Sonntag, 19. Mai 2013

Kiruna oder: Regenwetter gleich (Krimi-)Lesewetter

"Dass ein Hund so schreien kann! Noch nie hat Samuel Johansson solche Laute von einem Hund gehört.
Da steht er in seiner Küche und schmiert sich ein Butterbrot. Sein Elchhund ist an einer Laufleine draußen im Hof angebunden. Ringsum Ruhe und Frieden.
Dann fängt der Hund an zu bellen. Anfangs scharf und aufgeregt.
Was bellt er da an? Jedenfalls kein Eichhörnchen. Das für Eichhörnchen reservierte Gebell kennt Samuel. Ein Elch? Nein, das Elchsgebell ist dumpfer und gleichmäßiger.
Dann passiert etwas. Der Hund schreit. Jault, als hätten sich die Tore der Hölle aufgetan. Bei diesem Jaulen läuft es Samuel Johansson eiskalt den Rücken hinunter.
Und dann ist plötzlich alles still."

So fängt der neue Krimi von Åsa Larsson an, der fünfte um die junge Staatsanwältin Rebecka Martinsson. Diesem Anfang folgt eine Bärenjagd und der Fund menschlicher Knochen im Magen des erlegten und ausgeweideten Bären.  Erst später wird dieser Fund mit dem eigentlichen Kriminalfall in Zusammenhang gebracht werden.

Larssons jüngstes Buch trägt den Titel "Denn die Gier wird euch verderben". Ein Titel, der mich abgeschreckt hätte, wären mir nicht bereits die Autorin und ihre vier Vorgängerkrimis bekannt. Ich mag keine Titel, die mit Und, Denn oder Aber beginnen. Im Original lautet er "Till offer åt Molok", was ich mit "Dem Moloch zu opfern" übersetze (Schwedischkenner mögen mich korrigieren).

Rebecka Martinsson stammt wie ihre Autorin aus Kiruna, der nördlichsten Stadt Schwedens. Im Juni/ Juli scheint hier 50 Tage lang die Mitternachtssonne, im Dezember herrscht 20 Tage lang Polarnacht. Die Stadt liegt zwischen zwei Erzbergen und enstand ab Ende des achtzehnten Jahrhunderts als Siedlung um eins der weltweit größten Eisenbergwerke. Was ich deshalb erwähne, weil es, wie sich im Lauf der Lektüre herausstellt, wesentlich mit der Geschichte zu tun hat.

Rebecka Martinsson hat in Stockholm Jura studiert und Anstellung in einer renommierten Anwaltskanzlei gefunden. Im ersten Krimi Larssons reist sie nach Kiruna, um dort die Ermittlung in einem Mordfall zu leiten, in einem der späteren Bände keht sie ganz zurück in ihre Heimat.
Hier ist sie nun mit ihrem inzwischen fünften Mordfall konfrontiert. Wie immer ermittelt sie im Verbund mit der Kriminalkommissarin Anna-Maria Mella. Diese hat Familie, vier Kinder, ein turbulentes Privatleben und eine Vollzeitstelle. Übrigens ein tolles Frauengespann, diese beiden!

Zum aktuellen Fall: Eine Frau namens Sol-Brit wird in der Nähe Kirunas grausam ermordet. Des Nachts im Schlaf in ihrem Bett mit einer Heugabel erstochen.
Mit im Haus lebt Sol-Brits Enkel, der siebenjährige Markus. Als man die Leiche entdeckt, ist Markus verschwunden, wird aber bald schon völlig verängstigt in einem Waldversteck gefunden. Es dauert geraume Zeit und bedarf einer Spezialistin für die Befragung von Kindern, bis auch nur ansatzweise ein paar verwertbare Hinweise aus ihm herauszukriegen sind. Schnell ist allerdings klar, dass auch sein Leben bedroht ist. Anschläge werden auf ihn verübt; der Polizeibeamte Krister nimmt ihn in seine Obhut.

Überhaupt scheint Sol-Brits gesamte Familie seit Generationen vom Unglück verfolgt. Sowohl ihr Sohn, als auch ihr Mann und die Großmutter kamen gewaltsam zu Tode, teils durch bis heute ungeklärte Unfälle, teils - wie die Großmutter - erwiesenermaßen durch Mord.
Was ist da los in dieser Familie?

Sol-Brits Großmutter Elina Pettersson arbeitete als junge Lehrerin im gerade aufsteigenden Kiruna und war durch eine tragische Liebe mit dem damaligen Bergwerksdirektor Hjalmar Lundbohm verbunden.
Diese Geschichte bildet den zweiten Erzählstrang. Kiruna im Jahre 1914. Die Schönheit der Landschaft, die Länge des Winters, die Härte der Bergweksarbeit, die Unnachgiebigkeit der hierarchischen Gesellschaftsordnung, der aufkommende Reichtum und die damit erwachende Gier. Eine alles verderbende Gier, die dem Buch seinen Titel gibt und sich als das wesentliches Motiv in diesem, in seinen Wurzeln weit zurückreichenden Kriminalfall herauskristallisiert.

Mit viel Liebe beschreibt Åsa Larsson die Landschaft, das spezielle Lebensgefühl damals wie heute in dieser so kalten Gegend. Neben aller Spannung, neben aller akribischen und aufreibenden Ermittlungsarbeit, der Gewalt, den irreführenden Spuren gibt es viele atmosphärisch schöne Szenen: Die Bärenjagd vom Anfang (ja, auch diese ist, trotz der Grausamkeit, schön in ihrer Beschreibung), ein Saunabesuch, Schnapsbrennerei, Fischfang, spontane gemeinsame Mahlzeiten aus Rentierstreifen, Moltebeeren und anderen regionaltypischen Gerichten ...

Die persönlichen Beziehungen spielen natürlich eine Rolle, private wie dienstliche. Nicht nur die tragische Liebesgeschichte im Kiruna um 1914, auch eine ganz anrührende zarte Annäherung zwischen Rebecka und Krister, dem Polizeibeamten. Und es gibt einen fiesen Staatsanwalt mit heftiger Profilneurose, der Rebecka den Fall streitig machen will. 
Darüberhinaus ist der Roman von zahlreichen Hunden bevölkert, oder vielmehr Hundepersönlichkeiten. Diese werden von Larsson so liebevoll gezeichnet, dass sogar ich, die ich eigentlich keine Hunde mag, am liebsten mit jedem einzelnen aus diesem Buch befreundet wäre.

Es fehlt nicht an sprachlicher Würze, den Protagonisten wird so einiges zugemutet, nicht zuletzt versucht Åsa Larsson auch in diesem wie schon in den vier Vorgängerbänden, ihre Ermittlerin Rebecka Martinsson umzubringen. Oh, oh ... Aber mehr wird nicht verraten.

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"Ich stolperte und fiel. Das Buch riss sich los und lief in den Wald. Dank euch allen, die ihr mir auf die Füße geholfen habt, ihr wisst, wen ich meine. Eine Zeit lang glaubte ich, es werde nie mehr zurückkommen. Aber dann kam es doch, das geliebte Scheißbuch."

So beginnt  Åsa Larsson die Dankesworte am Ende ihres jüngsten Krimis.
Und zum Glück kam er! Kam es, das "Scheißbuch". Es brauchte länger als die vier Vorgängerromane um die junge Anwältin Rebecka Martinsson, aber es kam schließlich doch, und wir dürfen froh darüber sein.
Und aus dem Nachwort:
 
"Ich lese ein wenig über den Moloch. Der scheint ein Gott zu sein, der Reichtum, gute Ernten und Kriegsglück schenken kann. Aber welcher Gott versprach denn nicht genau das? Es wurden auch Kinder geopfert. Es gab hohle Molochstatuen aus Kupfer. Sie hatten Arme, die vieles umfassen konnten. In der Statue wurde ein Feuer angezündet, so dass sie glühend heiß wurde. Dann wurde dem Moloch ein lebendes Kind in die Arme gelegt.
Daran habe ich gedacht, als ich dieses Buch geschrieben habe. An das Opfern von Kindern, für den Fortschritt, für weltliche Ehre."

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Hier, auf ihrer deutschsprachigen Website finden sich alle wichtigen Informationen zu Åsa Larsson und ihren Krimis.

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