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Freitag, 24. Juli 2015

Sie VIII

Ich betrachte meine Hände. Wie beendet man ein lang andauerndes Warten?

Wie wacht man aus etwas auf, das weder Schlaf noch Traum ist?

Wie legt man etwas ab, das weder Kleid noch Haut ist?

Ich fülle die leeren Seiten mit Listen. Das beruhigt mich und ist zumindest ein Anfang.


Liste #1 (Bestandsaufnahme):

- das Haus
- der Stift, das Papier
- ich


Liste #2 (Bestandsaufnahme):

- der Fluss
- das Ruderboot
- er


Liste #3 (To do):

- zum Schuppen gehen
  und seine Nachricht lesen (falls er eine hinterlassen hat)
- vors Haus gehen
  und das Gewicht der Steine prüfen
- in den Wald gehen
  und die Quelle suchen


Liste #4 (tägliche Übungen):

- atmen
- schreiben


Liste #5 (To be):

- what you want 
[denk an/schreib über: - offene Türen
- die laue Luft
- das wogende Gras]
- everything


Was ich so eben noch sehen kann: 
Wie er die Ruder tief eintaucht und sie kraftvoll durchs Wasser zieht. Das Boot treibt geschwind dahin. Es trägt ihn fort. Immer. Weiter. Fort.

Was ich so eben noch hören kann: 
Seine Stimme. Ein paar unkenntliche Worte, die noch mir gelten mögen. Sein Lachen, das bereits etwas Neuem gilt.

All das nur schemenhaft. Wie sehr zarte Spinnweben. Mit einer ungelenken Handbewegung wische ich sie weg.
Dann trete ich vors Fenster. Die Nacht ist hereingebrochen. 

„Und jetzt?“, fragt mein Spiegelbild.



Dienstag, 21. Juli 2015

Sie VII

„So sehen Anfänge aus“, denke ich.

Und komme nicht darüber hinaus.

„Was war das Schönste?“ fragt er. Mich.

Er ist seit Tagen unterwegs, also bereits viele Kilometer entfernt. Wir sprechen miteinander, ohne uns dabei ansehen zu können. Hat er mir zugezwinkert bei seiner letzten Frage? Stand ihm die Verzweiflung ins Gesicht geschrieben?
Aufgrund der räumlichen Distanz lässt sich auch der Tonfall kaum bewerten. Was ankommt, sind die Worte, ist der Text, dem erst das Hören einen Klang hinzufügt.

„Ich kann es nicht entscheiden. Da war so vieles ...“ 
Seine Frage hat sich in das Schweifen meines Blickes eingehakt, sie bremst ihn, zieht ihn fort, schiebt ihn näher heran ... Da war, da ist so vieles ...

Ich höre ein Lächeln, ja, ganz gewiss, sein Lächeln höre ich. 
Er taucht die Ruder ein, seine Muskeln sind kräftiger geworden, sein Haar von der Sonne gebleicht. Ein Lächeln liegt auf seinem Gesicht. Wem oder was gilt es?

„Du bist schön.“

Sehen wir klarer, deutlicher auf die Distanz?

Ich öffne die Tür zum Garten und trete hinaus, mache zwei Schritte durchs Gras, drei, vier, streiche mit den Fingern über die inzwischen fast hüfthohen Halme.
Vielleicht schaffe ich es morgen bis zum Schuppen. Ich muss nachsehen, ob er mir eine Nachricht hinterlassen hat.

„Du auch.“

Ich betrachte meine Hände. Wie beendet man ein lang andauerndes Warten?

Freitag, 3. Juli 2015

Sie VI

„So einfach ist es nicht.“ Wer von uns beiden hat das gesagt?

Er ist unruhig wie ein Tier in Bedrängnis.

„Du weißt, dass ich höchstens einen Schritt über die Schwelle hinauskomme. Dann packt mich die Angst.“ Zwei Sätze hintereinanderweg, schon gerate ich mit dem Luftholen in Verzug. Und weiß auch gar nicht mehr, was nun an der Reihe ist: Ein- oder Ausatmen?

„Ja, ich weiß“, sagt er.

An seiner Erleichterung habe ich eine Weile zu knabbern. Tage. Oder sind es Nächte? Stunden?

„Kann ich dich denn alleine lassen?“, fragt er eines Morgens. Er hat Schuhe und Jacke schon an, trägt einen Proviantbeutel in der einen, den klimpernden Schlüsselbund in der anderen Hand.

Wenn ich jetzt Nein sagte ...

Wenn ich die Tränen nicht zurückhielte ...

Wenn ich ...

Stattdessen täusche ich das Gegenteil einer Ohnmacht vor.

„Also gut, dann ...“ Er drückt mir einen Kuss auf die Stirn. Sieht mir in die Augen, aus seinen lese ich den Fluss, den Ufersaum, die Ferne ...

An seinen Lippen klebt ein winziges Stückchen meiner Haut. Ich streiche mir über die geküsste Stirn, tupfe mit dem abgewischten Blutstropfen seine Nasenspitze rot.

Wir wären zwei traurige Clowns.

So fremd. So fremd.

„Adieu!“, rufe ich ihm Stunden später hinterher. Die geschlossene Tür schickt ein winziges Echo zu mir zurück. Ich spieße es mit meinem Bleistift auf und hefte es auf einen Bogen Papier.

„So sehen Anfänge aus“, denke ich.





Mittwoch, 1. Juli 2015

Sie V

Noch ein paar Tage, dann bin ich soweit mit dem Boot. Ich spiele mit dem Gedanken, allein hinauszufahren.

„Wie weit bist du mit dem Boot?“, fragt sie eines Abends unvermittelt.

„Fast fertig“, sage ich und hoffe, dass sie es nicht sehen will. Meine Reparaturarbeiten sind abgeschlossen. Ich habe bereits die Zeltausrüstung und Kleidung für ein paar Tage verstaut.

„Weißt du noch, unsere Bootswandertouren? Wie lang ist das her?“ Ihrem Gesichtsausdruck entnehme ich, dass sie keine Antwort von mir erwartet, sondern der Spur ihrer Erinnerung folgt.

Ihre Schweigsamkeit ...

Im Schuppen das Boot ...

„Ich werde ein Notizheft mitnehmen“, sagt sie. Es klingt wie ein Versprechen und eine Drohung zugleich.

„Was hindert uns?“, frage ich versuchshalber, Gott und die Welt vor Augen.

„Die Steine im Vorgarten“, antwortet sie ohne Zögern.

„Lass uns die Hintertür nehmen”, schlage ich vor. Mein Herz schlägt laut.

Übermut und Zweifel.
Nach vier Sätzen ohne nennenswerte Pausen dazwischen halte ich das Unmögliche für möglich. 

Wir wären Kinder und begännen von vorn.

Sie schweigt zwei Tage lang.

„So einfach ist es nicht.“ Wer von uns beiden hat das gesagt?

Samstag, 27. Juni 2015

Sie IV

„Wenigstens haben wir Humor“, sagt sie und ich nicke so heftig, dass ich mich verschlucke.

„Ich wünschte ...“ Wieder einmal hängt sie einen Satzanfang in die Luft. Ich muss ständig den Kopf einziehen, wenn ich durch unser Haus gehe. Deshalb verbringe ich immer mehr Zeit im Schuppen. Dort steht unser Boot. Ich habe begonnen, es zu reparieren. Ein frischer Anstrich ist fällig. Neue Ruder müssen her.

Hin und wieder setzt sie einen Fuß in den Garten. Dann steht sie im hohen Gras, beschattet ihre Augen mit der Hand und sieht zu mir herüber. Manchmal winkt sie mir zu. Den entscheidenden Schritt macht sie nie.

Sie sitzt oft stundenlang da und hängt ihren Gedanken nach. Obwohl sie dann so abwesend wirkt und mich nicht zu bemerken scheint, füllt sie den Raum mit unausgesprochenen Aufforderungen: „Pst! Sprich mich nicht an! Mach einen großen Bogen um mich! Schließ die Tür hinter dir! Aber leise!“

Dass ich gehorche – tja. Wir sind ein eingespieltes Team.

Es gibt diese seltenen Nächte, in denen sprechen unsere Körper miteinander.

„... du würdest den Zwischenräumen mehr Gehör schenken.“, beendet sie einen vor langer Zeit angefangenen Satz.

Noch ein paar Tage, dann bin ich soweit mit dem Boot. Ich spiele mit dem Gedanken, allein hinauszufahren.


Freitag, 26. Juni 2015

Sie III

Ich sehe sie an und halte ihren Blick mit einer Ernsthaftigkeit, dass sogar die Zeit einen Bogen um uns macht.

„Hemmnisse“, sagt sie, „und keinen Schimmer, woher sie kommen.“

Sie meint die Steine vor unserer Tür. Vermute ich. Täglich kommen neue hinzu, liegen auf dem Podest, dem Weg und in dem kleinen Vorgarten verteilt. Steine, gerade groß und schwer genug, dass sie sich nicht ohne Anstrengung fortbewegen lassen. Wohin denn auch? Vor des Nachbars Tür?

Ich möchte ihr einen Stift in die Hand drücken und sagen „Schreib! Schreib es auf!“ Nach tagelangem Zögern verwerfe ich diesen Gedanken. Sie atmet erleichtert auf.

Neuerdings trinken wir Quellwasser, das ich in Kanistern aus dem Wald hole. Ich habe noch keinen anderen Menschen dort getroffen, stoße aber hin und wieder auf Fußspuren. Nach etwa einer Stunde setzt das Vergessen ein, dann trete ich den Heimweg an.

„Wo warst du so lange?“, fragt sie, haucht auf die Fensterscheibe, hinter der sie auf mich gewartet hat, und malt mit dem Finger ihre Initialen auf die benebelte Fläche.

Ich vermag die Antwort nicht in Worte zu kleiden. Also üben wir Verzicht.

Sie holt zwei Gläser aus der Küche. Ich fülle sie mit dem Quellwasser. Wir prosten uns zu.

„Wenigstens haben wir Humor“, sagt sie und ich nicke so heftig, dass ich mich verschlucke.

Donnerstag, 25. Juni 2015

Sie II

Ich nehme ihre Hand. „Ist gut“, sage ich.

So sitzen wir eine Weile, während meine Worte den Raum abtasten, sich dehnen, in eine eigene Haut hinein, so scheint es mir. Sie stellen sich spielerisch zur Schau, ganz unbefangen, und sagen: „Hier sind wir, nehmt uns, macht was draus.“

„Und nicht nur das Schreiben“, spricht sie unvermittelt in den raumgreifenden Nachhall hinein und im ersten Moment verstehe ich nicht. Dann dämmert mir, dass sie nicht an meine Worte anknüpft, sondern an ihre eigene Aussage, mit der unser Gespräch begann.

„Nicht nur das Schreiben?“ frage ich tastend.

Ich bin zu schnell für sie. Wieder vergehen Tage. Sie streicht ein paar Wände in Türkis, kocht einen großen Topf Fischsuppe, taucht ihr Gesicht in den Lavendelbusch vorm Haus.

Wenn sie vom Balkon aus ihren Blick über die Häuser und Gärten der Nachbarschaft schweifen lässt, spiegelt sich in ihren Augen das Meer.

„Wahnsinn“, denke ich in Ermangelung eines treffenderen Ausdrucks. Denn wahnsinnig, das ist sie wahrhaftig nicht.

„Dabei war das alles so sehr Teil meiner selbst.“ Sie sieht mich an. „Bin ich nun nicht mehr ganz? Sag, sitzt hier eine halbe Frau vor dir?“

Es gibt ein allgemein verfügbares Repertoire von Standardantworten, auf die sich immer zurückgreifen lässt. Alle verkneife ich mir. Und verkneife mir diesmal auch, ihre Hand zu nehmen.

Ich sehe sie an und halte ihren Blick mit einer Ernsthaftigkeit, dass sogar die Zeit einen Bogen um uns macht.

Sie I

„Das Schreiben ist mir fremd geworden“, sagt sie und sieht mich dabei mit einem Ausdruck an, den ich nicht deuten kann.

„Vermisst du es?“, frage ich und warte tagelang auf eine Antwort. Warte bis heute.

Derweil wirft sie die verwelkten Rosen fort, bezieht die Betten neu, kauft Brot und Wein, liest nach vielen Jahren wieder die Romane von Colette. 

„Sie wird mir noch davonfliegen“, denke ich und möchte ein Netz spannen um das, was in ihrem Kopf vor sich geht.

Sie hebt den Blick und lächelt mich nahezu an. „Lass mich“, sagt sie stumm. Und natürlich! Natürlich lasse ich sie.

Meine Hände sind leer. Ich könnte einen Stein aufheben oder eine Blume pflücken oder Wasser schöpfen oder einen Stift nehmen und ...

Ich nehme ihre Hand. „Ist gut“, sage ich.

Samstag, 24. November 2012

Sonntagsspaziergang 2 (Vater Mutter Kind 4)

Wie zum Beispiel die Hand des Vaters sich um deine schließt und den langweiligen Sonntagsspaziergang zu einem Engelsflug macht. Verschwindet deine kleine Hand vollends in seiner großen. Ist sie ein Vögelchen im Nest. Bist du selbst ein Vögelchen unter weitem Fittich. Fällt dein Blick auf eure Füße, versuchen deine kleinen einen Gleichschritt mit den großen, merken die großen das und verlegen sich aufs Trippeln. Musst du kichern.
Ist es überhaupt immer ein Spaß mit dem Vater, macht der so lustige Dinge, kennt er so viele Witze, kann er so tolle Sachen wie Hütten bauen und Schaukeln an hohen Ästen aufhängen und auf Grashalmen und Eichelhülsen pfeifen und Lagerfeuer machen. Kann er dich am Ende des Spaziergangs auf seinen Schultern tragen, ohne müde zu werden. Sitzt er später geduldig auf dem Sofa und lässt sich von dir die Haare kämmen und zu einer Königsfrisur gestalten.
Sind während alldem die Mutter und die Schwester unzufrieden. Schießen sie euch Blicke in den Rücken, flüstern sie einen Ärger hinaus, den du nicht hören willst. Scheppern sie in der Küche mit dem Geschirr, stören sie euren Frieden. Willst du das nicht und verschließt du deine kleinen Ohren, öffnest du sie nur für die Geschichten und die Lieder des Vaters.
Merkst du gar nicht, wie sie dich schützen, wie sie dich nicht einweihen in ihr Wissen um das Böse, wie sie dich im Glauben lassen, alles sei gut. Halten sie dich für klein und dumm. Aber bist du das nicht. Schützt du dich nämlich selbst. Wählst du die Türen, die du öffnest und die du schließt. Machst du es ganz anders als die Mutter und die Schwester. Wirst du ein ganz und gar stures Kind, lässt du nichts mehr an dich heran. Wird das immer so bleiben.
Sehen die Mutter und die Schwester deine kleine Gestalt und deine weiche Haut. Glauben sie, dass du nichts siehst und nichts weißt. Beneiden sie dich darum, manchmal so sehr, dass sie dir böse sind. Wünschen sie zugleich, dass du so unangetastet bleibst, so kindlich und frei.
Wissen sie nichts über dich.

Freitag, 23. November 2012

In deinem Bett 2 (Vater Mutter Kind 3)

Wie zum Beispiel euer Ehebett nach Verlangen riecht und du würgen musst. Stehst du davor und blickst auf den trunken schlafenden Leib. Liegt dieser mittendrin. Wird er erwachen, sobald du dich legst, wird er sich bäumen und über dich kommen. Hörst du sein gieriges Keuchen, spürst du sein gewaltiges Fordern, wirst du verschwindend klein. Kannst du dich nicht überwinden, deinen Platz einzunehmen. Schleichst du hinaus und schließt leise die Tür.
Stehst du gefällt im Flur zwischen drei Türen, hinter denen es schläft. Öffnest du die zum Zimmer deiner älteren Tochter. Weckst du das Kind, rückt es ganz nah an die Wand, macht es dir Platz in der Wärme. Zieht es eine Grenze dicht an seinem Rücken entlang. 
Kennst du diese Art Grenze, hast du selbst eine solche gezogen, damals im letzten Kriegsjahr. Lebte dieses jüdische Mädchen bei euch, versteckt und beschützt, ein ganzes Jahr lang. War sie so alt wie du, hätte sie deine Gefährtin sein können. Stahl sie dir aber deinen Platz im Bett. Nahm sie dir die Möglichkeit, deine Freundinnen zu treffen. Musstest du immerzu im Haus bleiben, war ja die Schule sowieso geschlossen und war die Gefahr viel zu groß, dass ein Wort über deine Lippen käme. Hast du versucht, verständig zu sein. Hast du ein Einsehen gehabt, war dieses Einsehen aber fern deinem Herzen. War da ein großer Zorn in dir auf das fremde Mädchen, so groß, wolltest du sein Leid nicht mehr sehen und die tödliche Gefahr. Sahst du nur noch dich und deinen Verzicht.
Hast du bald darauf begonnen dich zu schämen, so sehr. Wolltest du nie wieder selbstsüchtig sein. Wolltest du helfen und gut sein, wolltest du retten, was dir in die Hände fiel, wie zum Beispiel den zerschlagenen Mann ohne Mutter und ohne Heimat. Wolltest du alles wiedergutmachen, was schlecht war. Stießest du aber in jeder Richtung an eine Grenze ähnlich der im Bett deiner Tochter. Entzieht sich ein jedes deiner Hand, die sich so gerne beschwichtigend und heilend auf alles legen würde. 
Fällst du ohnmächtig in einen ohnmächtigen Raum.

Donnerstag, 8. November 2012

Sonntagsspaziergang (Vater Mutter Kind 2)

Wie zum Beispiel die Hand deiner jüngsten Tochter sich in deine schmiegt, den ganzen weiten Spazierweg lang und du manchmal zu fest zudrückst aus lauter Furcht, sie könnte dir ihre Hand entziehen. Aber tut sie das nicht, tritt sie dir stattdessen auf den Fuß und ruft "Hey, nicht so fest!", lacht noch dabei, ach, schießt dir eine Träne ins Auge. Nicht fassen kannst du dein Glück. Ist es so ganz und gar unverdient, zetern von hinten die Blicke, fallen sie stumm über eure Händeeinheit her. Sind da eine Frau und ein Mädchen, waren deine Frau und deine älteste Tochter. Spürst du den Vorwurf in ihren Blicken. Und die Traurigkeit. Bist du weit entfernt von einem Triumph, würdest du die beiden in deinem Rücken doch ebenso gern an den Händen halten. Wird das aber nie wieder möglich sein. Bist du ein Ungeheuer. Kannst du einfach nicht stehenbleiben und dich umdrehen und ein anderer sein. Wirst du immerzu wüten. 
Und wirst du immer der Mann sein, der ein Sohn ist, der die Mutter vermisst. Hat diese keine Hand für dich frei, hält sie darin deine toten Brüder. Bist du selbst mit dem einen Bruder nach dessen Geburt gestorben, bist du mit dem anderen im Krieg gefallen, bist du mit dem dritten verschollen. Bist du dreimal verschwunden und unsichtbar. Bis die Mutter eines Tages nicht länger vermisst, sondern vergisst, sich selbst und die Brüder und dich. Kennt sie dich nicht und niemanden mehr. Bist du nun tot oder frei? Weißt du es nicht. Vergisst du dich. 
Spürst du die bedingungslose Hand, die in deiner liegt. Spürst du die verhungernden Blicke im Rücken. Spürst du dein Unvermögen. Denkst du während des gesamten Weges an die Flasche in der Werkstatt und dass immer etwas zu werkeln ist in diesem vorwurfsfreien Raum mit dem unerschöpflichen Vorrat an Vergessen.

Sonntag, 4. November 2012

In deinem Bett (Vater Mutter Kind 1)

Wie zum Beispiel die Mutter dich weckt mitten in der Nacht und dich bittet, dichter zur Wand zu rücken, damit sie Platz hat neben dir, in deinem Bett. Nicht zu dem stinkenden Vater will sie sich legen, der über sie hereinbrechen könnte, der seine wütenden Fäuste auf ihrem Gesicht platzieren könnte und seinen ganzen berauschten Leib auf dem ihren, der doch ein Nein ist.
Spürst du diesen Nein-Leib neben deinem, wirst du zum Stock, willst du weder die Wand noch diesen entsetzten Rücken berühren. Braucht die Mutter ihren ganzen Schutz für sich selbst. Musst du im Zeitraffer wachsen und dich entscheiden. Gegen den Vater musst du dich entscheiden. Und musst du über deine kleine Schwester wachen, die im ahnungslosen Raum nebenan schläft, wie man sich nur wünschen kann zu schlafen.
Wirst du nie wieder so schlafen können wie die kleine Schwester, nie wieder allein in deinem Bett, auch dann nicht, wenn die Mutter den Platz gar nicht wünscht, wenn sie doch wieder beim Vater liegt.
Der Vater. Erkennst du seine Hände nicht mehr, die dich gehalten und hoch in die Luft geworfen und wieder aufgefangen haben. Erkennst du gar nichts mehr an ihm, nicht die Reiterknie, nicht die Hochsitzschultern, nicht die Blaublitzaugen, nicht den Mundharmonikamund, nicht die Gitarrenfinger. Wie kann das ein und derselbe Vater sein.
Und erkennst du auch die Mutter nicht mehr, ihren Schoß und ihren Leib, ihre Brust, ihre Arme, kennst das Warme, das Weiche, das Starke nicht mehr, war doch eine Burg und hat niemals gezittert vor Angst.
Kennst du sie beide nicht mehr. Sind nicht mehr Vater und Mutter, sind nur noch Mann und Frau, sind dein verstoßener Sohn und deine geliebte Tochter, und bist du hundertmal älter als zehn.