selbst (ihrem blendenen und gleichzeitig verdunkelnden Auftritt) schenken, sondern auch unsere Umgebung wahrnehmen:
Das unvermeidliche Verstummen ganzer Herden,
das Anlegen der Flügel sonst freier Wesen,
das Verbergen wahrer Gesichter hinter gefalteten Blütenblättern.
Und wir könnten hoffen, dass es sich dabei - zumindest bei Einigen - nicht um Zeichen der Ehrfurcht handelt, sondern um Maßnahmen zum Schutz der eigenen empfindlichen Seelen.
!!! Aus sich gut unterrichtenden Kreisen verlautet, dass es weder ein Verstummungsgebot, noch ein Flugverbot für Blätter, seien sie auch noch so herbstlich gefärbt, geben wird, desweiteren keine Kleiderordnung, die beispielsweise das Tragen einer guten Miene vorschreiben könnte. !!!
Donnerstag, 15. September 2011
Mein Platz
Um dazugehören zu können, müsse ich mich erst vermessen lassen, dann träfen die bereits Dazugehörenden ihre Entscheidung.
Aha. Aber hatte ich danach gefragt? Ich wollte dabei sein. War das dasselbe?
Ich trat einen Schritt zurück, dann noch einen. Aus der Ferne betrachtet waren sie klein. Und der Raum um mich herum war weit. Mein Platz.
Ich stellte ein Schild auf: Besucher erwünscht. Wenn ich morgens aufwachte, sah ich ihre Spuren. Sie kamen nachts, und ich störte sie nicht.
Wir hielten Frieden, und mit der Zeit kam es mir vor, als hütete ich sie.
Ab und zu erlaubte ich mir den Gedanken, dass ihre Neugier sie eines Tages retten werde.
Dann würde ich sie zu einem Picknick einladen. Wir würden im Gras sitzen, umweht, umduftet, umsummt. Wir würden essen und trinken und einander unsere echten Leben zeigen. Und wir würden lachen, da war ich ganz sicher, wir würden zusammen lachen.
Aha. Aber hatte ich danach gefragt? Ich wollte dabei sein. War das dasselbe?
Ich trat einen Schritt zurück, dann noch einen. Aus der Ferne betrachtet waren sie klein. Und der Raum um mich herum war weit. Mein Platz.
Ich stellte ein Schild auf: Besucher erwünscht. Wenn ich morgens aufwachte, sah ich ihre Spuren. Sie kamen nachts, und ich störte sie nicht.
Wir hielten Frieden, und mit der Zeit kam es mir vor, als hütete ich sie.
Ab und zu erlaubte ich mir den Gedanken, dass ihre Neugier sie eines Tages retten werde.
Dann würde ich sie zu einem Picknick einladen. Wir würden im Gras sitzen, umweht, umduftet, umsummt. Wir würden essen und trinken und einander unsere echten Leben zeigen. Und wir würden lachen, da war ich ganz sicher, wir würden zusammen lachen.
Dienstag, 6. September 2011
Doris Lessing: Es gibt nur eine Art, Bücher zu lesen
Vorab eine Begründung für die Auswahl des Textes:
Fast täglich habe ich es in der Buchhandlung mit rezensentengläubigen Kunden zu tun, solchen, die sich von anderen sagen lassen, was zu lesen lohnt oder gar ein Muss ist. Diese Kunden kennen die Bestsellerlisten und/oder die Literaturseiten der klugen Zeitungen, kennen sie besser als ihren eigenen Geschmack und trauen gestelzt formulierten Urteilen mehr als dem eigenen verschütteten Instinkt für das, was ihnen gefallen und guttun könnte. Sie haben viel Zeit mit dem Lesen von Kritiken verbracht, kommen mit ausgeschnittenen oder ausgedruckten Artikeln und "sparen" sich so das Stöbern, das Blättern, das Hineinlesen, das Verführenlassen.
Manchmal, viel zu selten, gelingt es mir, solche Kunden auf Abwege zu führen, sie auf weniger Populäres aufmerksam zu machen, auf ein gelungenes Cover, einen originellen Titel hinzuweisen, ihnen ein Buch aufzuschlagen und mit den ersten Sätzen ein Netz auszuwerfen, in dem sie sich verfangen und den Reiz des Findens und Gefundenwerdens erleben. Denn nichts anderes geschieht, wenn wir auf ein Buch stoßen, das unvermittelt zu uns spricht und eine Resonanz an verschiedenen Stellen in uns auslöst.
Natürlich lese auch ich Rezensionen und schaue Literatursendungen (manche sogar mit Vergnügen und Gewinn), nicht nur "von Berufs wegen", sondern aus echtem eigenen Interesse, das manchmal allerdings eher den Rezensenten und ihren Selbstdarstellungskünsten gilt als dem besprochenen Buch. Das entdecke ich nämlich am allerliebsten selbst.
Und nun Doris Lessing:
"[...]
Wie jeder andere Schriftsteller bekomme ich ständig Briefe von jungen Leuten, die in verschiedenen Ländern - aber besonders in den Vereinigten Staaten - Examensarbeiten und Aufsätze über meine Bücher schreiben. Sie alle sagen: Bitte schicken Sie mir ein Verzeichnis der Artikel über Ihr Werk, der Kritiker, die über Sie geschrieben haben, der Autoritäten." Sie fragen auch nach tausend Einzelheiten, die völlig irrelevant sind, die aber als wichtig zu betrachten sie gelehrt wurden und die schließlich ein Dossier ergeben wie das eines Einwanderungsbüros.
Diese Anfragen beantworte ich wie folgt: 'Lieber Student. Du bist verrückt. Warum Monate und Jahre damit zubringen, Tausende von Wörtern über ein einziges Buch oder selbst einen einzigen Schriftsteller zu schreiben, wenn es Hunderte von Büchern gibt, die darauf warten gelesen zu werden. [...] Und wenn du dir mein Werk als Thema ausgesucht hast [...], warum liest du dann nicht, was ich geschrieben habe und wirst dir klar über das, was du denkst, und prüfst es anhand deines eigenen Lebens, deiner eigenen Erfahrung. Kümmere dich nicht um Professor Schwarz und Weiß.'
[...]
Ich sage diesen Studenten, die ein, zwei Jahre damit zugebracht haben, Abschlußarbeiten über ein einziges Buch zu schreiben: 'Es gibt nur eine Art, Bücher zu lesen, nämlich die, in Bibliotheken und Buchhandlungen zu stöbern, Bücher mitzunehmen, die einen interessieren, und nur die zu lesen und sie wegzulegen, wenn sie einen langweilen, oder die Längen zu überspringen - und niemals, niemals etwas zu lesen, weil man glaubt, man müßte, oder weil es zu einer Richtung oder Bewegung gehört. Denk daran, daß das Buch, das dich langweilt, wenn du zwanzig oder dreißig bist, eine Offenbarung sein kann, wenn du vierzig oder fünfzig bist - und umgekehrt. Lies kein Buch, wenn nicht die Zeit dafür gekommen ist. [...] Vor allem solltest du wissen, daß die Tatsache, daß du ein oder zwei Jahre über einem Buch oder einem Autor verbringen mußt, bedeutet, daß du schlecht unterrichtet worden bist - man hätte dich lehren sollen, auf deine eigene Weise von einer Neigung zur nächsten zu lesen, du solltest lernen, deinem eigenen intuitiven Gespür im Hinblick auf das, was du brauchst, zu folgen: das ist es, was du hättest entwickeln sollen, nicht die Art, wie man andere Leute zitiert.'"
(Trotzdem, liebe Doris Lessing, war es mir in diesem Fall ein Bedürfnis und ein Vergnügen, "andere Leute" zu zitieren, nämlich Sie mit Ihrer klugen Kritikergläubigkeitskritik.)
aus dem 1971 verfassten Vorwort Doris Lessings zu ihrem 1962 erschienen Roman "Das goldene Notizbuch", hier Roman Fischer 1978
Fast täglich habe ich es in der Buchhandlung mit rezensentengläubigen Kunden zu tun, solchen, die sich von anderen sagen lassen, was zu lesen lohnt oder gar ein Muss ist. Diese Kunden kennen die Bestsellerlisten und/oder die Literaturseiten der klugen Zeitungen, kennen sie besser als ihren eigenen Geschmack und trauen gestelzt formulierten Urteilen mehr als dem eigenen verschütteten Instinkt für das, was ihnen gefallen und guttun könnte. Sie haben viel Zeit mit dem Lesen von Kritiken verbracht, kommen mit ausgeschnittenen oder ausgedruckten Artikeln und "sparen" sich so das Stöbern, das Blättern, das Hineinlesen, das Verführenlassen.
Manchmal, viel zu selten, gelingt es mir, solche Kunden auf Abwege zu führen, sie auf weniger Populäres aufmerksam zu machen, auf ein gelungenes Cover, einen originellen Titel hinzuweisen, ihnen ein Buch aufzuschlagen und mit den ersten Sätzen ein Netz auszuwerfen, in dem sie sich verfangen und den Reiz des Findens und Gefundenwerdens erleben. Denn nichts anderes geschieht, wenn wir auf ein Buch stoßen, das unvermittelt zu uns spricht und eine Resonanz an verschiedenen Stellen in uns auslöst.
Natürlich lese auch ich Rezensionen und schaue Literatursendungen (manche sogar mit Vergnügen und Gewinn), nicht nur "von Berufs wegen", sondern aus echtem eigenen Interesse, das manchmal allerdings eher den Rezensenten und ihren Selbstdarstellungskünsten gilt als dem besprochenen Buch. Das entdecke ich nämlich am allerliebsten selbst.
Und nun Doris Lessing:
"[...]
Wie jeder andere Schriftsteller bekomme ich ständig Briefe von jungen Leuten, die in verschiedenen Ländern - aber besonders in den Vereinigten Staaten - Examensarbeiten und Aufsätze über meine Bücher schreiben. Sie alle sagen: Bitte schicken Sie mir ein Verzeichnis der Artikel über Ihr Werk, der Kritiker, die über Sie geschrieben haben, der Autoritäten." Sie fragen auch nach tausend Einzelheiten, die völlig irrelevant sind, die aber als wichtig zu betrachten sie gelehrt wurden und die schließlich ein Dossier ergeben wie das eines Einwanderungsbüros.
Diese Anfragen beantworte ich wie folgt: 'Lieber Student. Du bist verrückt. Warum Monate und Jahre damit zubringen, Tausende von Wörtern über ein einziges Buch oder selbst einen einzigen Schriftsteller zu schreiben, wenn es Hunderte von Büchern gibt, die darauf warten gelesen zu werden. [...] Und wenn du dir mein Werk als Thema ausgesucht hast [...], warum liest du dann nicht, was ich geschrieben habe und wirst dir klar über das, was du denkst, und prüfst es anhand deines eigenen Lebens, deiner eigenen Erfahrung. Kümmere dich nicht um Professor Schwarz und Weiß.'
[...]
Ich sage diesen Studenten, die ein, zwei Jahre damit zugebracht haben, Abschlußarbeiten über ein einziges Buch zu schreiben: 'Es gibt nur eine Art, Bücher zu lesen, nämlich die, in Bibliotheken und Buchhandlungen zu stöbern, Bücher mitzunehmen, die einen interessieren, und nur die zu lesen und sie wegzulegen, wenn sie einen langweilen, oder die Längen zu überspringen - und niemals, niemals etwas zu lesen, weil man glaubt, man müßte, oder weil es zu einer Richtung oder Bewegung gehört. Denk daran, daß das Buch, das dich langweilt, wenn du zwanzig oder dreißig bist, eine Offenbarung sein kann, wenn du vierzig oder fünfzig bist - und umgekehrt. Lies kein Buch, wenn nicht die Zeit dafür gekommen ist. [...] Vor allem solltest du wissen, daß die Tatsache, daß du ein oder zwei Jahre über einem Buch oder einem Autor verbringen mußt, bedeutet, daß du schlecht unterrichtet worden bist - man hätte dich lehren sollen, auf deine eigene Weise von einer Neigung zur nächsten zu lesen, du solltest lernen, deinem eigenen intuitiven Gespür im Hinblick auf das, was du brauchst, zu folgen: das ist es, was du hättest entwickeln sollen, nicht die Art, wie man andere Leute zitiert.'"
(Trotzdem, liebe Doris Lessing, war es mir in diesem Fall ein Bedürfnis und ein Vergnügen, "andere Leute" zu zitieren, nämlich Sie mit Ihrer klugen Kritikergläubigkeitskritik.)
aus dem 1971 verfassten Vorwort Doris Lessings zu ihrem 1962 erschienen Roman "Das goldene Notizbuch", hier Roman Fischer 1978
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