Vögelchen (Roman)

1 Schimmlige Zitronen (draußen)

 "Hier, Vögelchen, kannste Limonade draus machen!", rief Cat und streckte den Arm durchs Küchenfenster. An ihrem Zeigefinger baumelte ein Netz mit angeschimmelten Zitronen. "Mit schönen Grüßen vom Leben". Sie lachte. Ich packte das Netz an einem Zipfel und warf es in die Spüle.
 "Die sind eklig."
 "Sind sie nicht. Hunger ist eklig. Und Durst ist eklig." Cat wusste alles besser.
 "Und wie, bitteschön, soll ich da Limonade draus machen?"
 "Auspressen, Wasser dazu und Zucker. Du weißt echt gar nichts." Sie drückte mir noch eine volle Einkaufstüte in die Hand und kam dann reingeklettert.
 "Benutz doch mal die Tür wie normale Menschen!", schimpfte ich, aber das war nur wegen der Zitronen. In Wirklichkeit bewunderte ich Cat. Nächstes Mal würde ich auch das Fenster nehmen, nicht die langweilige Tür.
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 Cat war meine beste Freundin. Nee, die einzige. Sie hatte mich "da" rausgeholt.
 "Ich hol dich da raus.", hatte sie immer wieder gesagt. "Eines Tages hol ich dich da raus, und dann können sie verrecken an ihrer Frömmigkeit und an ihrem Drecksgewissen."
 Und so war es gekommen. Eines Nachts hatte sie Steinchen an mein Fenster geworfen und mich mitten aus dem Schlaf gerissen.
 "Komm, ich hab was für uns gefunden!", hatte sie leise zu mir hoch gerufen, und ich hatte meinen Rucksack genommen, der schon seit Wochen gepackt im Bettkasten versteckt lag und war mit ihr gegangen.
 Seitdem wohnten wir hier in diesem Haus. Nächste Woche sollten die Bautrupps anrücken, dann mussten wir weiter. Cat würde schon etwas finden.
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 "Du löst dich mal wieder auf.", sagte Cat und schaute mich von der Seite an, dann verschwand sie aus der Küche.
 Aus meiner abgeschnittenen Jeans krümelte es kleine graue Röllchen. Ich merkte, wie ich rot wurde. Dabei war Cat gar nicht mehr im Zimmer. Sie ging immer raus, wenn mir was Peinliches passierte, vor allem das mit den Röllchen. Die kamen vom Klopapier, das ich mir da unten reinstopfte. Manchmal vergaß ich, es rechtzeitig zu wechseln. Dann löste es sich auf, und  kleine Fitzelchen rutschten zwischen meiner Haut und dem Jeansstoff nach unten. Dabei bildeten sie dann diese Röllchen.
 Ich sammelte alle auf und warf sie ins Gestrüpp vor dem Fenster. Dann ging ich zum Klo.
 "Kannst wieder reinkommen!", rief ich Cat aus dem Flur zu. Vom Klo aus hörte ich sie mit der Einkaufstüte rascheln.
 'Wenn ich mir ein bisschen Zeit lasse, fängt sie vielleicht schon an mit der Limonade.', dachte ich und fischte unser Tagebuch aus dem Karton mit der schmutzigen Wäsche.
 'Tag 10', war der gestrige Eintrag überschrieben. Ich blätterte um und schrieb: 'Tag 11: V.: Cat spinnt ja wohl. Jetzt sollen wir schon schimmlige Zitronen essen. Voll eklig!'

(09.08.2012)



2 V wie Victim (im Zentrum)

 Zwei Freundinnen betreten den Speisesaal und gesellen sich zu den anderen Mädchen, die vor der Essensausgabe warten. Eine der beiden trägt ein weißes Kleid und funkelt damit wie ein Stern unter all den Blaugekleideten.
 "Sieh an, ein frisch geschlüpftes Vögelchen!", ruft eine der Küchendienerinnen, als die Reihe an ihnen ist, und schiebt den Mädchen ihre Frühstücktabletts zu. Die Kleine im weißen Kleid streckt stolz die Brust heraus, auf der ein rotgesticktes V prangt.
 "V wie Victim", murmelt eine andere Küchendienerin.
 "Hüte deine Zunge!", wird sie von der ersten zurechtgewiesen.
 "Ist doch wahr!", zischt die zweite zurück.
 "Oje, das gibt bestimmt Zungenverbot.", flüstert das blaugekleidete Mädchen der Freundin zu. 
 "Selbst Schuld", urteilt Vögelchen, obwohl sie die Bedeutung des Wortes Victim  nicht kennt.
 Zungenverbot wird bei Wortverstößen erteilt und gehört zu den gefürchtetsten Lektionen. Man darf sieben Monate lang nicht sprechen, mit niemandem. Jeder Verstoß gegen das Verbot zieht sieben weitere Monate Schweigen nach sich. Es gibt Scharangehörige, von denen die Mädchen noch nie einen Laut vernommen haben. 
 Zur Feier des Tages erhält Vögelchen einen Miniaturschokoladenkuchen, in dessen Mitte eine rote Kerze prangt.
 "Dankeschön!", sagt sie artig, macht einen Knicks und will mit dem Tablett zu ihrem Platz.
 "Halt, nicht so schnell!", ruft die Küchendienerin und zieht raschelnd eine Streichholzschachtel aus der Kitteltasche. "Alles Gute zum zehnten Geburtstag, mein Herz! Gott segne dein Gefäß!" Sie zündet die Kerze an und lässt Vögelchen das Streichholz auspusten. "Und wenn du nachher die Kerze ausbläst, darfst du dir etwas wünschen."
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 Am Tisch steht Vögelchen im Mittelpunkt. Die Mädchen um sie herum, die alle ihren zehnten Geburtstag noch nicht erreicht haben, bestürmen sie mit Fragen, von denen sie keine einzige beantworten kann.
 Wie sind die Einzelzimmer? Was passiert in der Lektionenwoche? Und danach? Was hat es mit der Vorbereitung des dritten Gefäßes auf sich?  Stimmt es, dass Moses die Vögelchen persönlich in ihren Zimmern aufsucht? Und was muss erfüllt sein, damit sie zu den Schwanenanwärterinnen aufsteigen darf?
 Vögelchen schwirrt der Kopf, ihre Augen glänzen und ihre Wangen leuchten apfelrot. Das Geburtstagsfrühstück ist die letzte Mahlzeit mit den Freundinnen. Die letzte Nacht im großen Schlafsaal liegt bereits hinter ihr. Noch am Vormittag soll der Umzug in eins der Zimmer auf dem Vögelchenflur vonstatten gehen. Sie wird den Sack mit den blauen Kleidern in die Wäscherei bringen und einen neuen mit lauter weißen erhalten, solche wie dieses, das sie gerade trägt und das heute früh an ihrer Schranktür hing und ihr Herz hüpfen ließ wie ein junges Lamm.
 Vögelchen fühlt sich wichtig. Nach Mund und Ohren wird nun ihr drittes Gefäß vorbereitet werden, der erste Schritt ihrer Entwicklung zum Schwan. Das hebt sie von den Freundinnen ab, die zu ihr aufschauen und das schöne Kleid bewundern.
 Und Vögelchen hat Angst. Denn all die Wunderbarkeiten wie das Einzelzimmer mit eigenem Bad, die schönen weißen Kleider, die Aussicht, von Moses persönlich aufgesucht zu werden, all diese Wunderbarkeiten können sie nicht von dem Gedanken ablenken, dass dieses dritte Gefäß eine dunkle empfindliche Höhle ist, die sie bisher kaum selbst zu ertasten gewagt hat.
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 "Ich glaube, du musst los." Die Freundin reißt sie mit einem sanften Schubs aus ihren Gedanken und zeigt zur Tür. Da stehen zwei Aufseherinnen und bedeuten ihr mit einem Wink, das Frühstück zu beenden und ihnen zu folgen.
 Vögelchen umarmt die Freundinnen, dann kneift sie die Augen zu und bläst die Kerze aus.
 "Was hast du dir gewünscht?"
 "Verrat ich nicht."

(12.08.2012)



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(Vögelchen läuft unter Verschluss weiter.)



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