Wenige Tage nach meiner Geburt wuchsen mir Flügel.
Noch bevor ich laufen konnte, flog ich im Zimmer umher, stieß dabei immer wieder an die Decke und trug deshalb tagsüber einen kleinen Helm. Des Nachts banden sie mir die Flügel am Rücken fest, damit ich nichts anstellte, während sie schliefen.
Ich trug stets ein Halsband, an dem sie eine Leine befestigten, wenn wir aus dem Haus gingen. Am Strand ließen sie mich steigen wie einen Drachen. Es gefiel mir, obwohl sie es zu ihrem eigenen Vergnügen taten, das verstand ich wohl.
Als ich das Alter eines Schulkindes erreichte, stellten sie einen Lehrer ein, der mich zuhause unterrichtete. Es lief gut zwischen uns, er blieb viele Jahre lang und lehrte mich alles Wissenswerte über Gott und die Welt.
Auch manches andere lehrte er mich, zum Beispiel dass ich unser Geheimnis für mich behalten musste. Aber das hätte ich auch so getan, denn ich schämte mich sehr dafür.
Ich fieberte meinem achtzehnten Geburtstag entgegen. Dann wäre ich endlich frei und könnte fliegen, wohin ich wollte. Und ich wollte weit weg fliegen. Sehr weit weg.
Als der Tag endlich kam, erwachte ich vor dem Morgengrauen und tastete als erstes nach meinem Halsband. Es war entfernt worden, wie ich es erwartet hatte.
Mit einem Jubelschrei strampelte ich die Bettdecke fort - vielmehr versuchte ich es. Vergeblich, ich konnte kaum die Beine bewegen.
Was ich dann sah, ließ mir den Atem stocken: Sie hatten mir einen kompletten Planeten an die Füße gebunden. Er machte jeden Schritt unglaublich schwer, und zu fliegen war fortan unmöglich für mich.
Also trat ich eine andere Reise an, eine Reise in mein Inneres, und erkannte schon bald, dass ich mich auf diese Weise viel weiter von ihnen entfernen konnte, als es in der äußeren Welt möglich gewesen wäre.
Ich erlernte eine neue Art des Fliegens, die mir Räume öffnete, von denen ich nicht geahnt hatte, dass sie existieren.
Hin und wieder begegnete ich anderen, die waren wie ich. Wir erkannten einander mit sicherem Instinkt und teilten oftmals ein Stück des Weges, manchmal nur für ein paar Stunden, manchmal auch für Jahre.
Einem begegnete ich, der lehrte mich eine neue Art der Fortbewegung: das Fließen. Es gelang mir mühelos und schon bald befriedigte es mich mehr als das Fliegen.
Dann, nach einer längeren Phase des einsamen Reisens, traf ich dich. Wir kamen aus verschiedenen Richtungen, hatten Ähnliches erlebt und erkannten uns als zwei überreife Flüsse kurz vor dem Erreichen des Ziels.
Für den Rest unseres Weges taten wir uns zusammen, kraulten uns hin und wieder die verkümmerten Flügel und mündeten schließlich gemeinsam ins Meer.
*
2011 schrieb ich ich folgenden Tweet:
„Ich würde ja fliegen, hinge nicht ein ganzer Planet an meinen Füßen.“
Nun wurde eine kleine Geschichte daraus.
Der Hauslehrer macht mir Sorgen. Aber das Bild des belasteten Menschen ist rundum stimmig.Ein poetischer, kleiner Text.
AntwortenLöschenDanke! <3
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