Ein Satz Erinnerung (autofiktionale Kurzprosa)

1 Pampelmuse

Der Duft einer Grapefruit erinnert mich an die Zeit, als sie noch Pampelmuse hieß und zum täglichen Frühstück meiner Großmutter gehörte, neben Pumpernickel und frisch gebrühtem Bohnenkaffee, dessen Aroma mich aus dem Ehebett lockte, in dem ich in der Besucherritze geschlafen hatte, eingemummelt in meinen Schlafsack, mit dem ich in die Küche hüpfte, wo Großvater mir durch die vom Schlaf zersausten Haare wuschelte, mich auf einen Stuhl hob, ein Frühstücksbrettchen und ein Messer vor mich hinlegte, die er mit dem Brotkorb, der Butter, Honig und selbstgemachter Marmelade umringte, und mir warmen Kakao in den Becher schenkte, über dessen Rand später mein Blick der Großmutter folgte, wie sie die geblümte Wachstuchtischdecke mit einer Hand in die andere leer fegte, dann die Balkontür öffnete, hinaustrat und die Brotkrumen über die Brüstung in den Hof warf, in dessen Mitte sich bereits die Spatzen versammelt hatten, in Erwartung der Fütterung und um mit ihrem Gezwitscher die Komposition des Morgens nach einem Tag und einer Nacht bei meinen Großeltern vollkommen zu machen.

(08.02.2012) 



2 Sandkasten

Meine Schwester und ich waren drei und fünf Jahre alt, als wir einmal einen Nachmittag allein zuhause verbringen mussten, ausgestattet mit Spielsachen, Papier und Buntstiften und der Ermahnung, im Haus zu bleiben, was bedeutete, dass wir nicht draußen im Garten und im Sandkasten spielen konnten, worauf uns nichts anderes übrig blieb, als den Sand mit unseren Eimerchen aus der Kiste ins Kinderzimmer zu transportieren - was ein mühsames, aber lohnendes und lustiges Unterfangen war -, ihn dort auf den Teppich zu häufen, Wasser hinzuzufügen und zahllose kleine Kuchen zu backen, die wir auf dem Wohnzimmertisch anrichteten, voller Vorfreude auf die Rückkehr unserer Eltern und deren garantierten Stolz auf ihre selbstständigen, einfallsreichen und gehorsamen Töchter, die sich darüberhinaus weder gezankt noch geprügelt hatten, was während unserer Kindheit eine absolute Seltenheit darstellte.

(14.02.2012)



3 Prinzessin vom anderen Stern

Ich war acht Jahre alt und besuchte die dritte Klasse der Grundschule, als ich meinen Freundinnen Inge und Marion, nachdem ich sie absolute Geheimhaltung hatte schwören lassen, anvertraute, dass ich in Wahrheit eine Prinzessin vom anderen Stern wäre und nur für begrenzte Zeit in ihrer Stadt (Hagen/Westfalen) verweilte, nämlich so lange, bis mein Vater seinen Forschungsauftrag auf ihrem Planeten erfüllt hätte, in dem es aber um derart geheime Sachen ginge, dass ich ihnen leider nichts darüber erzählen könnte, wobei die Tatsache, dass ich eine Prinzessin und noch dazu von einem anderen Stern war, schon Anlass genug zur Aufregung bot, jedenfalls, nachdem die Überzeugung vollends gelungen war, und die beiden immer mehr Einzelheiten hören wollten, welche zu erfinden ich aber irgendwann müde wurde, sodass ich, nachdem sich zusätzlich zu der Ermüdung noch Gewissensbisse eingestellt hatten, die Sache aufklärte, oder jedenfalls aufzuklären versuchte, was sich als überaus schwierig erwies, da Inge und Marion inzwischen derart überzeugt waren, es wahrscheinlich auch gerne sein wollten, dass sie meinten, ich müsste keinen Rückzieher machen, sie könnten ein Geheimnis wahren, ich sollte ihnen vertrauen und mir keine Sorgen machen, schließlich wären wir beste Freundinnen, worauf mich mehr und mehr das Gefühl beschlich, es könnte etwas dran sein, ich wäre vielleicht wirklich eine Prinzessin vom anderen Stern, deren Gehirn aus Sicherheitsgründen so gepolt worden war, dass sie sich für eine Erdbewohnerin hielt, die Märchen erfand.
(Bis zum heutigen Tag weiß ich nicht ...)

(31.03.2012)



4 Peter und Marion

Warum sie mir gerade jetzt wieder einfallen, weiß ich nicht, oder doch, schließlich war gerade Ostern, überall sind noch Hasenspuren zu finden, direkt neben meinem Laptop hockt ein unversehrtes Exemplar seiner Gattung, eingehüllt in Goldfolie, ein rotes Schleifenband mit Glöckchen um den Hals, also ist es gar nicht so verwunderlich, dass ich in diesem Augenblick an Peter und Marion denken muss, die zwei Hasen (richtiger: Kaninchen), die während meiner Kölner Kindheit ein Jahr lang zur Familie gehörten, genauer: so lange, bis wir in den Winterurlaub fuhren, in ein Ferienhäuschen in der verschneiten Eifel, und niemanden hatten, der sich um Peter und Marion kümmern konnte, mitnehmen ging nicht, aber unsere Eltern hatten eine Lösung gefunden, nämlich einen Bauernhof, der auch Kleintiere hielt und sich ihrer annehmen würde, und zwar, wie uns während der Ferien mitgeteilt wurde, auch über unseren Schneeaufenthalt hinaus, da die lieben Hasen (richtiger: Kaninchen) es draußen auf dem Land doch viel besser hatten als bei uns in der Stadt mit der begrenzten Auslaufmöglichkeit, was meiner Schwester und mir einleuchtete, schließlich liebten wir unsere Tiere und wollten nur ihr Bestes, so dass wir uns bereits während des Ferienaufenthaltes mit dem Verlust abfanden und uns auch nichts dabei dachten, als es bereits am zweiten Tag, nach Schneeballschlacht und Schlittenfahrt, zum Mittagessen ein leckeres Hirschgulasch gab. 

(11.04.2012)



5 Gold

Ich erinnere mich an eine Zeit, die vorüberging wie alle anderen, aber die, als sie war, eine Kugel zu sein schien, eine Kugel aus geschmolzenem Gold, darin eine nicht enden wollende Zahl Samstagnachmittage, Badewannen, gefüllt mit Schaumgebirgen, Tauchwettbewerbe, verschrumpelte Finger und Zehen, ein blauer Frotteebademantel mit tiefen Taschen, die Hände der Mutter, die sanft die Haare aus dem Gesicht streichen, während ein warmer Luftstrom aus dem Föhn die Kopfhaut massiert und in den Ohren kitzelt, der Platz auf der Couch mit dem goldbraunen Cordbezug, auf den ich mich mit angezogenen Füßen kuschelte, in Erwartung des Grießbreis mit der Butterpfütze und der Vorabendserie, deren Titelmelodie ich immer noch auswendig kenne, und ob das alles so war, wie ich es erinnere, so golden, könnte ich nicht beschwören, aber es ist im Laufe der Jahre so geworden, und in dieser Bearbeitungsmöglichkeit im Nachhinein liegt eine Freiheit, die derjenigen der Wahlmöglichkeit im Vorhinein nicht unähnlich ist, eine Freiheit, die lediglich genommen werden will, denke ich mir, und setze auf meine heutige Einkaufsliste ein Päckchen Grieß.

(16.04.2012) 



6 Hände und Himmelshöhe 

Wie er mich hoch in die Luft warf und als jauchzendes Bündel wieder auffing, wie er mich auf seinen Schultern reiten ließ in gemächlichem Trab und wildem Galopp, dass meine Zöpfe flogen, wie er mich auf gefährlich hohe Mauern hob, damit ich dort entlang balancieren konnte mit hoheitsvollem Blick auf die unter mir liegende Welt, seine Hände sichernd zu mir emporgereckt, wie er die Schaukel am höchsten der starken Äste aufhängte, damit ich weit hinauf in den Himmel schwingen konnte, um mit den Zehenspitzen die Wolken anzutippen, wie er mir Gutenachtgeschichten vom Fliegen erzählte, damit ich's im Traum ausprobieren konnte, wie er mich durch das große Teleskop schauen ließ und mich lehrte, nach den Sternen zu greifen, all das erinnere ich wieder, nachdem ich es mir so lange verboten hatte, weil mein Vater in der Schublade "der Böse" und meine Mutter in der Schublade "die Arme" steckte, denn ich hatte eine Entscheidung getroffen, für die ich viel zu jung war und die zu revidieren mich einen langen Entwicklungsprozess kostete, der sich gelohnt hat, weil seit Jahren Stück für Stück Erinnerungen zurückkommen, deren schönste mit zwei Händen zu tun haben, die mich halten und emporheben, zwei Händen, die als Kind voller Vertrauen ergriffen und festgehalten zu haben mich längst nicht mehr reut, im Gegenteil. 

(09.06.2012)