Nah am November
halten wir Ausschau nach
früheren Farben
spähen ins Licht
dort kreuzen Raben vor
milchweißem Himmel
hier träufelt Wehmut uns
Prismen ins Haar
spannen wir Bögen aus
Ruß und Papier
schöpfen wir Glut in den
fröstelnden Raum
unter der herbstlichen Haut
Montag, 31. Oktober 2011
Sonntag, 30. Oktober 2011
Eine Stelle in mir (Loses Blatt #33)
Da ist eine Stelle in mir, die hüllt sich in ein stolzes wortkarges Glück. Ich glaube, dies ist die Stelle, die mir am allermeisten gehört.
Freitag, 28. Oktober 2011
Wir nehmen Fahrt auf
Luft!
Zuerst hatte sie sämtliche Zimmertüren ausgehängt und in die Garage verbannt. Schließlich auch die Haustür, was einfacher war, als sie vermutet hatte. Dennoch brauchte sie anschließend eine Verschnaufpause. Sie ließ sich auf der Vortreppe nieder, mitten in die Blicke der Nachbarn hinein, und lächelte. Niemand würde sie ansprechen, das hatten sie auch damals nicht getan, als sie ihre Fenster schwarz angemalt hatte. Und auch nicht im Jahr darauf, als sie ihre Bücherregale in den Vorgarten getragen hatte. Trotz des Schildes mit der Aufforderung "Bitte bedienen Sie sich!" waren nur die Kinder gekommen, hatten ein paar mal verstohlen zum Haus gespäht, um dann hastig ein oder zwei Bücher aus einem der Regale zu ziehen, die sie später ausnahmslos wiederbrachten, sicher auf Geheiß der Eltern.
Während sie mit den Fingern im Gras spielte, das in kleinen Büscheln zwischen den Stufen hervorlugte, kam ihr die Idee mit den Kleidern. Sie sprang auf, lief ins Schlafzimmer und riss die Türen des Kleiderschranks auf: Geschichte auf Bügeln, farblich sortiert, ein Regenbogen abgetragener Jahre. Eins nach dem anderen nahm sie die Stücke heraus, mit einer zärtlichen und einer harten Hand, und drapierte sie an den Schnüren, die kreuz und quer an der Decke entlang gespannt waren. Die unzähligen Notizzettel, die dort bis zum Jahr der geschwärzten Fenster gehangen hatten, stammten aus einer Zeit der letzten Hoffnung, des zusammengenommenen Mutes. Längst waren sie zu Asche geworden und in einer Urne im Park vergraben, an einer Stelle, die sie nicht mehr aufsuchte.
Die Kleider flatterten und bauschten sich im Luftzug, der durch die Türöffnungen fuhr. Die Segel sind gesetzt, dachte sie und lächelte wieder, diesmal in den Wind hinein. Sie hörte die Vögel im Garten und stellte sich vor, es seien Möwen. Gischt spritzte ihr ins Gesicht, mit der Zunge fing sie einen Tropfen aus dem Mundwinkel und schmeckte das Salz. Wir nehmen Fahrt auf, sagte sie leise, wir nehmen Fahrt auf.
Zuerst hatte sie sämtliche Zimmertüren ausgehängt und in die Garage verbannt. Schließlich auch die Haustür, was einfacher war, als sie vermutet hatte. Dennoch brauchte sie anschließend eine Verschnaufpause. Sie ließ sich auf der Vortreppe nieder, mitten in die Blicke der Nachbarn hinein, und lächelte. Niemand würde sie ansprechen, das hatten sie auch damals nicht getan, als sie ihre Fenster schwarz angemalt hatte. Und auch nicht im Jahr darauf, als sie ihre Bücherregale in den Vorgarten getragen hatte. Trotz des Schildes mit der Aufforderung "Bitte bedienen Sie sich!" waren nur die Kinder gekommen, hatten ein paar mal verstohlen zum Haus gespäht, um dann hastig ein oder zwei Bücher aus einem der Regale zu ziehen, die sie später ausnahmslos wiederbrachten, sicher auf Geheiß der Eltern.
Während sie mit den Fingern im Gras spielte, das in kleinen Büscheln zwischen den Stufen hervorlugte, kam ihr die Idee mit den Kleidern. Sie sprang auf, lief ins Schlafzimmer und riss die Türen des Kleiderschranks auf: Geschichte auf Bügeln, farblich sortiert, ein Regenbogen abgetragener Jahre. Eins nach dem anderen nahm sie die Stücke heraus, mit einer zärtlichen und einer harten Hand, und drapierte sie an den Schnüren, die kreuz und quer an der Decke entlang gespannt waren. Die unzähligen Notizzettel, die dort bis zum Jahr der geschwärzten Fenster gehangen hatten, stammten aus einer Zeit der letzten Hoffnung, des zusammengenommenen Mutes. Längst waren sie zu Asche geworden und in einer Urne im Park vergraben, an einer Stelle, die sie nicht mehr aufsuchte.
Die Kleider flatterten und bauschten sich im Luftzug, der durch die Türöffnungen fuhr. Die Segel sind gesetzt, dachte sie und lächelte wieder, diesmal in den Wind hinein. Sie hörte die Vögel im Garten und stellte sich vor, es seien Möwen. Gischt spritzte ihr ins Gesicht, mit der Zunge fing sie einen Tropfen aus dem Mundwinkel und schmeckte das Salz. Wir nehmen Fahrt auf, sagte sie leise, wir nehmen Fahrt auf.
Mittwoch, 26. Oktober 2011
Mantel und Schlüssel
Wenn man über viele Jahre hinweg nackt war bis auf die Knochen, den Wohlmeinenden zur Schau gestellt, den Wissenden zur Begutachtung überreicht, wenn man durchleuchtet war und dies schließlich sein wollte, da es so einfacher war, wenn man gefroren hatte unter kühlen Augen und keine unvermessene Stelle mehr am Leib hatte, wenn jede Erhebung, jede Vertiefung von harter Hand erforscht und geebnet war, wenn man so von innen nach außen gestülpt war zu seinem eigenen Besten, dessen Bekanntschaft zu machen aber nicht erlaubt war, dann wünscht man sich nichts mehr als einen Mantel und einen Schlüssel zu einem Schloss an einer Tür zu einem Raum in einem Selbst, das nicht entäußert ist, das sich der regelrechten Nabelschau verweigert, das Anwesenheit und Inmittenheit sichselbstentsprechend definiert und ausprobiert, ein Selbst, das sich bedeckt hält und mit Lust verhüllt, an seiner Choreographie der Entblößung bis zum Ende zitternd schreibt und das sich nackt vorläufig nur der Nacht, der Liebe und dem Tode zeigt.
Dienstag, 25. Oktober 2011
Asyl
Gepackt und gebündelt
warst du
in dich gestülpt
und geschlossen
wurde hohe Zeit
für Atem
und Losigkeiten
aller Art
streutest dich aus
lagst im Licht
unter glühenden Augen
branntest vor Scham
wurdest Zorn
wurdest Drang
wurdest Wunsch
batest die Nächte der Welt
um Asyl
warst du
in dich gestülpt
und geschlossen
wurde hohe Zeit
für Atem
und Losigkeiten
aller Art
streutest dich aus
lagst im Licht
unter glühenden Augen
branntest vor Scham
wurdest Zorn
wurdest Drang
wurdest Wunsch
batest die Nächte der Welt
um Asyl
Samstag, 22. Oktober 2011
Unumzäunt
Sie weiß etwas für sich allein
und schläft und wacht darüber
glaubt sich auch das
was sie noch nicht versteht
fasst sich in Mut
und lässt ihr Herz gebären
und hüten eine Liebe
unumzäunt
und schläft und wacht darüber
glaubt sich auch das
was sie noch nicht versteht
fasst sich in Mut
und lässt ihr Herz gebären
und hüten eine Liebe
unumzäunt
Freitag, 21. Oktober 2011
Wollen
Echt sein wollen
und wahr
auf ein Selbst stoßen wollen
im Innern
und im Äußern
sein wollen
wissen wollen
und staunen
träumen wollen
und planen
und tun
sorgen wollen
spielen
und lernen
und lassen
und bleiben
was da will in uns finden wollen
und was uns treibt
suchen wollen
und gehen
und ankommen
wiederholen wollen
überspringen wollen
weiter wollen
was ist und was wird wollen
und am Ende was war
wollen
und wahr
auf ein Selbst stoßen wollen
im Innern
und im Äußern
sein wollen
wissen wollen
und staunen
träumen wollen
und planen
und tun
sorgen wollen
spielen
und lernen
und lassen
und bleiben
was da will in uns finden wollen
und was uns treibt
suchen wollen
und gehen
und ankommen
wiederholen wollen
überspringen wollen
weiter wollen
was ist und was wird wollen
und am Ende was war
wollen
Donnerstag, 13. Oktober 2011
In Buchstabenkleidern (Loses Blatt #32)
Was da alles aufs Papier will und dann so schüchtern in gebügelten Buchstabenkleidern herumsteht und nicht mehr aus sich raus kann.
Freitag, 7. Oktober 2011
Aha, Tranströmer
Zugegeben, ich hatte bisher nichs von ihm, dem inzwischen
80jährigen Schweden Tomas Tranströmer gehört und gelesen. Was mir aber nicht
zum ersten Mal passiert mit einem Literaturnobelpreisträger (und das, obwohl
ich im Literaturgeschäft tätig bin. Tja ...).
Aber im Vergleich zu einigen früheren Entscheidungen des Komitees,
die für mich schwer nachvollziehbar waren - ganz abgesehen von der
wiederkehrenden Enttäuschung, dass Bob Dylan immer und immer noch nicht für die
unglaubliche Virtuosität seines Textschaffens ausgezeichnet wurde - im
Vergleich dazu also, finde ich die diesjährige Wahl, getroffen nach ästhetischen Gesichtspunkten, schlichtweg schön und im Sinne einer Balance auch wichtig.
Mir gefällt, was Tranströmer übers
Dichten sagt:
"Ich sehe ein Gedicht nicht als
eine Erklärung, sondern als eine neue Perzeptions- und Kommunikationsweise. Wie
in einem Bahnknotenpunkt, wo sich die Züge aus allen Richtungen treffen, gibt
ein Gedicht plötzlich einen neuen Kommunikationsknotenpunkt, von dem aus die
Wirklichkeit zwar nicht erklärt, aber in einer neuen Beobachtung gezeigt
wird."
Und mir gefällt, was er dichtet:
Der Adlerfels
Hinterm Glas des Terrariums
die Reptile
seltsam reglos.
Eine Frau hängt Wäsche auf
im Schweigen.
Der Tod ist windstill.
In der Tiefe des Bodens
gleitet meine Seele
schweigend wie ein Komet.
Über das Wenige, das meine Tageszeitung
zu Tranströmer weiß, hinaus finden sich im Netz mehrere empfehlenswerte Artikel, u.a. dieser:
Und nun werde ich mir, um nicht nur das über den Preisträger, sondern vor allem das von ihm Geschriebene zu lesen, folgenden Band besorgen:
Tomas Tranströmer, Sämtliche Gedichte, übersetzt von Hanns Grössel, Carl Hanser Verlag 1997, ISBN: 978-3446189614
Tomas Tranströmer, Sämtliche Gedichte, übersetzt von Hanns Grössel, Carl Hanser Verlag 1997, ISBN: 978-3446189614
Donnerstag, 6. Oktober 2011
Axel Sanjosé: Die Zeit, heißt es
"Die Zeit, heißt es,
aber es ist nur
der Wechsel des Lichts.
Einmal sahen wir Möwen:
Wir stellten uns das Meer vor.
Einmal sahen wir keine Möwen:
Wir stellten uns das Meer vor.
Gelassenheit
ist das Gegenteil
von Zeit.
Behandle das wie frischen Rosmarin."
aus: Für die mit der Sehnsucht nach dem Meer, Gedichte, versammelt von Joachim Sartorius, marebuchverlag 2008
Sonntag, 2. Oktober 2011
Höher, weiter
Wenn man über viele Jahre hinweg auf alles eine Antwort bekommen hat, häufig ungefragt, wenn der Geist unterfordert war und der Verstand vergewaltigt wurde, dann beginnt man, die Fragen zu lieben und etwas anderes zu suchen als Antworten, man stürzt sich auf Kompliziertes und Dinge, die man nicht auf Anhieb versteht, man verbittet sich Eingängiges und Erklärungen für weniger Eingängiges, man schaut immer eine Stufe höher, einen Schritt weiter, als der eigene, in Grenzen gehaltene Horizont reicht, man macht schmerzhafte Dehnungsübungen, um sich der Herausforderung des Fremden zu nähern, badet in dunklen Gewässern und springt hoch in die Luft, ohne zu wissen, wo man landen wird, man trainiert die verkümmerte Muskulatur seines Selbst und holt sich Blessuren, die schmerzen, die immer wieder die Begrenzung zeigen, aber auch die Kraft und die Möglichkeit eines tatsächlich eigenen Willens, man kehrt zurück in frühe Instinkte, die übersprungen wurden, verdeckt, aber nicht gelöscht, lässt sie Luft holen und sich ausbreiten, man nimmt sich seinen Hunger und seinen Durst und durchquert damit jede offen daliegende Welt, man staunt und wundert sich und liebt über alles die Vielfalt und ihre selbstverständliche Inanspruchnahme des Rechts auf Dasein und Ausdruck. Und man lässt sich nicht mehr bremsen.
Samstag, 1. Oktober 2011
Antonia S. Byatt: Das Buch der Kinder
"ANFÄNGE
[...]
Die Kinder mischten sich unter die Erwachsenen und sprachen mit ihnen. Die Kinder dieser Familien gegen Ende des neunzehnten Jahrhunderts waren anders als die Kinder vor und nach dieser Epoche. Sie waren weder Puppen noch kleine Erwachsene. Sie wurden nicht in Kinderstuben versteckt, sondern waren bei den Familienmahlzeiten anwesend, und ihre sich herausbildende Persönlichkeit wurde ernst genommen und ernsthaft erörtert, beim Abendessen und während langer Spaziergänge. Zugleich lebten die Kinder in dieser Welt ihr eigenes, weitgehend unabhängiges Leben als Kinder. Sie streiften durch Wälder und Wiesen, bauten sich Verstecke, erkletterten Bäume, jagten, fischten, ritten Ponys und fuhren Fahrrad, und alles ohne andere Gesellschaft als die anderer Kinder.
[...]
Die meisten Eltern dieser Glückskinder hatten selbst keine so glückliche Kindheit gehabt. Wenn sie sich selbst überlassen worden waren, dann weil sie vernachlässigt wurden oder für ihr späteres Leben abgehärtet werden sollten, nicht etwa weil Freiheit gut für sie war.
Die Freiheit sowohl der Eltern als auch der Kinder verdankte sich in vielerlei Hinsicht der gewissenhaften Arbeit von Dienstboten und selbstlosen Tanten, die in steiferen Zeiten altjüngferliche Schwestern gewesen wären.
Die Wellwoods machten den Eindruck, eine dieser umgänglichen und einnehmend komplizierten Familien zu sein."
aus: Antonia S. Byatt, Das Buch der Kinder, Roman Fischer 2011, aus dem Englischen übersetzt von der großartigen Melanie Walz
Hier eine Rezension, die mir - so skeptisch ich im Allgemeinen Rezensionen gegenüberstehe - sehr zusagt, denn sie stimmt mit meiner Lesart des Buches überein, ist also garantiert subjektiv ausgewählt, genau wie es sein soll.
Wiebke Hüster: Wie die gerechtere, bessere Welt verging
[...]
Die Kinder mischten sich unter die Erwachsenen und sprachen mit ihnen. Die Kinder dieser Familien gegen Ende des neunzehnten Jahrhunderts waren anders als die Kinder vor und nach dieser Epoche. Sie waren weder Puppen noch kleine Erwachsene. Sie wurden nicht in Kinderstuben versteckt, sondern waren bei den Familienmahlzeiten anwesend, und ihre sich herausbildende Persönlichkeit wurde ernst genommen und ernsthaft erörtert, beim Abendessen und während langer Spaziergänge. Zugleich lebten die Kinder in dieser Welt ihr eigenes, weitgehend unabhängiges Leben als Kinder. Sie streiften durch Wälder und Wiesen, bauten sich Verstecke, erkletterten Bäume, jagten, fischten, ritten Ponys und fuhren Fahrrad, und alles ohne andere Gesellschaft als die anderer Kinder.
[...]
Die meisten Eltern dieser Glückskinder hatten selbst keine so glückliche Kindheit gehabt. Wenn sie sich selbst überlassen worden waren, dann weil sie vernachlässigt wurden oder für ihr späteres Leben abgehärtet werden sollten, nicht etwa weil Freiheit gut für sie war.
Die Freiheit sowohl der Eltern als auch der Kinder verdankte sich in vielerlei Hinsicht der gewissenhaften Arbeit von Dienstboten und selbstlosen Tanten, die in steiferen Zeiten altjüngferliche Schwestern gewesen wären.
Die Wellwoods machten den Eindruck, eine dieser umgänglichen und einnehmend komplizierten Familien zu sein."
aus: Antonia S. Byatt, Das Buch der Kinder, Roman Fischer 2011, aus dem Englischen übersetzt von der großartigen Melanie Walz
Hier eine Rezension, die mir - so skeptisch ich im Allgemeinen Rezensionen gegenüberstehe - sehr zusagt, denn sie stimmt mit meiner Lesart des Buches überein, ist also garantiert subjektiv ausgewählt, genau wie es sein soll.
Wiebke Hüster: Wie die gerechtere, bessere Welt verging
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