Donnerstag, 18. Februar 2016

Fort

Als sie am Morgen aufwachte, stellte sie fest, dass sie über Nacht gegangen war. Fort. Sie sprang aus dem Bett, riss sich den Schlafanzug vom Leib und betastete sich von oben bis unten, drehte und wendete sich vorm Spiegel. Ihre Haut war intakt. Dennoch war sie sich entschlüpft. Sie warf sich den Morgenmantel über und lief durch den Flur zur Haustür, diese stand offen. „Haaallooo!“, rief sie in den klammen Morgen hinaus, ihre Stimme noch belegt vom Schlaf und den Dialogen im Traum. Und noch einmal: „Haaallooo!“, schon etwas zögerlicher. „Hallo!“, antwortete der Nachbar von gegenüber und winkte ihr zu. Irritiert winkte sie zurück. Auf einmal spürte sie die Kälte der Fliesen an den nackten Füßen. Sie schloss die Tür, nahm die Zeitung aus dem Briefkasten und ging in die Küche, um sich einen Kaffee zu kochen. Sie zog den Rolladen hoch und setzte sich mit ihrer Tasse an den Tisch, die Hände um das heiße Porzellan geschlossen. Draußen vorm Fenster lag ungerührt der neue Tag. Lebendig und kühl. Und dort draußen bewegte sie sich fort. Fort von ihr. Sie schlug die Zeitung auf. Da war die ganze Welt auf dünnem Papier. Eine grausame Welt, in der man sich leicht abhanden kommen konnte.

Montag, 8. Februar 2016

All das. (Psst III)

Du. Ich. Die anderen. Die vielen. Das Viele. All das. Das alles. Du. Ich. Und wir. All inclusive. Auch die Ruhe. Auch der Sturm. Einatmen. Ausatmen. All das. Zeit. Und Raum. Tag. Und Nacht. Frühling. Sommer. Herbst. Und

Winter


Sonntag, 7. Februar 2016

Auweia oder: Zack, Stempel drauf

Echt extrem, das alles. Was genau? Die ganze Stimmung. Die Lautstärke. Die Positionierungen. Die Gegensätze. Das Be- und Verurteilen. Die Lagerbildung. Die Angst. Das Geschrei. Das Verstummen. Das alles.
Jede Äußerung, scheint mir, wird im Schnellverfahren daraufhin untersucht, in welche Kategorie sie und ihr Absender einzuordnen sind. Und dann: Zack, Stempel drauf und Zack, ab in die Schublade. Von denen gibt es nur zwei: eine linke und eine rechte. Manchmal wird man umsortiert, evtl. sogar mehrmals, sorgt für Verwirrung (Hä? Gestern hat sie noch gesagt, sie will mit dem Islam nichts zu tun haben, heute sagt sie Refugees welcome, und zwar ohne Obergrenze. Gestern ist sie noch für Frauenrechte eingetreten, heute wettert sie gegen #ausnahmslos. Ja was denn nun?)
Leute! Schon mal was von Komplexität gehört? Von Differenzierung? Von Sowohl als auch statt Entweder oder? (Ich weiß, das sagte ich bereits an anderer Stelle, evtl. sogar mehrmals. Das muss so.) 
Kann es vielleicht sein, dass sie für einen grundsätzlich scharfen kritischen Umgang mit den Religionen ist, und zwar mit allen? (Achsooooo!)
Kann es vielleicht sein, dass sie sich grundsätzlich einer humanistischen Haltung verpflichtet fühlt, weil sie diese als einzige für geeignet erachtet, ein friedliches und freiheitliches Miteinander zu gewähren? (Achsooooooo!)
Kann es vielleicht sein, dass sie alle Menschenrechte als gleich wichtig erachtet und deshalb beispielsweise die Gleichberechtigung nicht der Meinungsfreiheit unterordnet oder umgekehrt sondern sie nur miteinander verwirklicht sieht? (Ahaaaaaaa!)
Kann es vielleicht sein, dass sie nicht so schnell darin ist, sich eine Meinung festzuzurren, weil sie gerne jedes einzelne Detail anhand der oben genannten Kriterien überprüft? Dass sie Zeit zum Denken braucht, zum Nachdenken, dies gerne auch laut tut, weil es dann klarer wird, es gerne auch öffentlich tut, immer in der Hoffnung auf andere, die nicht gleich mit Zack, Stempel drauf, Zack, Schublade zu reagieren, sondern die ebenso nachdenken, abwägen, gerne in den Dialog treten zwecks eines gemeinsamen Lernprozesses. Und die währenddessen erstmal helfen, wo Hilfe nötig ist, einfach aus dem Grund, weil sie nötig ist ...
Ich bin es so müde, dieses: Zack, Türe zu. Zack, Faust auf den Tisch. Zack, Dagegen demonstriert. Zack, Aktionsbündnis gebildet. Zack, Denkverbot erteilt. Zack, Zäune nach außen errichtet. Zack, Zäune im Inneren errichtet. Zack, Stempel drauf. Zack, Schublade zu.
Erst wird scharf beobachtet, dann wird scharf geschossen, erst mal nur mit Worten und Blicken (Wenn die töten könnten! Auweia.)
Man traut sich kaum noch ...
Dabei müsste man dringend ...



Freitag, 5. Februar 2016

Wir schaffen das (Humanität statt Küchenphilosophie)

Vor vielen Jahren, als meine Kinder noch klein waren und meine Mutter noch lebte, hatte ich mit ihr ein Gespräch darüber, ob man Babys schreien lassen darf/soll oder nicht. Ich habe meine Kinder nicht schreien lassen, bin nachts immer aufgestanden, auch wenn ich müde und genervt war. Allerdings haben beide sehr früh durchgeschlafen und mein Sohn hat, nachdem die Koliken der ersten drei Monate überwunden waren, sowieso kaum noch geschrien. Meine Tochter war da anders, fordernder. Ob die grundlegende Zufriedenheit der beiden es mir leicht gemacht hat oder ob Ursache und Wirkung umgekehrt liegen, kann ich nicht mit Sicherheit sagen (obwohl ich klar zu einer Richtung tendiere). Inzwischen sind die beiden 25 und 23 Jahre alt, die Kleinkindphase erscheint mir im Rückblick sehr kurz. Wie überhaupt die ganze Kindheit mit all ihren Entwicklungsschritten.
Worauf ich hinaus will: Meine Mutter legte mir als Schwäche aus, dass ich die Kinder nicht schreien ließ. Nicht schreien lassen konnte, wie sie es ausdrückte. Sie hingegen hatte es gekonnt. Sie ließ mich und später meine Schwester schreien. Wenn wir abends gefüttert und gewickelt waren, ging es ins Bett und dann hieß es schlafen. Schrien wir, behielt sie die Nerven und wartete, bis wir uns von selbst beruhigt hatten. Dass sie ihr Verhalten damals als Stärke betrachtete, ließ sie mein Verhalten als Schwäche auslegen. Ich besaß wohl nicht die gleiche Nervenstärke wie sie. Ihr war mit Sicherheit nicht bewusst, dass ihre Methode ein Abkömmling der sog. schwarzen Pädagogik war. 
„Kinder würden nur aus Langeweile schreien und hätten durchschaut, dass sie mit dem Schreien erreichen, dass sich Mutter oder Vater sofort um sie kümmern. Zudem hätte es noch niemandem geschadet, wenn er als Kind eine Zeit lang hätte schreien müssen.“ *
Karl Heinz Brisch, Chef der Psychosomatik am Haunerschen Kinderspital der Universität München, sagt: 
"Nach wie vor haben Eltern in Deutschland Angst, ihr Kind zu verwöhnen. Dabei weiß man, dass Kinder auf lange Sicht länger schreien, wenn sie erst warten müssen, anstatt dass die Eltern prompt auf ihr Schreien reagieren." *
Und Florian Heinen, Chef der Abteilung für Neuropädiatrie und kindliche Entwicklung am Haunerschen Kinderspital, ergänzt:
"Schreien Kinder, ist das ein für Eltern deutlich zu lesendes Signal: Hier braucht es Achtsamkeit, Behutsamkeit und natürliches Interesse - schlicht Liebe. Was es nicht braucht, ist Verunsicherung der Eltern und Küchenpsychologie. Das hat nur negative Folgen." *
Noch einmal Karl Heinz Brisch:
"[Kinder, die man schreien lässt,] lernen früh, auf ein Notfallprogramm im Gehirn umzuschalten, das analog dem Totstellreflex bei Tieren dem Überleben in absoluter Todesbedrohung dient." *
Und Fabienne Becker-Stoll, Direktorin des Staatsinstituts für Frühpädagogik:
"Kinder brauchen verlässliche körperliche Nähe, um seelische Grundbedürfnisse zu befriedigen und Stress abzubauen. Nur dann können sie sichere, vertrauensvolle Bindungen zu den Eltern und später zu anderen Menschen aufbauen. Wir würden gerne elterliches Selbstvertrauen verordnen, nicht elterliche Überreflexion." *
Ein solches Selbstvertrauen ist dringend nötig im Dschungel der unzähligen Erziehungsratgeber und im Konkurrieren der Pädagogen (und leider auch Eltern) um die besten Methoden. Ein blühendes Geschäft ist das, was zu einem großen Teil weder Kind noch Eltern hilft, sondern im Gegenteil Unsicherheit und Schuldgefühle befördert. Selbstvertrauen ist nötig, Liebe zum Kind, die Einsicht in den Sinn säuglings- und kleinkindhafter Ausdrucksmöglichkeit (Schreien). Einem Kind zu geben, was es braucht, bedeutet nicht, es zu verhätscheln und zu verweichlichen, sondern es im Gegenteil zu einem starken, vertrauenden Menschen zu erziehen. Das hat nichts mit Schwäche zu tun, sondern mit Stärke und Verantwortungsbewusstsein. Und: Es ist zu schaffen. Am besten (und für manche nur dann), wenn diese Haltung auch von außen gestützt und gefördert wird.

Ich bin damals mit meiner Mutter auf keinen gemeinsamen Nenner gekommen. Nicht schlimm. Ich glaube nicht, dass ich einen irreparablen Schaden davongetragen habe, weil meine Eltern mich schreien ließen. Und wenn doch, ist er inzwischen, auch dank diverser Therapien halbwegs behoben. Ich glaube ebensowenig, dass meine Kinder, nur weil wir sie nie schreien ließen, die glücklichsten und zufriedensten Menschen der Welt sind. Dazu gehört mehr.
Ich glaube aber, dass es eine Stärke ist und nichts anderes, wenn man sich dem Schwächeren zuwendet, wenn man sich kümmert und Sorge trägt. Es ist ein Stärke, keine Schwäche, eine Fähigkeit, keine Unfähigkeit, und es bewirkt etwas Gutes.
Es ist hingegen keine Stärke, wenn man sich dem Bedürfnis des Schwächeren verschließt, wenn man dicht macht und darauf wartet, dass der Hilferuf verhallt. Wenn man glaubt, das Problem erledige sich dann von selbst. 
Und wo genau liegt eigentlich das Problem? Auf der Seite dessen, der in seiner Ruhe gestört wird, oder auf der Seite dessen, der Hilfe benötigt und sie berechtigt einfordert bzw. erbittet? Und wieso ist diese Konfrontation überhaupt ein Problem? Ist es nicht zunächst einmal einfach eine Begegnung? Etwas, das das Leben an möglichen Ereignissen bereithält? Entsteht das Problem in diesem Fall nicht erst dann, wenn die Hilfe verweigert wird und damit auf der einen Seite ein unmenschliches Verhalten als Stärke propagiert und etabliert wird und auf der anderen Seite ein Hilfesuchender frustriert und in seinem Vertrauen verletzt zurückbleibt, mit unabsehbaren Folgen für sein Leben und seine Persönlichkeit? Was macht das mit uns Menschen, wenn wir in unserem Menschsein herausgefordert sind? Wie verhalten wir uns, um Menschen zu bleiben?

Man sieht vielleicht spätestens jetzt, dass es mir hier um mehr geht als um schreiende Säuglinge und verunsicherte Eltern. Ich wollte hier weder Erziehungstipps verteilen noch einen pädagogischen Appell schreiben. Mir fiel ganz einfach im Zusammenhang mit der Flüchtlingssituation das Gespräch mit meiner Mutter wieder ein. Unsere entgegengesetzten Definitionen dessen, was Stärke und was Schwäche ist. Ich musste an Angela Merkel und ihren Satz „Wir schaffen das.“ denken. Daran, wie unterschiedlich Politiker und Bürger reagieren. Auf wie gegensätzliche Weise sie Stärke zeigen. Wie eigentlich jeder meint, es sei zu schaffen, damit aber weder dasselbe Ziel noch denselben Weg im Auge hat. Die einen fühlen sich gestört und bedroht, wollen ihre Ruhe und ihren Frieden (definiere Frieden!) sichern und ihre (vermeintliche!) Stärke im Abschotten und sogar Abwehren zeigen, die anderen wollen auch den Frieden und sehen diesen zu erreichen und verwirklichen, indem sie friedlich handeln, sich selbst als Menschen im humanitären Sinne erweisen und dem Gegenüber die Zuwendung und Hilfe gewähren, die er/sie erbittet und benötigt.

Noch einmal zurück zu dem schreienden Säugling: Ich gehe nicht vor ihm in die Knie, ordne mich nicht unter, gebe mich und meine Prinzipien nicht auf, wenn ich auf sein Schreien reagiere (das immer notwendiger Ausdruck eines berechtigten Bedürfnisses ist). Ich folge im Gegenteil meinem Prinzip, nämlich dem der Humanität. Und ich tue dies aus einer menschlichen Stärke heraus, selbstbewusst.
Hier hinkt der Vergleich natürlich, denn wir haben es bei den Flüchtlingen (abgesehen von ihren Kindern) mit erwachsenen Menschen zu tun. Wir sind nicht ihre Erziehungsberechtigten (!!!). Wir können sie nicht wie Kinder behandeln. Aber sie bitten um Hilfe, und diese haben wir zu gewähren, so lange und in dem Maß, wie es nötig ist. Keiner verlangt von uns, dafür unsere Prinzipien zu verraten (welche Prinzipien?), uns klein zu machen. Nichts spricht dagegen, dass wir auch offensiv mit ihnen diskutieren, wenn es um die Art des Umgangs miteinander geht. Solche Diskussionen führe ich schließlich auch mit Nachbarn und Kollegen. Mir muss nicht gefallen, was jemand tut, sagt, glaubt. Ich kann ihn lassen, solange er mich ebenfalls lässt. So einfach ist das. Und so schwer. Mal ehrlich: Dieses Problem beschäftigt uns nicht erst, seit die Flüchtlinge zu uns kommen. Familie, Nachbarn, Kollegen – Herausforderung genug, was das Prinzip „Leben und leben lassen“ betrifft. Jetzt haben wir eine erweiterte Herausforderung. 
Wir sind Menschen. Wir sind lernfähig.


* Alle Zitate entstammen dem Artikel „Liebe statt Küchenphilosophie“ aus der Süddeutschen Zeitung vom 4. Juni 2014.