Ein paar Stunden zuvor:
Treuer fürchtete sich.
Nicht nur jetzt, in diesem Moment. Nein, die Furcht war ihr ständiger Begleiter, treu wie kein anderer.
Niemand wusste davon, niemand sah es ihr an. Da war auch nichts, das man ihr hätte ansehen können, denn sobald sie unter Menschen war, verspürte sie keinerlei Furcht mehr. Dann war sie stark und präsent. Dann konnte sie frei heraus reden und lachen, Forderungen stellen und Respekt einflößen, und alles war echt. Ihre Furcht verschwand, sobald sie am Morgen das Haus verließ.
Aber in der Nacht, allein in ihrer Wohnung, da fürchtete sie sich. Wenn sie nach Hause kam, knipste sie mit dem Sammelschalter, den sie direkt neben der Wohnungstür hatte installieren lassen, sämtliche Lampen an. Anschließend machte sie ihren Kontrollgang durch die Zimmer mit Blick in jede Ecke, hinter jede Tür. Erst dann drehte sie dreimal den Schlüssel im Schloss und zog Schuhe und Jacke aus.
Treuer dachte an die Tote. Die Vogelfrau, wie Bluhm sie nannte. Ihre Haut war weiß und zart, jedenfalls da, wo sie vom Sturz unbeschadet war. Da schien sie regelrecht unangetastet. Die weißen Schwingen. Der Flaum und die zarteren Federn, die vom geringsten Lufthauch bewegt wurden und von Lebendigkeit sprachen. Nicht von Auslöschung, wie der Asphalt und das Blut und der kalte Obduktionstisch.
Das Wunder der angewachsenen Flügel. Dr. F... hatte, als ihr das Wort Wunder von den Lippen sprang, die Stirn gerunzelt. Natürlich, hier in der kalten Sezierkammer war man Wissenschaftler pur. Es gab Fakten und streng begrenzte Schlüsse, die daraus gezogen wurden. Es gab offene Fragen und Thesen und Methoden und Spuren und Indizien und Beweise. Aber Wunder gab es nicht. Jedenfalls keine ausgesprochenen. Morgen sollte weiter untersucht, sollte geröntgt, seziert und mikroskopiert werden. Ein Ornithologe würde hinzugezogen werden.
Treuer dachte an den Satz, der auf der Rückseite der Liste stand: Ich bin nicht die Einzige. Einer der Kollegen hatte am Abend noch gemeint, wenn sie nicht allein gewesen sei, müsse man unbedingt auch in diese Richtung ermitteln. Ihr war das sofort aufgestoßen, der andere Wortlaut: die Einzige - allein. Sie war zu müde für eine Klarstellung und eine möglicherweise folgende Diskussion gewesen und hatte deshalb nichts gesagt. Ich bin nicht die Einzige. Nicht die einzige was? Vogelfrau? Nicht die Einzige, aber mit Sicherheit allein, sonst hätte sie sich nicht in den Tod gestürzt. Und wie es aussah, waren da noch mehr, die zwar nicht die Einzigen, aber ganz und gar allein waren.
Treuer lag im Bett, die Lampen waren ausgeschaltet bis auf die im Flur, die brannte die ganze Nacht hindurch. Ein kleines Licht gegen die Furcht. Wovor? Vor dem Dunkel und den darin lauernden Gestalten, die nur darauf warteten, ihre Nerven zu zerfetzen. Die mit ihren Klauen ihr Fleisch durchbohrten, mitten in ihren Leib griffen, um alles säuberlich Geschichtete durcheinander zu stoßen. Die keinen Halt machten vor dem Weggesperrten, die mit ihren Zähnen Schlösser knackten ...
Treuer stöhnte auf und wälzte sich auf die andere Seite, knipste zusätzlich das Lämpchen auf ihrem Nachttisch an, betrachtete das Foto, das dort im Silberrahmen stand: Sie als Kind auf einer Schaukel, hoch in der Luft, die Flügel des Elfenkostüms schimmerten in der Mittagssonne. Es war ihr fünfter Geburtstag, die Schaukel hatte der Vater gerade am stärksten Ast des Kastanienbaums aufgehängt. Bald würden die Gäste kommen. Sie spürte den Wind an den nackten Beinen, goldener Sonnenflitter regnete durchs Blätterdach auf sie herab. Alles sprühte und ihr kleines Herz platzte fast vor Glück. Das war die ganze herrliche Welt und sie mittendrin.
Irgendwann schlief Treuer ein, endlich, und mit ihr schlief die Furcht.
Wenn ich mich mit Treuer identifiziere- und das ist mir soeben passiert- dann möchte ich drum bitten, wen auch immer, nicht SO leben zu müssen!
AntwortenLöschenEine berechtigte Bitte. Mehr kann ich dazu gar nicht sagen, liebe Sonja.
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