Auf Zimtschultern trägt sie
ein Lächeln durch den Tag
vernäht die Zeit
mit Zuckerfäden
streut Himbeersonnenröte
unter jeden Schritt
dann taucht sie ihre Hände
in ein Lied und lauscht
den Grautönen der Nacht
spricht mit dem Wind
der webt ein Kleid für sie
aus Schatten
sie silbert durch die Welt
haucht Lungenschrift
auf Salzpapier
und hinterlässt dem Mond
ins Meer gemeißelte
Verschweigungen
(24.03.2011)
2 Sichselbst(kritisch)
Sie pirscht sich an
den Tod heran
fürs Leben hat sie
manchmal nur
ein Schulterzucken
müde Scham und
tröpfelnde Lust
mit Wut kehrt sie
den Jammer vor die Tür
der Schrei muss auf die Bank
wie hält man das bloß aus
fragt sie
pflückt im Vorbeigehn
eine Blume
die nichts weiß
und alles glaubt
ach sagt sie ach
das Klagen war so schön
das Wüten tat so gut
das Lieben ist so schwer
sie gräbt sich selbst
aus ihrer Haut heraus
schlägt ihre Zähne
in die Zeit
klagt ach
dem Weg dem Grün dem Fels
verwandelt euch
in was ihr wollt
ich werde werde werde
die niemand ist als ich
und Welten stürzen
über ihre Lippen
in den Teich
der nichts trägt
als ihr Bild
(14.08.2011)
3 Unumzäunt
Sie weiß etwas für sich allein
und schläft und wacht darüber
glaubt sich auch das
was sie noch nicht versteht
fasst sich in Mut
und lässt ihr Herz gebären
und hüten eine Liebe
unumzäunt
(22.10.2011)
4 Wir nehmen Fahrt auf
Luft!
Zuerst hatte sie sämtliche Zimmertüren ausgehängt und in die Garage verbannt. Schließlich auch die Haustür, was einfacher war, als sie vermutet hatte. Dennoch brauchte sie anschließend eine Verschnaufpause. Sie ließ sich auf der Vortreppe nieder, mitten in die Blicke der Nachbarn hinein, und lächelte. Niemand würde sie ansprechen, das hatten sie auch damals nicht getan, als sie ihre Fenster schwarz angemalt hatte. Und auch nicht im Jahr darauf, als sie ihre Bücherregale in den Vorgarten getragen hatte. Trotz des Schildes mit der Aufforderung "Bitte bedienen Sie sich!" waren nur die Kinder gekommen, hatten ein paar mal verstohlen zum Haus gespäht, um dann hastig ein oder zwei Bücher aus einem der Regale zu ziehen, die sie später ausnahmslos wiederbrachten, sicher auf Geheiß der Eltern.
Während sie mit den Fingern im Gras spielte, das in kleinen Büscheln zwischen den Stufen hervorlugte, kam ihr die Idee mit den Kleidern. Sie sprang auf, lief ins Schlafzimmer und riss die Türen des Kleiderschranks auf: Geschichte auf Bügeln, farblich sortiert, ein Regenbogen abgetragener Jahre. Eins nach dem anderen nahm sie die Stücke heraus, mit einer zärtlichen und einer harten Hand, und drapierte sie an den Schnüren, die kreuz und quer an der Decke entlang gespannt waren. Die unzähligen Notizzettel, die dort bis zum Jahr der geschwärzten Fenster gehangen hatten, stammten aus einer Zeit der letzten Hoffnung, des zusammengenommenen Mutes. Längst waren sie zu Asche geworden und in einer Urne im Park vergraben, an einer Stelle, die sie nicht mehr aufsuchte.
Die Kleider flatterten und bauschten sich im Luftzug, der durch die Türöffnungen fuhr. Die Segel sind gesetzt, dachte sie und lächelte wieder, diesmal in den Wind hinein. Sie hörte die Vögel im Garten und stellte sich vor, es seien Möwen. Gischt spritzte ihr ins Gesicht, mit der Zunge fing sie einen Tropfen aus dem Mundwinkel und schmeckte das Salz. Wir nehmen Fahrt auf, sagte sie leise, wir nehmen Fahrt auf.
(28.10.2011)
5 Übermut
Manchmal
wenn die Kettenhunde schlafen
folgt sie dem Pflasterweg zum Tor hinaus
und tritt - voll Übermut -
auf jede Fuge
(19.11.2011)
6 Was im Winter würde
Einmal würde einer sein Versprechen halten. Er würde sich Winter nennen und eine Bank mitbringen. Auf diese Bank würde sie sich setzen, still sein und warten. Schnee würde fallen und sich auf ihre Schultern legen wie ein Arm, und sie würde weich werden, zum ersten Mal weich werden unter der Berührung eines Arms und es zum ersten Mal aushalten, weil er ihr nicht die Haut verbrennen würde wie dieser andere Arm, und sie würde sich nicht beugen, zum ersten Mal nicht beugen unter dem Gewicht eines Arms, sondern sich hineinschmiegen, weil er sie nicht erdrücken würde wie dieser andere Arm. Sie würde die Augen schließen und bleiben. Bleiben würde sie unter diesem Arm, der sich um ihre Schultern legen würde wie frisch gefallener Schnee. Sie würde seine Wärme spüren und seine Sanftheit, und sie würde auf dieser Bank sitzen bleiben und still sein im Arm des einen, der sich Winter nennen und sein Versprechen halten würde.
(09.12.2011)
7 Das noch nicht fertig ist
In der Rundung zweier Klammern
birgt sie ein Stückchen (was, verrät sie nicht)
und setzt ans Ende jedes Satzes
keinen Punkt, ein Komma (!),
(sie weiß etwas, das noch nicht fertig ist
und das sie deshalb liebt
und das sie lose halten will wie einen Vogel
kurz vorm Flug)
Was alle wissen: dass sie atmet,
kaum mehr ist's, das sie selber weiß
und wissen will (?) (und manchmal flunkert sie)
und dass sie übt und lernt
(und stolz drauf ist)
und dass sie Angst hat (dass sie Angst hat)
und dass sie liebt (
(15.12.2012)
8 Ebbe
So lange nur Augen fürs Meer ... War da denn Land hinter ihr? War da denn Zeit außerhalb des durchfluteten Jetzt?
Ein letzter salziger Schluck. Dann Ebbe und ihre Darreichungen: Ein Stein! Eine Muschel! Ein Stück Gold! - ANWESENHEIT -
Sie wird nicht am Strand sitzen und auf die Flut warten. Du weißt doch, dass das Meer seine Versprechen hält! Es gibt das Landesinnere und eine Einladung von dort. Sie wird einen Besuch machen.
Und sie wird Eindrücke sammeln. Solche, von denen sie später erzählen wird, aber auch solche, die sie - oh diebische Freude! - mit niemandem teilen wird.
(22.02.2012)
9 Was sie im Winter tun wird
Im Winter werde ich wieder ganz sein, dachte sie, dann fließt nichts mehr zu den geöffneten Fenstern hinaus, dann dürfen die Läden geschlossen bleiben, dann gehört mein Raum mir.
Im Winter werde ich ein Buch nach dem anderen verzehren, ohne ins Schwitzen zu geraten. Ich werde mich am Knistern der Seiten wärmen, meine Fingerspitzen zwischen die Zeilen legen und die Figuren daran schnuppern lassen.
Wenn ich satt bin, werde ich mir Platz schaffen im Regal und mich zwischen sie betten, mitten hinein in ihre sprechenden Bände. Dann dürfen auch sie zubeißen und aussaugen und sich einverleiben.
Ich werde nach Schnee schmecken und nach Holzfeuer, werde heiß und kalt sein und in Geschichten passen, die im Kongo spielen und auf dem Atlantischen Ozean, in einem winterlichen Hochtal, auf grünen Teppichen und grauem Stein.
Ich werde die Vermischung suchen und finden, was mir passt, und werde meinen Teil dazu beitragen.
Im Winter.
Bald beginnt der Sommer. Ich werde mit einem Buch am See liegen, werde Eis essen, Rosen schneiden, Pfirsiche in Rotwein einlegen und nicht immer, nein, nicht immer an Flucht in etwas Überschaubareres denken.
Wir haben den 18. Juni, dachte sie, ein perfekter Tag, um irgendetwas zu tun. Irgendetwas, das sich noch richtiger anfühlt als die Erledigung von Pflichten, mit denen man völlig einverstanden ist.
Ich könnte, dachte sie, zusätzlich zu den Fenstern die Türen öffnen und sie auch bei Einbruch der Dunkelheit nicht wieder verschließen.
(18.06.2012)
10 Hohle Zeit
Honigschwerer Tag
die Sonne zieht sich zäh
und klebt unter den Füßen - -
sie schlief heut rosenabgewandt
und
träumte ihren Tod
da
flog ein Satz pfeilschnell
an
ihr vorbei
wär
sie nicht lähmend satt
sie
hätt' ihr Glück mit
bloßen
Händen - -
ach - -
sie reckt die Glieder
aus
übervollen Himmeln
trieft's
in ihren Schlund
die hohle Zeit - -
die hohle Zeit bringt sie noch um
(12.07.2012)
11 Fensterputz
Über eine lange Zeit hatte sie ihre Fenster nur noch auf der Innenseite geputzt. Sie wollte bei zurückgezogenem Vorhang kleine Blicke nach draußen werfen, aber niemand sollte hereinschauen können.
Nun stand sie mit Eimer und Fensterleder bewaffnet vorm Haus und machte die Außenseiten der Scheiben durchsichtig.
Sie wischte kreisförmige Luken in den Schmutz, zierliche Bullaugen, die Einblicke aus verschiedenen Winkeln erlaubten. Versuchshalber lugte sie immer wieder selbst hindurch, warf kritische Blicke in Küche, Wohnzimmer und Bad.
Da konnte sie sich beobachten bei der Zubereitung winziger Einpersonenmenüs, beim Versuch, den Raum zu füllen, indem sie ständig von Sessel zu Sofa zu Stuhl wechselte, beim Blick in den Spiegel und der stummen Zwiesprache mit dem einzigen ihr zugewandten Gesicht.
Am Schlafzimmerfenster zögerte sie und wischte dann doch einen Ausschnitt blank. Der Blick auf ihr Bett mit den gesetzten Segeln trieb ihr die Hitze in die Wangen. Auf modernden Füßen stand es in der riesigen Blechwanne. Das Wasser schwappte und schlug gegen den Rahmen, wenn sie sich in ihre Kissen senkte. Und wenn sie wilden Fantasien nachhing und nicht stillhalten konnte, spritzte die Gischt bis zu ihr hinauf, netzte ihre Wangen und sprach von Weite und Ausgesetztheit.
Zurück in der Wohnung nahm sie die riesige gerahmte Fotografie von der Wohnzimmerwand, trug sie ins Schlafzimmer und stellte sie dort aufs Fensterbrett. Von draußen war nun deutlich zu erkennen, wer hier glücklich in einem Boot saß: Die ganze Familie zusammengedrängt auf dem großen Ehebett, dem Fotografen übermütig in die Linse lachend, Jahre bevor ...
Aber zum Kochen trug sie nun jedesmal ein anderes Kleid, im Wohnzimmer standen Blumen auf dem Tisch, und im Badezimmerspiegel tauchte hin und wieder ein fremdes Gesicht hinter ihrem eigenen auf.
Etwas kitzelte in ihren Adern. Vielleicht war es Neugier. Um vorbereitet zu sein, bezog sie ihr Bett mit neuer Wäsche, besserte die Segel aus und füllte die Wanne mit frischem Wasser. Es konnte jederzeit losgehen.
(30.07.2012)
12 Im Strom
Ertappte sie sich dabei, wie sie sich von Hochgeschwindigkeit überrollen ließ. Kam diese von hinten gestürmt, auf sie gestürzt, alles mit sich in den Strudel reißend, dass die Ränder ihrer Poren flatterten und die Haarwurzeln um Halt flehten. Schrie sie auf vor Entzücken! War sie so eine leicht ansteckbare Person, dass sie sich anstacheln ließ von über die Straße huschenden Rufen und um die Ecke flitzenden Lachern. Galt alles ihr, nur ihr, musste alles eingefangen werden und auf der Stelle verzehrt. Da musste sich fallengelassen werden mitten hinein in den brausenden Strom und sich hingegeben werden dem Toben mit einer vollkommen angepassten Beschleunigung von niemals auf sofort. Flog dann ihr Atem nur so und trug er sie nur so davon und sämtliche Vergleichsmöglichkeiten gleich mit. Lag sie dann umgestülpt und entkernt, ein Maschinenwesen, und die Seele war wo? Ja, wo war sie denn, und war denn überhaupt eine gewesen vor dem Orkan und jemals? Wie sollte denn einer inmitten dieser Raserei etwas fassen oder halten oder überhaupt nur erkennen, wie? Fiel sie schließlich rücklings in die klebrige Masse batteriebetriebener Zeit, schlug sie auf im Brei der gequirlten Kontinuität, paddelte sie mit verbliebener Kraft einen letzten Satz aus sich heraus, wenigsten den, für den aufrechten Stein bestimmten, wollte sie selbst erfinden, noch auf die Schnelle, vor der großen Überschluckung durch die selbstherrlich hetzende Materie siegeswütiger Mensch. Erblickte der letzte Rest Neugier ein Fitzelchen Pause am Rand, warf der letzte Rest Selbst einen winzigen Anker und senkte sich letzten Moments hinterher und hinein und drückte eine Kuhle in den Ort, der vorher nur tosende Bahn. Erwachte dort unten ein Keim, so ein winziger, winziger Keim mitten hinein in ihren gewölbten Leib, barg sie diesen vor allem, für sich und zog einen gültigen Halt.
(03.08.2012)
13 Auf den Rückseiten der Worte
Aber
sie liebt die kleinen Stellen, an denen Berührungen stattfinden, wie
zufällig oder von irgendwo großzügig hergeschenkt. Sie hat ein Faible
für die Wärme, die an diesen Punkten entsteht und die Tiefen, die sich
daraus erschließen können.
Sie glaubt weder an Zufall noch an Schicksal, genauso wenig schließt sie deren Existenz aus. Mit größter Sicherheit aber könnte sie von Wundern und freien Entscheidungen erzählen.
Ein andermal.
(07.09.2012)
14 Ist alles ihrs
Der Schmerz, der Schmerz!
Und später sieht man sie entleert.
Es wiederholt sich, denkt sie,
Seit ein paar Nächten erhält sie wieder Besuch von den Nagetieren. Mühelos erklimmen die ihr Bett, kriechen unter ihre Decke, belagern ihr Kopfkissen. Richten glänzende Knopfaugenpaare auf ihr Gesicht, bis sie die Augen öffnet zum gegenseitigen Anstarren. Immer senkt sie als erste die Lider, nach minutenwährender Ewigkeit, kapituliert und lässt sich in einsames Entsetzen fallen.
Sie wusste ja, dass sie ihrem Körper trauen konnte. Dass er mit ihr sprach und häufig klüger war als ihre restlichen Bestandteile. Dass sie ihn aber ebenso häufig überhörte und seine Forderungen verwarf, weil sie ihr unbequem schienen, auch wenn sie ihr letztlich dienten. Das alles wusste sie.
Wie leicht es doch ist, sich zu irren, zum Beispiel im Zuteilen von Bedeutung. Oder darin, wer einem welche Frage stellen oder einen wozu auffordern darf. Wem Folge zu leisten ist und wem nicht. Wem zu trauen ist. Vor allem das: Wem zu trauen ist. Wem eine sich anvertrauen kann.
Ja. Darüber denkt sie neuerdings nach.
Was nicht hinaus muss, sich aber dennoch hinaus begibt, um zu spüren, ob es wirklich ist. Ob es auch draußen Bestand hat und sich nicht auflöst, erst in eine dünnhäutige Kugel Illusion, dann in Luft.
Was nicht hinaus muss, sich aber hinaus begibt, weil es auf der Suche ist nach etwas, das drinnen nicht existiert: ein sich darbietender Punkt, der winzig sein kann, aber an den sich anknüpfen lässt. Und weil diese Stelle der Berührung, der An- und Verknüpfung lebendiger pulsiert als alles Einsame, sei es noch so erhaben.
Wie es sich wieder zurückzieht, dabei das Mögliche im Auge behält.
Vor dem Fenster der Weg, beschritten vom Wechsel des Lichts und der Jahreszeiten, darunter der Herzschlag der Welt, ein warmes Pochen an ihren Fußsohlen, das trotz ihres hastigen Rückzugs haften bleibt.
Sie, mit ihrer unvollständigen Sammlung von Abschieden, losen Fäden und Brüchen, der wiederkehrenden Melancholie, die eine gut Freundin ist, der Sehnsucht nach dem Meer und der Vorratspackung Paracetamol, all diesem ganz und gar schönwortig Banalen.
Was nicht hinaus muss - oder doch? - und sich zögernd hinaus begibt, einem eigenen Pulsschlag folgend.
Sie spricht etwas aus, ihr selbst neu, obwohl es aus ihr kommt. Sie spricht es aus, wie man eine fremde Speise zum ersten Mal probiert: vorsichtig und neugierig zugleich. Und sie zieht dabei den Kopf ein, wie in Erwartung eines Urteils: "Das bist nicht du."
37 Sie
„Vermisst du es?“, frage ich und warte tagelang auf eine Antwort. Warte bis heute.
Derweil wirft sie die verwelkten Rosen fort, bezieht die Betten neu, kauft Brot und Wein, liest nach vielen Jahren wieder die Romane von Colette.
„Sie wird mir noch davonfliegen“, denke ich und möchte ein Netz spannen um das, was in ihrem Kopf vor sich geht.
Sie hebt den Blick und lächelt mich nahezu an. „Lass mich“, sagt sie stumm. Und natürlich! Natürlich lasse ich sie.
Meine Hände sind leer. Ich könnte einen Stein aufheben oder eine Blume pflücken oder Wasser schöpfen oder einen Stift nehmen und ...
Ich nehme ihre Hand. „Ist gut“, sage ich.
So sitzen wir eine Weile, während meine Worte den Raum abtasten, sich dehnen, in eine eigene Haut hinein, so scheint es mir. Sie stellen sich spielerisch zur Schau, ganz unbefangen, und sagen: „Hier sind wir, nehmt uns, macht was draus.“
„Und nicht nur das Schreiben“, spricht sie unvermittelt in den raumgreifenden Nachhall hinein und im ersten Moment verstehe ich nicht. Dann dämmert mir, dass sie nicht an meine Worte anknüpft, sondern an ihre eigene Aussage, mit der unser Gespräch begann.
„Nicht nur das Schreiben?“ frage ich tastend.
Ich bin zu schnell für sie. Wieder vergehen Tage. Sie streicht ein paar Wände in Türkis, kocht einen großen Topf Fischsuppe, taucht ihr Gesicht in den Lavendelbusch vorm Haus.
Wenn sie vom Balkon aus ihren Blick über die Häuser und Gärten der Nachbarschaft schweifen lässt, spiegelt sich in ihren Augen das Meer.
„Wahnsinn“, denke ich in Ermangelung eines treffenderen Ausdrucks. Denn wahnsinnig, das ist sie wahrhaftig nicht.
„Dabei war das alles so sehr Teil meiner selbst.“ Sie sieht mich an. „Bin ich nun nicht mehr ganz? Sag, sitzt hier eine halbe Frau vor dir?“
Es gibt ein allgemein verfügbares Repertoire von Standardantworten, auf die sich immer zurückgreifen lässt. Alle verkneife ich mir. Und verkneife mir diesmal auch, ihre Hand zu nehmen.
Ich sehe sie an und halte ihren Blick mit einer Ernsthaftigkeit, dass sogar die Zeit einen Bogen um uns macht.
III Ich sehe sie an und halte ihren Blick mit einer Ernsthaftigkeit, dass sogar die Zeit einen Bogen um uns macht.
Sie meint die Steine vor unserer Tür. Vermute ich. Täglich kommen neue hinzu, liegen auf dem Podest, dem Weg und in dem kleinen Vorgarten verteilt. Steine, gerade groß und schwer genug, dass sie sich nicht ohne Anstrengung fortbewegen lassen. Wohin denn auch? Vor des Nachbars Tür?
Ich möchte ihr einen Stift in die Hand drücken und sagen „Schreib! Schreib es auf!“ Nach tagelangem Zögern verwerfe ich diesen Gedanken. Sie atmet erleichtert auf.
Neuerdings trinken wir Quellwasser, das ich in Kanistern aus dem Wald hole. Ich habe noch keinen anderen Menschen dort getroffen, stoße aber hin und wieder auf Fußspuren. Nach etwa einer Stunde setzt das Vergessen ein, dann trete ich den Heimweg an.
„Wo warst du so lange?“, fragt sie, haucht auf die Fensterscheibe, hinter der sie auf mich gewartet hat, und malt mit dem Finger ihre Initialen auf die benebelte Fläche.
Ich vermag die Antwort nicht in Worte zu kleiden. Also üben wir Verzicht.
Sie holt zwei Gläser aus der Küche. Ich fülle sie mit dem Quellwasser. Wir prosten uns zu.
„Wenigstens haben wir Humor“, sagt sie und ich nicke so heftig, dass ich mich verschlucke.
IV „Wenigstens haben wir Humor“, sagt sie und ich nicke so heftig, dass ich mich verschlucke.
„Ich wünschte ...“ Wieder einmal hängt sie einen Satzanfang in die Luft. Ich muss ständig den Kopf einziehen, wenn ich durch unser Haus gehe. Deshalb verbringe ich immer mehr Zeit im Schuppen. Dort steht unser Boot. Ich habe begonnen, es zu reparieren. Ein frischer Anstrich ist fällig. Neue Ruder müssen her.
Hin und wieder setzt sie einen Fuß in den Garten. Dann steht sie im hohen Gras, beschattet ihre Augen mit der Hand und sieht zu mir herüber. Manchmal winkt sie mir zu. Den entscheidenden Schritt macht sie nie.
Sie sitzt oft stundenlang da und hängt ihren Gedanken nach. Obwohl sie dann so abwesend wirkt und mich nicht zu bemerken scheint, füllt sie den Raum mit unausgesprochenen Aufforderungen: „Pst! Sprich mich nicht an! Mach einen großen Bogen um mich! Schließ die Tür hinter dir! Aber leise!“
Dass ich gehorche – tja. Wir sind ein eingespieltes Team.
Es gibt diese seltenen Nächte, in denen sprechen unsere Körper miteinander.
„... du würdest den Zwischenräumen mehr Gehör schenken.“, beendet sie einen vor langer Zeit angefangenen Satz.
Noch ein paar Tage, dann bin ich soweit mit dem Boot. Ich spiele mit dem Gedanken, allein hinauszufahren.
V Noch ein paar Tage, dann bin ich soweit mit dem Boot. Ich spiele mit dem Gedanken, allein hinauszufahren.
„Wie weit bist du mit dem Boot?“, fragt sie eines Abends unvermittelt.
„Fast fertig“, sage ich und hoffe, dass sie es nicht sehen will. Meine Reparaturarbeiten sind abgeschlossen. Ich habe bereits die Zeltausrüstung und Kleidung für ein paar Tage verstaut.
„Weißt du noch, unsere Bootswandertouren? Wie lang ist das her?“ Ihrem Gesichtsausdruck entnehme ich, dass sie keine Antwort von mir erwartet, sondern der Spur ihrer Erinnerung folgt.
Ihre Schweigsamkeit ...
Im Schuppen das Boot ...
„Ich werde ein Notizheft mitnehmen“, sagt sie. Es klingt wie ein Versprechen und eine Drohung zugleich.
„Was hindert uns?“, frage ich versuchshalber, Gott und die Welt vor Augen.
„Die Steine im Vorgarten“, antwortet sie ohne Zögern.
„Lass uns die Hintertür nehmen”, schlage ich vor. Mein Herz schlägt laut.
Übermut und Zweifel.
Nach vier Sätzen ohne nennenswerte Pausen dazwischen halte ich das Unmögliche für möglich.
Wir wären Kinder und begännen von vorn.
Sie schweigt zwei Tage lang.
„So einfach ist es nicht.“ Wer von uns beiden hat das gesagt?
VI „So einfach ist es nicht.“ Wer von uns beiden hat das gesagt?
Er ist unruhig wie ein Tier in Bedrängnis.
„Du weißt, dass ich höchstens einen Schritt über die Schwelle hinauskomme. Dann packt mich die Angst.“ Zwei Sätze hintereinanderweg, schon gerate ich mit dem Luftholen in Verzug. Und weiß auch gar nicht mehr, was nun an der Reihe ist: Ein- oder Ausatmen?
„Ja, ich weiß“, sagt er.
An seiner Erleichterung habe ich eine Weile zu knabbern. Tage. Oder sind es Nächte? Stunden?
„Kann ich dich denn alleine lassen?“, fragt er eines Morgens. Er hat Schuhe und Jacke schon an, trägt einen Proviantbeutel in der einen, den klimpernden Schlüsselbund in der anderen Hand.
Wenn ich jetzt Nein sagte ...
Wenn ich die Tränen nicht zurückhielte ...
Wenn ich ...
Stattdessen täusche ich das Gegenteil einer Ohnmacht vor.
„Also gut, dann ...“ Er drückt mir einen Kuss auf die Stirn. Sieht mir in die Augen, aus seinen lese ich den Fluss, den Ufersaum, die Ferne ...
An seinen Lippen klebt ein winziges Stückchen meiner Haut. Ich streiche mir über die geküsste Stirn, tupfe mit dem abgewischten Blutstropfen seine Nasenspitze rot.
Wir wären zwei traurige Clowns.
So fremd. So fremd.
„Adieu!“, rufe ich ihm Stunden später hinterher. Die geschlossene Tür schickt ein winziges Echo zu mir zurück. Ich spieße es mit meinem Bleistift auf und hefte es auf einen Bogen Papier.
„So sehen Anfänge aus“, denke ich.
VII „So sehen Anfänge aus“, denke ich.
Und komme nicht darüber hinaus.
„Was war das Schönste?“ fragt er. Mich.
Er ist seit Tagen unterwegs, also bereits viele Kilometer entfernt. Wir sprechen miteinander, ohne uns dabei ansehen zu können. Hat er mir zugezwinkert bei seiner letzten Frage? Stand ihm die Verzweiflung ins Gesicht geschrieben?
Aufgrund der räumlichen Distanz lässt sich auch der Tonfall kaum bewerten. Was ankommt, sind die Worte, ist der Text, dem erst das Hören einen Klang hinzufügt.
„Ich kann es nicht entscheiden. Da war so vieles ...“
Seine Frage hat sich in das Schweifen meines Blickes eingehakt, sie bremst ihn, zieht ihn fort, schiebt ihn näher heran ... Da war, da ist so vieles ...
Ich höre ein Lächeln, ja, ganz gewiss, sein Lächeln höre ich.
Er taucht die Ruder ein, seine Muskeln sind kräftiger geworden, sein Haar von der Sonne gebleicht. Ein Lächeln liegt auf seinem Gesicht. Wem oder was gilt es?
„Du bist schön.“
Sehen wir klarer, deutlicher auf die Distanz?
Ich öffne die Tür zum Garten und trete hinaus, mache zwei Schritte durchs Gras, drei, vier, streiche mit den Fingern über die inzwischen fast hüfthohen Halme.
Vielleicht schaffe ich es morgen bis zum Schuppen. Ich muss nachsehen, ob er mir eine Nachricht hinterlassen hat.
„Du auch.“
Ich betrachte meine Hände. Wie beendet man ein lang andauerndes Warten?
VIII Ich betrachte meine Hände. Wie beendet man ein lang andauerndes Warten?
Wie wacht man aus etwas auf, das weder Schlaf noch Traum ist?
Wie legt man etwas ab, das weder Kleid noch Haut ist?
Ich fülle die leeren Seiten mit Listen. Das beruhigt mich und ist zumindest ein Anfang.
Liste #1 (Bestandsaufnahme):
- das Haus
- der Stift, das Papier
- ich
Liste #2 (Bestandsaufnahme):
- der Fluss
- das Ruderboot
- er
Liste #3 (To do):
- zum Schuppen gehen
und seine Nachricht lesen (falls er eine hinterlassen hat)
- vors Haus gehen
und das Gewicht der Steine prüfen
- in den Wald gehen
und die Quelle suchen
Liste #4 (tägliche Übungen):
- atmen
- schreiben
Liste #5 (To be):
- what you want
Was ich so eben noch sehen kann:
Wie er die Ruder tief eintaucht und sie kraftvoll durchs Wasser zieht. Das Boot treibt geschwind dahin. Es trägt ihn fort. Immer. Weiter. Fort.
Was ich so eben noch hören kann:
Seine Stimme. Ein paar unkenntliche Worte, die noch mir gelten mögen. Sein Lachen, das bereits etwas Neuem gilt.
All das nur schemenhaft. Wie sehr zarte Spinnweben. Mit einer ungelenken Handbewegung wische ich sie weg.
Dann trete ich vors Fenster. Die Nacht ist hereingebrochen.
„Und jetzt?“, fragt mein Spiegelbild.
(25.06.-24.07.2015)
(12.07.2012)
11 Fensterputz
Über eine lange Zeit hatte sie ihre Fenster nur noch auf der Innenseite geputzt. Sie wollte bei zurückgezogenem Vorhang kleine Blicke nach draußen werfen, aber niemand sollte hereinschauen können.
Nun stand sie mit Eimer und Fensterleder bewaffnet vorm Haus und machte die Außenseiten der Scheiben durchsichtig.
Sie wischte kreisförmige Luken in den Schmutz, zierliche Bullaugen, die Einblicke aus verschiedenen Winkeln erlaubten. Versuchshalber lugte sie immer wieder selbst hindurch, warf kritische Blicke in Küche, Wohnzimmer und Bad.
Da konnte sie sich beobachten bei der Zubereitung winziger Einpersonenmenüs, beim Versuch, den Raum zu füllen, indem sie ständig von Sessel zu Sofa zu Stuhl wechselte, beim Blick in den Spiegel und der stummen Zwiesprache mit dem einzigen ihr zugewandten Gesicht.
Am Schlafzimmerfenster zögerte sie und wischte dann doch einen Ausschnitt blank. Der Blick auf ihr Bett mit den gesetzten Segeln trieb ihr die Hitze in die Wangen. Auf modernden Füßen stand es in der riesigen Blechwanne. Das Wasser schwappte und schlug gegen den Rahmen, wenn sie sich in ihre Kissen senkte. Und wenn sie wilden Fantasien nachhing und nicht stillhalten konnte, spritzte die Gischt bis zu ihr hinauf, netzte ihre Wangen und sprach von Weite und Ausgesetztheit.
Zurück in der Wohnung nahm sie die riesige gerahmte Fotografie von der Wohnzimmerwand, trug sie ins Schlafzimmer und stellte sie dort aufs Fensterbrett. Von draußen war nun deutlich zu erkennen, wer hier glücklich in einem Boot saß: Die ganze Familie zusammengedrängt auf dem großen Ehebett, dem Fotografen übermütig in die Linse lachend, Jahre bevor ...
Aber zum Kochen trug sie nun jedesmal ein anderes Kleid, im Wohnzimmer standen Blumen auf dem Tisch, und im Badezimmerspiegel tauchte hin und wieder ein fremdes Gesicht hinter ihrem eigenen auf.
Etwas kitzelte in ihren Adern. Vielleicht war es Neugier. Um vorbereitet zu sein, bezog sie ihr Bett mit neuer Wäsche, besserte die Segel aus und füllte die Wanne mit frischem Wasser. Es konnte jederzeit losgehen.
(30.07.2012)
12 Im Strom
Ertappte sie sich dabei, wie sie sich von Hochgeschwindigkeit überrollen ließ. Kam diese von hinten gestürmt, auf sie gestürzt, alles mit sich in den Strudel reißend, dass die Ränder ihrer Poren flatterten und die Haarwurzeln um Halt flehten. Schrie sie auf vor Entzücken! War sie so eine leicht ansteckbare Person, dass sie sich anstacheln ließ von über die Straße huschenden Rufen und um die Ecke flitzenden Lachern. Galt alles ihr, nur ihr, musste alles eingefangen werden und auf der Stelle verzehrt. Da musste sich fallengelassen werden mitten hinein in den brausenden Strom und sich hingegeben werden dem Toben mit einer vollkommen angepassten Beschleunigung von niemals auf sofort. Flog dann ihr Atem nur so und trug er sie nur so davon und sämtliche Vergleichsmöglichkeiten gleich mit. Lag sie dann umgestülpt und entkernt, ein Maschinenwesen, und die Seele war wo? Ja, wo war sie denn, und war denn überhaupt eine gewesen vor dem Orkan und jemals? Wie sollte denn einer inmitten dieser Raserei etwas fassen oder halten oder überhaupt nur erkennen, wie? Fiel sie schließlich rücklings in die klebrige Masse batteriebetriebener Zeit, schlug sie auf im Brei der gequirlten Kontinuität, paddelte sie mit verbliebener Kraft einen letzten Satz aus sich heraus, wenigsten den, für den aufrechten Stein bestimmten, wollte sie selbst erfinden, noch auf die Schnelle, vor der großen Überschluckung durch die selbstherrlich hetzende Materie siegeswütiger Mensch. Erblickte der letzte Rest Neugier ein Fitzelchen Pause am Rand, warf der letzte Rest Selbst einen winzigen Anker und senkte sich letzten Moments hinterher und hinein und drückte eine Kuhle in den Ort, der vorher nur tosende Bahn. Erwachte dort unten ein Keim, so ein winziger, winziger Keim mitten hinein in ihren gewölbten Leib, barg sie diesen vor allem, für sich und zog einen gültigen Halt.
(03.08.2012)
13 Auf den Rückseiten der Worte
Sie steht hinter ihren
Worten und betrachtet deren Rückseiten. Was sieht sie? Und unterscheidet
es sich von der Ansicht der Vorderseiten?
Stellten
wir ihr diese Fragen, könnten wir keine überprüfbare Antwort erwarten.
Denn erklärte sie uns, was sie sieht, wäre für uns wiederum nur die
Vorderseite dieser Erklärung sichtbar, die Ansicht der Rückseite gehörte
ausschließlich ihr.
Nähmen wir ihre Position ein - vorausgesetzt, sie erlaubte uns dies -, schauten wir dann auch mit ihren Augen?
Erzählten
wir ihr, was wir sehen, stimmte es mit dem überein, was sie zeigt? Oder
zeigen will? Zu zeigen glaubt? Und drückten die Worte, die wir finden,
tatsächlich aus, was wir sehen und spiegeln wollen?
Kann es eine Übereinstimmung geben?
Ist eine solche überhaupt das Ziel?
Sie
stellt ihre Worte auf und sich selbst dahinter. Sie glaubt sich, was
sie sagt und nimmt dies als den wesentlichen, wenn nicht einzigen Grund,
sich zu äußern. Eine darüber hinausgehende Wahrheit kennt und sucht sie
nicht.
Sie
lässt die Worte frei und absichtslos. Und gestattet ihnen, dass sie sich
von ihr lösen in einen neuen, vielleicht sogar beliebigen Zusammenhang
hinein.
Es
geschieht, dass sie erkannt wird in ihren Worten. Wenn es so ist, dann
ist es so. Dem liegen weder Absicht noch Wunsch zugrunde. Sie will sich
weder verstecken noch zeigen. Sie will etwas in den Raum stellen zu all
dem anderen, das da schon steht, offen für das, was geschieht.
Betrachten
wir die Worte, die sie annähernd erwartungslos vor uns hingestellt hat,
dürfen wir sicher sein, dass sie will, dass wir tun, was wir wollen:
Hinsehen, wegsehen, aufnehmen, ablehnen, teilen, umformen,
weiterverwenden, ergänzen, bedenken, verwerfen ...
Nur
sie selbst, sie dürfen wir nicht gewaltsam aus den Worten graben, denn
sie will unvereinnahmt sein. So wie sie die Worte nicht vereinnahmen
will, und wie sie uns frei betrachten lassen und unser Sehen nicht
kontrollieren will.
Sie glaubt weder an Zufall noch an Schicksal, genauso wenig schließt sie deren Existenz aus. Mit größter Sicherheit aber könnte sie von Wundern und freien Entscheidungen erzählen.
Ein andermal.
(07.09.2012)
14 Ist alles ihrs
aus weniger ein Meer und tanzt nur noch auf ihrem eigenen Fest
woanders bleibt sie auf den Stühlen, streicht das weiße Leinen glatt, schaut zu
und schaut auch wieder weg
Was sagst du da? Wohin ist deine Neugier?
eingesammelt trag ich sie auf meiner Haut
darüber Kleider aus zwei Schichten, innen glatt und außen rau
darf mich der Spiegel bitten um den nächsten Tanz
ein Reigen um die eigene Relevanz
und pflücke hier und da Ergänzungen
zu meinem Strauß Geschichte
Um dich geht's da?
und mehr verrät sie nicht
ist alles ihrs
(22.09.2012)
15 Ihr eigenes Spiel
Sie war abgeglitten unter eine Hand
aus steilen Buchstaben, eine Rasterhand, unter der lag sie nun,
bewegungsängstlich und wortscheu, nichts passte. Bis sie paradox
intervenierte und den Buchstaben befahl, streng mit ihr ins Gericht zu
gehen. Hingegeben erwartete sie den Schlag, der an ihr vorbei von der
Hand abfiel, kraftlos, am Boden kreuz-und-querten sich Stäbe zur
beliebigen Anordnung. Ein Spiel. Soviel zur Gültigkeit der Buchstaben.
Soviel zum über den Menschen geworfenen Gesetz. Sie schüttelte sich. Was sie da geglaubt hatte - am liebsten schwiege sie fortan. Oder erfand ihr eigenes Spiel.
(26.09.2012)
16 das Nest
Bezieht sie das Bett
putzt sie das Fenster
wischt sie den Boden
lüftet sie den Schrank
leert sie den Papierkorb
gießt sie die Blumen
bereitet sie das Zimmer
gibt sie das Nest nicht auf
(02.10.2012)
17 Geht sie
Geht sie statt da hin
dort hin
folgt sie statt dem Weg
ihren Füßen
glaubt sie statt ans Richtige
ans Mögliche
(04.10.2012)
18 Rettung
Gerät sie unter den Turm
schüttet sie Feuer ins taumelnde Blut
senkt das verwüstete Kind ins Meer
hebt sie das Wort hoch hinaus übers Tal
umschlingt sie die fallende Welt
(10.11.2012)
19 Hinaus
Sie hat sich wieder
hingelegt. Endlich zufrieden mit der Tiefe der Grube. Die Erde ist kühl,
aber das Blut im Rücken ist warm. Bald wird das Wasser hereinströmen,
dann kann sie ihre Kiemen testen.
Derweil
liegen die Flügel ordentlich gefaltet in der Truhe. Dort teilen sie
sich den Platz mit Notizbüchern, Muscheln und Steinen. Wer möchte den
Deckel hochklappen und stöbern? Mit den Fingern über die Federn
streichen, die Bänder von den Kladden lösen und den Träumen folgen, die
immer nur aufs Meer gerichtet waren.
Irgendwann
wuchsen die Flügel, ihrem unbezähmbaren Wunsch Folge leistend. Nun
liegen sie abgetrennt, nutzlos. Wollt ihr die DNA zum Beweis? Die
offenen Wunden an ihren Schultern - noch würden sie sich wieder um die
Wurzeln schließen.
So
viele Jahre hatte sie geglaubt, es ginge ums Fliegen. Als die Flügel
dann endlich durchgebrochen waren, verging ihr die Lust. Diese Höhe.
Dieser Abstand.
Nun
würde sie tauchen und ahnte doch schon, dass es auch darum nicht ging.
Es war ein weiterer Abstecher, den sie machte, um in die Nähe von Weite
zu gelangen.
Hört, das Wasser kommt!
Sie
atmet ganz ruhig und denkt nicht an den übernächsten Schritt. Wir
hingegen denken an nichts anderes und werden dennoch geduldig warten,
werden dabei nicht untätig sein. Das Boot kann einen neuen Anstrich
vertragen. Die Segel wollen ausgebessert sein. Proviant muss an Bord ...
Wir
könnten ausrasten vor Freude auf die bevorstehende Fahrt. Denn diesmal
wird es weder hinauf noch hinunter gehen, sondern hinaus, weit hinaus.
(17.11.2012)
20 Mit Herz und Hand und Mund
Es muss ja nichts, dachte sie, dieses Datum ist ein beliebiges, warum soviel hineinlegen.
Sie
glitt zurück in die Kissen, in die schlafwarme Mulde eines fast
vergangenen Jahres, in den Frieden ihrer Stummheit. Sie konnte sich
darauf verlassen, dass niemand an ihre Tür klopfen würde, dass niemand
durchs Fenster spähen oder einen Zettel in den Briefkasten werfen würde.
Sie hatte einen gründlichen Schnitt gemacht vor genau einem Jahr. Und
wie gut es funktioniert hatte. Bereits nach wenigen Wochen war sie
vollkommen unbelästigt geblieben.
Sie
schmiegte sich in die Wärme der Kissen, lediglich die Feuchtigkeit
störte sie ein wenig, den metallischen Geruch hingegen nahm sie gar
nicht mehr wahr. Sie schob die Finger unter den Rücken, dorthin, wo sich
eine Lache gebildet hatte. Es irritierte sie ein wenig, dass sie die
Blutung nie hatte stoppen können. Und dass der Fluss nicht versiegte.
Sie zog eine Hand wieder hervor und griff in ihren Brustkorb. Ihr Herz
fühlte sich an wie ein frisch geschlüpftes Vögelchen, wild und hungrig
und angewiesen. Ein wenig zaghaft.
Sie
seufzte und schloss die Augen. Wenn sie schlafen könnte. Wenn sie sich
einem Traum in die Arme werfen könnte, der sie forttrüge. Wenn er mit
ihr übers Meer flöge und sie dort fallen ließe. Wenn sie bis auf den
Grund sänke, sich dort mit beiden Füßen abstieße und wieder auftauchte.
Wenn ein unberührter Strand auf sie wartete. Wenn sie diesen
reingewaschen betreten könnte, um einen Anfang zu machen, ein bewusstes
erstes Mal.
Sie strich noch
einmal mit den Fingern über ihr Herz und führte dann die Hand an ihren
Mund. Aus diesen dreien sollte das erste Wort entspringen, das sie an
dem weißen Strand sprechen würde. Und aus diesem ersten Wort würde ihr
neues Leben entstehen. Es wollte also gut überlegt sein. Dafür bedurfte
es mehr als eines bloßen Zeitpunkts, dafür bedurfte es eines weiten
Raums.
Sie sank immer tiefer in die Kissen, so tief, dass diese schließlich über ihr zusammenschlugen. Eine Umarmung, dachte sie beglückt und glitt hinüber in ein weiteres unbenanntes Jahr.
(26.12.2012)
21 Neu
Der Garten ist über die Ufer getreten, stellt sie fest.
Wie die Wiese wogt, und das mitten im Winter. Ich werde auf Wellen reiten und im hohen Gras herumstreunen.
Sie schließt den Schuppen auf. Gartengerät und Boot warten dort, ihre Wahl fällt auf letzteres.
Mein Herz kennt wohl keinen Unterschied zwischen Grün und Blau, es klopft bei beiden gleich schnell, nur weit müssen sie sein.
Wie oft sie schon die Segel gesetzt hat. Der Beginn eines neuen Jahres ist eine weitere Gelegenheit, die sie beim Schopf packt. Hinaus! Immer wieder hinaus.
Sie freut sich, wieder hier zu sein, in ihrem Hafengarten.
Vom Kaimauerzaun aus lässt sie den Blick schweifen.
Das gehört alles mir, staunt sie, und breitet die Arme aus.
Sie hat etwas mitgebracht von ihrer Reise. Kleine zarte Neugeburten, die gehegt werden wollen.
Sie wird sie in die Freiheit entlassen, wenn es soweit ist.
Ich bin reich, denkt sie und setzt einen Fuß über die Schwelle.
(06.01.2013)
22 Von Ungesagtem, längst Gesagtem und Unsagbarem
- Warum sagst du nichts?
- Damit noch ein paar Worte für die Nachfolgenden bleiben.
- Sollen sie doch neue erfinden!
- Aber dann müsste erst Welt nachwachsen.
- Das tut sie doch, Tag um Tag.
- Sie wiederholt sich nur mit jeder Umdrehung.
- Beschreibe mir, was du siehst.
- Wenn du willst, lese ich's dir vor, aus diesem jahrhundertalten Buch.
- Das sind nicht deine Worte.
- Doch, das sind sie. Sie wurden mir genommen, lange vor meiner Geburt.
- Also macht dich das Lesen verstummen.
- Es beweist mir, dass ich nichts Neues, nichts Eigenes sprechen kann.
- Noch einmal: Beschreibe mir, was du siehst.
- Ein Fenster.
- Und dahinter?
- Einen Garten.
- Und dahinter?
- Die nahende Nacht.
- Und dahinter?
- Den nahenden Tag.
- Den siehst du bereits?
- Ich ahne ihn und wünsche, dass er eintreffen möge.
- Beschreibe mir, was du dir wünschst.
- Auch das könnte ich dir vorlesen.
- Kennst du dich selbst denn nicht?
- Ich erkenne mich im längst Gesagten.
- Noch einmal: Beschreibe mir, was du dir wünschst.
- Einen weiteren Tag.
- Wie wirst du ihn nutzen?
- Ich werde in meinen Büchern blättern.
- Würdest du mich zu einem Spaziergang begleiten?
- Das wage ich nicht!
- Was fürchtest du?
- Die wilden Tiere, die Räuber und die Ansteckungsgefahr.
- ...
(An
dieser Stelle bricht das Gespräch mangels weiterer Ideen der
Fragestellerin ab. Aufgrund der hoffnungslos scheinenden Situation wählt
sie zwischen den verbleibenden zwei Möglichkeiten, die da aufblitzen
als Verzweiflung und Albernheit, letztere. Sie denkt kurz an Horaz,
erklärt sich dies nicht, legt sämtliche Buchstaben ab, steigt durchs
Fenster hinaus in den Garten, von dort in die Nacht und weiter in den
folgenden Tag.)
(13.01.2013)
23 Diffus
Was ihr da angetragen wird - vom
Leben, vom unbeschriebenen Blatt, vom unaufgeräumten Schrank - was ihr
da angetragen wird, sie nimmt es hin und stapelt es hinter Rändern, die
ihre Kontur tragen. Zuletzt bleibt kein Platz mehr für Luft, dann
schließt sie erleichtert die Augen und vergeht. Vergeht? Komisches Ende,
denkt sie und blickt misstrauisch auf die Tastatur. Die abgenutzten und
die kaum benutzten Tasten. Die Zwischenräume, in denen die Geheimnisse
stecken und die noch unerfundenen Zeichen. Sie rüttelt an etwas, das
nicht da ist und das sie sich sehnlich herbeiwünscht. Hätte es einen
Namen, sie würde ihn rufen. Den Hall ihrer Stimme schickt sie aus, er
bleibt kleben an der Gewohnheit und den Gitterstäben der Zeit. Wohin mit
dem Text ohne Textur? Wenn sie wenigstens wüsste, wo genau Drinnen ist
und wo Draußen beginnt. Sie nähme sofort die Verzweiflung heraus, diese
Luxusempfindung im warmen, hellen Zimmer mit den Kissen, den Pflanzen,
dem Kaffeearoma und nicht zuletzt dem Fenster, das einen Blick auf ein krisenfreies Gebiet gewährt, dessen Wahrnehmung lediglich von ihrer eigenen Diffusität bedroht ist.
(14.01.2013)
24 Wie Traurigsein geht, fragt sie
Wie Traurigsein geht,
fragt sie, und ahnt, dass sie etwas ganz anderes meint, nämlich wie sich
die Zeit zurückdrehen ließe auf Anfang, und wie sich ein gerader Weg
einschlagen ließe ohne Schmerz und ob das dann wirklich schöner und
besser und wahrer wäre, oder ob dann etwas fehlte. Auf die Traurigkeit
könnte sie verzichten, denkt sie, aber auch auf die auslösenden Momente?
Das weiß sie nicht, aber nun ist die Frage plötzlich eine Art
Gesellschafterin und der Raum nicht mehr so leer. Es treten Wörter ein,
jedes einzelne ein Freund, der sich zur Verfügung stellt. Sie spielt und
vergisst darüber die Zeit, die mit ihrer winzigen Schaufel und ihrer
unendlichen Geduld den Berg abträgt, der ihr die Sicht verstellt.
Und dann steht da plötzlich ein Mensch.
(21.01.2013)
25 Die Übende
Von mir über mich zu mir,
denkt sie, und vergisst für einen Moment Probenbühne, Ensemble und Regie, sieht sich stattdessen in einem Garten spielen, der ihrer sein könnte, mit einem Haus darin, das ihres sein könnte. Sie folgt dem grasüberwucherten Pfad zur Tür, öffnet diese und -
Stille brandet ihr entgegen.
Plötzlich weiß sie ihren Text wieder, weiß ihn, wie sie sonst nichts weiß, außer dass sie ihn niemals im Skript hätte finden können.
Und dann steht da plötzlich ein Mensch.
(21.01.2013)
25 Die Übende
Sie nimmt das Stichwort auf
spricht ihren Satz
spürt die Lücke
hebt erneut die Stimme
und -
vergisst wie stets an dieser Stelle ihren Text
Von A über B nach C, von A über B nach C, von A über B nach C ...
Von mir über mich zu mir,
denkt sie, und vergisst für einen Moment Probenbühne, Ensemble und Regie, sieht sich stattdessen in einem Garten spielen, der ihrer sein könnte, mit einem Haus darin, das ihres sein könnte. Sie folgt dem grasüberwucherten Pfad zur Tür, öffnet diese und -
Stille brandet ihr entgegen.
Plötzlich weiß sie ihren Text wieder, weiß ihn, wie sie sonst nichts weiß, außer dass sie ihn niemals im Skript hätte finden können.
(22.01.2013)
26 Raum
Das in Streifen geschnittene Licht. Wenn
sie die Augen zusammenkniff, flossen die Leuchtflächen ineinander und
bildeten eine einzige milchig strahlende Fläche. Wie ein vom Mond
beschienener Teich. Kopfüber tauchte sie hinein und - brach sich
sämtliche Knochen. Wie hatte sie Tiefe vermuten können in der Welt
hinter den Stäben?
Im
Gipsbett blieb ihr nichts anderes als die Gegenrichtung einzuschlagen
Dort gab es kein Licht, aber auch kein Ende. Sie heftete den Anfang
eines Fadens an die Innenseite der Gipshaut und ließ sich hinab. Es war
ein nachwachsender Faden, sie würde sich nicht verloren gehen. Ganz
schön weit, dachte sie, und meinte damit nicht den Weg, den sie vor sich
hatte, sondern den Raum.
Aus
welchem Material der Faden gemacht ist? Oh, das lässt sich unmöglich
feststellen. Es könnte sich um alles handeln - Zeit vielleicht - und um
nichts. Es könnte ein Murmeln sein aus unendlich vielen Geschichten. So
etwas in der Art.
Da ist ein Hall, wenn wir nach ihr rufen. Und ein Sog. Wir fassen uns an den Händen und zählen bis zehn. Dann springen wir.
(04.03.2013)
27 Immer noch // Ohne mich
Bei denen mit den Stilbruchoutfits steht sie
in ein zu enges Kleid gepresst,
das zehnte oder hundertste,
das sie dem Schrank entriss.
Nichts passt.
Entwirf dir doch was Eigenes!
Ach, wär'n da nicht die Muster,
gestochen scharf und immer noch
ganz tief in ihrem Kopf,
in ihrem ganzen Leib,
die dunklen Nähte,
Schnittmuster ihres Geists,
ein Spinnennetz.
Die Schere her! Die große
mit den breiten Klingen,
in Nabelhöhe angesetzt,
ein Kreuz zu schneiden
tief ins Fleisch,
das andre Kreuz
mitsamt dem schwarzen Garn
herauszuziehn,
dann eine grobe Naht,
Erinnerung,
denn lieber Narbenwuchs
und drunter Leere
als unversehrte Haut,
das Innere jedoch
fremdgewebt.
Der Schmerz, der Schmerz!
Und später sieht man sie entleert.
Und frei.
Sieht sie in Ketten (Was, in Ketten?!):
Glaube, Liebe, Hoffnung,
diese drei.
Vergaß sie die?
Die hat sie selbst und neu geschmiedet,
hat sie aus freien Stücken angelegt,
um sich zu halten
unter all den Bravo!-Rufern,
die ihre Selbstbefreiung feiern
und die mit Klebefäden
- so gutgemeinten! -
nach ihr werfen,
sie in das große weite Netz
der Stilbruchfreiheit
einzuweben.
Es wiederholt sich, denkt sie,
aber ohne mich.
(22.03.2013)
28 Nächtliche Besucher
Seit ein paar Nächten erhält sie wieder Besuch von den Nagetieren. Mühelos erklimmen die ihr Bett, kriechen unter ihre Decke, belagern ihr Kopfkissen. Richten glänzende Knopfaugenpaare auf ihr Gesicht, bis sie die Augen öffnet zum gegenseitigen Anstarren. Immer senkt sie als erste die Lider, nach minutenwährender Ewigkeit, kapituliert und lässt sich in einsames Entsetzen fallen.
Am Morgen wankt sie ins Bad und versorgt die Bisswunden, das nervenzerreißende Fiepen noch im Ohr.
Wird Zeit, dass ... dass ich endlich ... WAS DENN?
Mit der Stirn den Spiegel zu durchstoßen, hinabzusteigen in das dunkle Reich, die Verbindungen zu kappen.
IRGENDWO DA DRIN MUSST DU DOCH SEIN!
Nie käme sie auf die Idee, sich im Licht zu suchen. Nicht mit dieser empfindlichen Haut.
(23.03.2013)
29 Fadenlos
Sie halten es für offensichtlich und sprechen es deshalb laut aus, dass sie ihren Faden verloren habe. Ha, seht nur, sie hat den Faden verloren!
Aber das ist falsch. Denn offensichtlich und also richtig ist
lediglich, dass sie keinen Faden mehr besitzt, aber nicht, wie er ihr
abhanden kam. Wobei auch der Ausdruck des Abhandenkommens in eine
falsche Richtung weist, denn vielleicht kam er ja nicht abhanden - durch
verlieren oder vergessen oder genommen werden -, sondern vielleicht
steckte ja eine Absicht dahinter, ihre Absicht. Und ja, nun will sie die
Ironie beiseite lassen und frei heraus sagen, wie es ist: Sie hat den
Faden genommen, ihn in den Wind gehalten und losgelassen. Einfach so.
Mit voller Absicht. Weg war er, und sie hat nicht einmal darauf
geachtet, in welche Himmelsrichtung der Wind gerade wehte. Und sie weiß
nicht, kann es ja nicht wissen!, woher denn auch?, ob sie jemals wieder
zueinander kommen werden, der Faden und sie. Ach, und überhaupt: Braucht
sie doch nur in die Luft zu greifen und einen der lose flatternden
Fäden zu fassen. Muss es doch gar nicht dieser eine spezielle sein. Nie
je hat sie sich freier gefühlt als nach dem Loslassen des Fadens. Ja, so
etwas gibt es, Sie dürfen Ihre Münder nun wieder schließen und sich
Ihren alltäglichen Verrichtungen widmen, bis die nächste offensichtliche
Dabenheit in Ihrer Umgebung passiert. [Und das leise Ziepen in ihrer
Mitte, von dem sie nicht weiß, ob es vom Verheilen einer Wunde oder vom
Durchbruch eines neuen Fadens stammt, blendet sie, solange die
Offensichtlichkeitsdeuter sie noch umzingeln, einfach mal aus.]
(21.05.2013)
30 Abschied
Nahm sie ihren Abschied und heftete ihn
dir an. Auf die blanke Haut und bis aufs Blut diesmal. Sollte er nicht
wieder abfallen in den Staub ihr zu Füßen, dass sie sich bücken musste
und dass in dieser endlos langen Bewegung hinab und wieder hinauf der
Abschied schrumpelte wie ein geplatzter Ballon und ein Anheften nicht
mehr möglich gewesen wäre. Hätte sie selbst nämlich genau wie der
Abschied in dieser endlos langen Ab- und Aufwärtsbewegung alle
Standhaftigkeit verloren, alle Sicherheit über ein Wahres an ihrem Tun.
War das doch schon genau so geschehen. Einmal und wieder. Heftete sie
dir den Abschied also diesmal tief ins Blut. Fiel er nicht mehr ab.
Stand sie nun vor dir mit leeren Händen und standest du vor ihr mit
einem tiefen Loch in der Haut, aus dem regnete in winzigen Tropfen dein
Herz in den Staub. Bis du deinen eigenen Finger auf die Wunde legtest
und sagtest 'Halt!' Galt dieses 'Halt' deinem Blut und ihrem Blick. Und
gehörte dein Schmerz nur dir. Drehte sie sich endlich um. Gab es nichts
mehr für sie zu tun als dich deinen eigenen Kräften zu überlassen. Und
sich selbst dem Unwissen über dein Ergehen und einem freihändig neu
anzulegenden Weg.
(30.05.2013)
31 Körpersprache oder: "Kommst du?"
"Kommst du?"
"Nein."
"Was soll ...?"
Er
bringt die Frage, die sich im abrupten Stoppen seines Schritts aus ihm
herausformuliert, nicht zuende. Bereits seiner Kleider entledigt,
befindet er sich auf dem Weg vom Bad ins Schlafzimmer und ist ganz
selbstverständlich davon ausgegangen, dass sie ihm folgen würde. Wie
immer. Aus Gewohnheit. Und ohne ein Widerwort.
Und wie immer ist er nicht bewusst davon ausgegangen, sondern ohne auch
nur einen Gedanken daran zu verschwenden. Wie das bei Gewohnheiten, die
zu Automatismen geworden sind, eben so ist.
Und
die Frage "Kommst du?" war natürlich keine echte Frage, sondern eher
eine lapidare Aufforderung. Oder weniger eine Aufforderung als vielmehr
eine verkleidete Erwartung, das Voraussetzen eines zu leistenden
Gehorsams, der längst nicht mehr thematisiert wird.
Nicht
mehr? Nie war er doch thematisiert worden! Nicht einmal gedanklich. Ein
Gehorsam, dessen Existenz und Erwartung sogar abgestritten würden,
brächte jemand die Sprache darauf. Abgestritten zuvörderst von ihm, und
zwar ganz entschieden. Bis vor kurzem noch von beiden, auch von ihr, die
nie geduldet hätte, dass wer auch immer sie in der Position einer
Gehorchenden sähe. Nie.
Aber
dann hatte sich vor wenigen Tagen dieser Schmerz in ihr manifestiert.
Über Nacht war aus ihrem Rücken ein Stein geworden, ein unbeweglicher
Fels, ein -
und da stimmt das Bild der leblosen Materie nicht mehr - grausam
zubeißendes Etwas. Pein bereitend in jeglicher Haltung und Bewegung. Zu
besänftigen weder durch flaches Liegen noch durch aufrechtes Sitzen oder
Gehen.
Die Autofahrt zur
Notfallambulanz war eine Tortur, die Untersuchung durch den - zugegeben:
sehr freundlichen und kompetenten - Arzt ebenfalls. Erst die starken
Schmerz- und Relaxationsmittel brachten Linderung, zuvor vielleicht
schon ein wenig die Versicherung, dass nichts "Schlimmes"
dahinterstecke, die Wirbelsäule sei nicht ursächlich beteiligt, es
handele sich "lediglich" um eine heftige Verspannung, eine Verkrampfung
der Muskulatur, diese allerdings in extremer Ausprägung.
Sie wusste ja, dass sie ihrem Körper trauen konnte. Dass er mit ihr sprach und häufig klüger war als ihre restlichen Bestandteile. Dass sie ihn aber ebenso häufig überhörte und seine Forderungen verwarf, weil sie ihr unbequem schienen, auch wenn sie ihr letztlich dienten. Das alles wusste sie.
Vor
einigen Tagen dann die Nacht im Bett neben dem, den sie nicht mehr
liebte und dem sie bis zum Einschlafen demonstrativ den Rücken zudrehte.
Was ihrem Körper offenbar nicht genügte. Auf dessen, ihres Körpers,
Aufforderung sie dann aber nicht reagierte. Als er, ihr Körper, nämlich
fragte "Kommst du?" und damit meinte: Komm heraus aus diesem Bett, weg
von dem, den du nicht mehr liebst, hinaus aus diesem gemeinsamen Zimmer
in ein anderes, hinaus, hinaus, da hatte sie nicht auf ihn hören wollen.
Da hatte in der Folge ihr Rücken ein schmerzender Stein werden müssen.
Wie leicht es doch ist, sich zu irren, zum Beispiel im Zuteilen von Bedeutung. Oder darin, wer einem welche Frage stellen oder einen wozu auffordern darf. Wem Folge zu leisten ist und wem nicht. Wem zu trauen ist. Vor allem das: Wem zu trauen ist. Wem eine sich anvertrauen kann.
Ja. Darüber denkt sie neuerdings nach.
Es gibt einen, den stürzt das in heillose Verwirrung. Aber das hält er aus. Und auch sie hält es aus.
Und es gibt einen anderen, der braucht vorläufig keine Schmerzmittel mehr. In dem wohnt sie.
(09.07.2013)
32 Was nicht hinaus muss - oder doch?
Was vorbeigegangen ist und ein Stück von sich zurückgelassen hat. (Wurde dabei Blut vergossen?)
Was nicht hinaus muss, sich aber dennoch hinaus begibt, um zu spüren, ob es wirklich ist. Ob es auch draußen Bestand hat und sich nicht auflöst, erst in eine dünnhäutige Kugel Illusion, dann in Luft.
Und
wenn es Bestand hat, ob es dann erkannt wird als das was es ist: eine
Kugel aus purem Gold. Oder ob es seinen Glanz verliert und seinen Wert
in einem umgekehrten alchemistischen Prozess.
Und
wenn es sich auflöst, ob dann alles, was bisher war, was drinnen war,
sich rückwärtig ebenfalls auflöst, in Luft, von der sich noch nicht
einmal sagen lässt, ob sie atembar ist.
Was nicht hinaus muss, sich aber hinaus begibt, weil es auf der Suche ist nach etwas, das drinnen nicht existiert: ein sich darbietender Punkt, der winzig sein kann, aber an den sich anknüpfen lässt. Und weil diese Stelle der Berührung, der An- und Verknüpfung lebendiger pulsiert als alles Einsame, sei es noch so erhaben.
Wie es sich wieder zurückzieht, dabei das Mögliche im Auge behält.
Vor dem Fenster der Weg, beschritten vom Wechsel des Lichts und der Jahreszeiten, darunter der Herzschlag der Welt, ein warmes Pochen an ihren Fußsohlen, das trotz ihres hastigen Rückzugs haften bleibt.
Die Tür mit ihren zwei Seiten, an deren einer die Welt lehnt, eine unverbindliche Einladung in der Hand.
Sie, mit ihrer unvollständigen Sammlung von Abschieden, losen Fäden und Brüchen, der wiederkehrenden Melancholie, die eine gut Freundin ist, der Sehnsucht nach dem Meer und der Vorratspackung Paracetamol, all diesem ganz und gar schönwortig Banalen.
Was nicht hinaus muss - oder doch? - und sich zögernd hinaus begibt, einem eigenen Pulsschlag folgend.
(30.09.2013)
33 Leere Hände
Sie betrachtet ihre Handflächen, die
Linien darin, die in alle Himmelsrichtungen weisen, ineinander und
auseinander fließend, die Mulde, die ihre Hand bildet, wenn sie die
Muskeln entspannt, eine Mulde, in die sich ein runder Stein oder eine
volle Blüte oder ein Vogelkopf schmiegen könnten. Eine Hand, die leer
ist und frei und offen, weil etwas fertiggestellt ist und abgelegt. Eine
Hand, die nicht zwingend neu gefüllt werden muss, jedenfalls nicht
sofort, es hat Zeit, vielleicht kann sie zunächst unter fließendes
Wasser gehalten werden, in den Wind, ins Licht. Kann sie für einen
Moment auf eine sonnenbeschienene Mauer gelegt werden, über eine Wange
streichen, in Herznähe auf einer Brust ruhen. Legt sie beide Handflächen
aneinander, aufeinander, ineinander und lässt sie ein Weilchen ruhen,
spürt sie sich selbst und dass es Momente gibt, in denen nichts zwischen
ihr steht.
(29.10.2013)
34 Nichts als erlaubtes Gebiet
Sie spricht etwas aus, ihr selbst neu, obwohl es aus ihr kommt. Sie spricht es aus, wie man eine fremde Speise zum ersten Mal probiert: vorsichtig und neugierig zugleich. Und sie zieht dabei den Kopf ein, wie in Erwartung eines Urteils: "Das bist nicht du."
Das muss sie
noch lernen: Aufgerichtet bleiben im Neuen. Das ihr übel genommen wird,
weil es einen Schritt heraus bedeutet aus dem ihr zugemessenen Raum.
Aufgerichtet bleiben gegen die Anmaßung der Ordnungshüter. Ihren Fuß wie
eine Selbstverständlichkeit über die willkürlich gezogene Grenze hinweg
in die Erweiterung setzen. Und dort stur stehen bleiben. Irgendwann
wieder gehen. Nicht zurück, sondern weiter. Noch weiter.
Es
gibt nichts als erlaubtes Gebiet. Das Wissen darum trägt sie seit je in
sich, es war nur steif geworden vor lauter Nichtbenutzung.
Dann
wieder lehnt sie sich zurück, so weit, dass es fast wie ein Fallen
aussieht. Man möchte hinzuspringen und sie auffangen. Da lacht sie. Es
ist ein Spiel, eine Selbsterprobung. Und das Vergnügen, das sie daraus
zieht, ist ein derartiger Gewinn, dass er den Preis eines möglichen
schmerzlichen Aufpralls wert ist.
Was tut sie da bloß?
Eins
ist klar: Sie entwischt jeglichen Bennenungsversuchen. Es bleibt
nichts, als ihr zuzusehen. Hinzusehen. Oder weg. Ganz nach Belieben. Das
ist ihr So. Was. Von. Egal.
(14.01.2014)
35 Die kleinen Gärten
Die kleinen Gärten in ihrem Kopf. Mit
den eingerissenen Zäunen und den grenzüberwuchernden Pflanzen. Diese
sich selbst erobernde Landschaft. Wie gerne sie die durchstreift, dabei
über manche alte Markierung stolpert. Gewährt sie einen Einblick,
sprechen nicht wenige von Verwilderung und Zerfall. Sie nennt es Leben
und findet Zuflucht im Grün vor den Blicken blinder Voyeure.
(24.01.2014)
36 Bis sie es spürt
Was sie sich manchmal fragt: Ob es
ihr tatsächlich genügt, die einzige zu sein, die um alles weiß, was sie
verschweigt. Und wie es wäre, eine Sprache zu finden, die wie angegossen
passt. Mit der sie vor die Tür treten könnte und sagen: Seht her! Und
was in die Augen der Hersehenden fiele, wäre identisch mit dem, was sie
zeigte.
Wie sie
sich dann wieder sagt: Alles wiederholt sich und dreht sich im Kreis.
Und dass man nicht wissen kann, wo in diesem Kreis aus der
Vorwärtsbewegung möglicherweise eine Rückwärtsbewegung wird. Wo es
möglicherweise hängt, wie früher manchmal bei Schallplatten und man in
einer endlosen Wiederholung gefangen ist. Es sei denn, man greift ein.
Wie
sie sich ängstigt: Eingreifen? Woher soll sie denn wissen, dass sie es
ist, die da eingreift und nicht ihr ferngesteuertes Selbst? Und auch
diese Befürchtung: Die xte Wiederholung.
Wie sie sich anfeuert, zaghaft: Spring! Durchbrich den Kreis! Mach eine Bewegung, die du noch nie gemacht hast!
Wie sie erstarrt: Nein! Nicht! Nicht jetzt!
Wie sie sich erlaubt: Sich zu wiederholen, bis sie spürt: Ja! Jetzt! Bis sie es spürt. Es wirklich spürt. Dann. Und erst dann.
Wie sie (an)erkennt: Dass auch im Zögern Freiheit liegt, eine unermessliche sogar.
(26.04.2014)
37 Sie
I „Das Schreiben ist mir fremd geworden“, sagt sie und sieht mich dabei mit einem Ausdruck an, den ich nicht deuten kann.
„Vermisst du es?“, frage ich und warte tagelang auf eine Antwort. Warte bis heute.
Derweil wirft sie die verwelkten Rosen fort, bezieht die Betten neu, kauft Brot und Wein, liest nach vielen Jahren wieder die Romane von Colette.
„Sie wird mir noch davonfliegen“, denke ich und möchte ein Netz spannen um das, was in ihrem Kopf vor sich geht.
Sie hebt den Blick und lächelt mich nahezu an. „Lass mich“, sagt sie stumm. Und natürlich! Natürlich lasse ich sie.
Meine Hände sind leer. Ich könnte einen Stein aufheben oder eine Blume pflücken oder Wasser schöpfen oder einen Stift nehmen und ...
Ich nehme ihre Hand. „Ist gut“, sage ich.
II Ich nehme ihre Hand. „Ist gut“, sage ich.
So sitzen wir eine Weile, während meine Worte den Raum abtasten, sich dehnen, in eine eigene Haut hinein, so scheint es mir. Sie stellen sich spielerisch zur Schau, ganz unbefangen, und sagen: „Hier sind wir, nehmt uns, macht was draus.“
„Und nicht nur das Schreiben“, spricht sie unvermittelt in den raumgreifenden Nachhall hinein und im ersten Moment verstehe ich nicht. Dann dämmert mir, dass sie nicht an meine Worte anknüpft, sondern an ihre eigene Aussage, mit der unser Gespräch begann.
„Nicht nur das Schreiben?“ frage ich tastend.
Ich bin zu schnell für sie. Wieder vergehen Tage. Sie streicht ein paar Wände in Türkis, kocht einen großen Topf Fischsuppe, taucht ihr Gesicht in den Lavendelbusch vorm Haus.
Wenn sie vom Balkon aus ihren Blick über die Häuser und Gärten der Nachbarschaft schweifen lässt, spiegelt sich in ihren Augen das Meer.
„Wahnsinn“, denke ich in Ermangelung eines treffenderen Ausdrucks. Denn wahnsinnig, das ist sie wahrhaftig nicht.
„Dabei war das alles so sehr Teil meiner selbst.“ Sie sieht mich an. „Bin ich nun nicht mehr ganz? Sag, sitzt hier eine halbe Frau vor dir?“
Es gibt ein allgemein verfügbares Repertoire von Standardantworten, auf die sich immer zurückgreifen lässt. Alle verkneife ich mir. Und verkneife mir diesmal auch, ihre Hand zu nehmen.
Ich sehe sie an und halte ihren Blick mit einer Ernsthaftigkeit, dass sogar die Zeit einen Bogen um uns macht.
„Hemmnisse“, sagt sie, „und keinen Schimmer, woher sie kommen.“
Sie meint die Steine vor unserer Tür. Vermute ich. Täglich kommen neue hinzu, liegen auf dem Podest, dem Weg und in dem kleinen Vorgarten verteilt. Steine, gerade groß und schwer genug, dass sie sich nicht ohne Anstrengung fortbewegen lassen. Wohin denn auch? Vor des Nachbars Tür?
Ich möchte ihr einen Stift in die Hand drücken und sagen „Schreib! Schreib es auf!“ Nach tagelangem Zögern verwerfe ich diesen Gedanken. Sie atmet erleichtert auf.
Neuerdings trinken wir Quellwasser, das ich in Kanistern aus dem Wald hole. Ich habe noch keinen anderen Menschen dort getroffen, stoße aber hin und wieder auf Fußspuren. Nach etwa einer Stunde setzt das Vergessen ein, dann trete ich den Heimweg an.
„Wo warst du so lange?“, fragt sie, haucht auf die Fensterscheibe, hinter der sie auf mich gewartet hat, und malt mit dem Finger ihre Initialen auf die benebelte Fläche.
Ich vermag die Antwort nicht in Worte zu kleiden. Also üben wir Verzicht.
Sie holt zwei Gläser aus der Küche. Ich fülle sie mit dem Quellwasser. Wir prosten uns zu.
„Wenigstens haben wir Humor“, sagt sie und ich nicke so heftig, dass ich mich verschlucke.
„Ich wünschte ...“ Wieder einmal hängt sie einen Satzanfang in die Luft. Ich muss ständig den Kopf einziehen, wenn ich durch unser Haus gehe. Deshalb verbringe ich immer mehr Zeit im Schuppen. Dort steht unser Boot. Ich habe begonnen, es zu reparieren. Ein frischer Anstrich ist fällig. Neue Ruder müssen her.
Hin und wieder setzt sie einen Fuß in den Garten. Dann steht sie im hohen Gras, beschattet ihre Augen mit der Hand und sieht zu mir herüber. Manchmal winkt sie mir zu. Den entscheidenden Schritt macht sie nie.
Sie sitzt oft stundenlang da und hängt ihren Gedanken nach. Obwohl sie dann so abwesend wirkt und mich nicht zu bemerken scheint, füllt sie den Raum mit unausgesprochenen Aufforderungen: „Pst! Sprich mich nicht an! Mach einen großen Bogen um mich! Schließ die Tür hinter dir! Aber leise!“
Dass ich gehorche – tja. Wir sind ein eingespieltes Team.
Es gibt diese seltenen Nächte, in denen sprechen unsere Körper miteinander.
„... du würdest den Zwischenräumen mehr Gehör schenken.“, beendet sie einen vor langer Zeit angefangenen Satz.
Noch ein paar Tage, dann bin ich soweit mit dem Boot. Ich spiele mit dem Gedanken, allein hinauszufahren.
V Noch ein paar Tage, dann bin ich soweit mit dem Boot. Ich spiele mit dem Gedanken, allein hinauszufahren.
„Wie weit bist du mit dem Boot?“, fragt sie eines Abends unvermittelt.
„Fast fertig“, sage ich und hoffe, dass sie es nicht sehen will. Meine Reparaturarbeiten sind abgeschlossen. Ich habe bereits die Zeltausrüstung und Kleidung für ein paar Tage verstaut.
„Weißt du noch, unsere Bootswandertouren? Wie lang ist das her?“ Ihrem Gesichtsausdruck entnehme ich, dass sie keine Antwort von mir erwartet, sondern der Spur ihrer Erinnerung folgt.
Ihre Schweigsamkeit ...
Im Schuppen das Boot ...
„Ich werde ein Notizheft mitnehmen“, sagt sie. Es klingt wie ein Versprechen und eine Drohung zugleich.
„Was hindert uns?“, frage ich versuchshalber, Gott und die Welt vor Augen.
„Die Steine im Vorgarten“, antwortet sie ohne Zögern.
„Lass uns die Hintertür nehmen”, schlage ich vor. Mein Herz schlägt laut.
Übermut und Zweifel.
Nach vier Sätzen ohne nennenswerte Pausen dazwischen halte ich das Unmögliche für möglich.
Wir wären Kinder und begännen von vorn.
Sie schweigt zwei Tage lang.
„So einfach ist es nicht.“ Wer von uns beiden hat das gesagt?
VI „So einfach ist es nicht.“ Wer von uns beiden hat das gesagt?
Er ist unruhig wie ein Tier in Bedrängnis.
„Du weißt, dass ich höchstens einen Schritt über die Schwelle hinauskomme. Dann packt mich die Angst.“ Zwei Sätze hintereinanderweg, schon gerate ich mit dem Luftholen in Verzug. Und weiß auch gar nicht mehr, was nun an der Reihe ist: Ein- oder Ausatmen?
„Ja, ich weiß“, sagt er.
An seiner Erleichterung habe ich eine Weile zu knabbern. Tage. Oder sind es Nächte? Stunden?
„Kann ich dich denn alleine lassen?“, fragt er eines Morgens. Er hat Schuhe und Jacke schon an, trägt einen Proviantbeutel in der einen, den klimpernden Schlüsselbund in der anderen Hand.
Wenn ich jetzt Nein sagte ...
Wenn ich die Tränen nicht zurückhielte ...
Wenn ich ...
Stattdessen täusche ich das Gegenteil einer Ohnmacht vor.
„Also gut, dann ...“ Er drückt mir einen Kuss auf die Stirn. Sieht mir in die Augen, aus seinen lese ich den Fluss, den Ufersaum, die Ferne ...
An seinen Lippen klebt ein winziges Stückchen meiner Haut. Ich streiche mir über die geküsste Stirn, tupfe mit dem abgewischten Blutstropfen seine Nasenspitze rot.
Wir wären zwei traurige Clowns.
So fremd. So fremd.
„Adieu!“, rufe ich ihm Stunden später hinterher. Die geschlossene Tür schickt ein winziges Echo zu mir zurück. Ich spieße es mit meinem Bleistift auf und hefte es auf einen Bogen Papier.
„So sehen Anfänge aus“, denke ich.
VII „So sehen Anfänge aus“, denke ich.
„Was war das Schönste?“ fragt er. Mich.
Er ist seit Tagen unterwegs, also bereits viele Kilometer entfernt. Wir sprechen miteinander, ohne uns dabei ansehen zu können. Hat er mir zugezwinkert bei seiner letzten Frage? Stand ihm die Verzweiflung ins Gesicht geschrieben?
Aufgrund der räumlichen Distanz lässt sich auch der Tonfall kaum bewerten. Was ankommt, sind die Worte, ist der Text, dem erst das Hören einen Klang hinzufügt.
„Ich kann es nicht entscheiden. Da war so vieles ...“
Seine Frage hat sich in das Schweifen meines Blickes eingehakt, sie bremst ihn, zieht ihn fort, schiebt ihn näher heran ... Da war, da ist so vieles ...
Ich höre ein Lächeln, ja, ganz gewiss, sein Lächeln höre ich.
Er taucht die Ruder ein, seine Muskeln sind kräftiger geworden, sein Haar von der Sonne gebleicht. Ein Lächeln liegt auf seinem Gesicht. Wem oder was gilt es?
„Du bist schön.“
Sehen wir klarer, deutlicher auf die Distanz?
Ich öffne die Tür zum Garten und trete hinaus, mache zwei Schritte durchs Gras, drei, vier, streiche mit den Fingern über die inzwischen fast hüfthohen Halme.
Vielleicht schaffe ich es morgen bis zum Schuppen. Ich muss nachsehen, ob er mir eine Nachricht hinterlassen hat.
„Du auch.“
Ich betrachte meine Hände. Wie beendet man ein lang andauerndes Warten?
VIII Ich betrachte meine Hände. Wie beendet man ein lang andauerndes Warten?
Wie wacht man aus etwas auf, das weder Schlaf noch Traum ist?
Wie legt man etwas ab, das weder Kleid noch Haut ist?
Liste #1 (Bestandsaufnahme):
- das Haus
- der Stift, das Papier
- ich
Liste #2 (Bestandsaufnahme):
- der Fluss
- das Ruderboot
- er
Liste #3 (To do):
- zum Schuppen gehen
und seine Nachricht lesen (falls er eine hinterlassen hat)
- vors Haus gehen
und das Gewicht der Steine prüfen
- in den Wald gehen
und die Quelle suchen
Liste #4 (tägliche Übungen):
- atmen
- schreiben
Liste #5 (To be):
- what you want
[denk an/schreib über: - offene Türen
- die laue Luft
- das wogende Gras]
- everythingWas ich so eben noch sehen kann:
Wie er die Ruder tief eintaucht und sie kraftvoll durchs Wasser zieht. Das Boot treibt geschwind dahin. Es trägt ihn fort. Immer. Weiter. Fort.
Was ich so eben noch hören kann:
Seine Stimme. Ein paar unkenntliche Worte, die noch mir gelten mögen. Sein Lachen, das bereits etwas Neuem gilt.
All das nur schemenhaft. Wie sehr zarte Spinnweben. Mit einer ungelenken Handbewegung wische ich sie weg.
Dann trete ich vors Fenster. Die Nacht ist hereingebrochen.
„Und jetzt?“, fragt mein Spiegelbild.
(25.06.-24.07.2015)
38 Zufrieden
Sie vergreift sich an losen Fäden, knüpft zusammen, was angeblich nicht zusammen gehört, löst Verbindungen, die als unlösbar gelten. Sie vergreift sich. Manchmal auch im Ton. Und denkt sich: Das gehört dazu. Das gehört wozu?, fragt eine Stimme aus dem Off (oder ist es der Zweifler in ihrem Kopf?) Soll sie antworten? Sie betrachtet die Frage als losen Faden, der lose bleiben darf. Verweigerung. Gestaltungsmöglichkeit der Folgen. Es geht ja immer weiter, denkt sie. Weiß sie. Mit dem gleichmäßigen Drehgeräusch der Welt im Kopf schläft sie ein, träumt sie, wacht sie auf, tagwandelt sie. Einwicklung. Verwicklung. Entwicklung. Immer weiter. Mehr will sie gar nicht. Und die Ruhehäfen in den Zwischenräumen der Sprache. In denen alles wächst. Ihr zuwächst. Sie lässt und pflückt und lässt und pflückt. Ihre Hinzufügungen? Ja. Ihre Quelle? Auf ewig zu erforschen. Sie ist‘s zufrieden.
(30.10.2015)