Vater Mutter Kind (autofiktionale Kurzprosa)

(Die Teile 1 bis 4 bilden zusammen eine aus vier verschiedenen Perspektiven erzählte Episodengeschichte.)

 
1 In deinem Bett 1

Wie zum Beispiel die Mutter dich weckt mitten in der Nacht und dich bittet, dichter zur Wand zu rücken, damit sie Platz hat neben dir, in deinem Bett. Nicht zu dem stinkenden Vater will sie sich legen, der über sie hereinbrechen könnte, der seine wütenden Fäuste auf ihrem Gesicht platzieren könnte und seinen ganzen berauschten Leib auf dem ihren, der doch ein Nein ist.
Spürst du diesen Nein-Leib neben deinem, wirst du zum Stock, willst du weder die Wand noch diesen entsetzten Rücken berühren. Braucht die Mutter ihren ganzen Schutz für sich selbst. Musst du im Zeitraffer wachsen und dich entscheiden. Gegen den Vater musst du dich entscheiden. Und musst du über deine kleine Schwester wachen, die im ahnungslosen Raum nebenan schläft, wie man sich nur wünschen kann zu schlafen.
Wirst du nie wieder so schlafen können wie die kleine Schwester, nie wieder allein in deinem Bett, auch dann nicht, wenn die Mutter den Platz gar nicht wünscht, wenn sie doch wieder beim Vater liegt.
Der Vater. Erkennst du seine Hände nicht mehr, die dich gehalten und hoch in die Luft geworfen und wieder aufgefangen haben. Erkennst du gar nichts mehr an ihm, nicht die Reiterknie, nicht die Hochsitzschultern, nicht die Blaublitzaugen, nicht den Mundharmonikamund, nicht die Gitarrenfinger. Wie kann das ein und derselbe Vater sein.
Und erkennst du auch die Mutter nicht mehr, ihren Schoß und ihren Leib, ihre Brust, ihre Arme, kennst das Warme, das Weiche, das Starke nicht mehr, war doch eine Burg und hat niemals gezittert vor Angst.
Kennst du sie beide nicht mehr. Sind nicht mehr Vater und Mutter, sind nur noch Mann und Frau, sind dein verstoßener Sohn und deine geliebte Tochter, und bist du hundertmal älter als zehn.

(04.11.2012)



2 Sonntagsspaziergang 1

Wie zum Beispiel die Hand deiner jüngsten Tochter sich in deine schmiegt, den ganzen weiten Spazierweg lang und du manchmal zu fest zudrückst aus lauter Furcht, sie könnte dir ihre Hand entziehen. Aber tut sie das nicht, tritt sie dir stattdessen auf den Fuß und ruft "Hey, nicht so fest!", lacht noch dabei, ach, schießt dir eine Träne ins Auge. Nicht fassen kannst du dein Glück. Ist es so ganz und gar unverdient, zetern von hinten die Blicke, fallen sie stumm über eure Händeeinheit her. Sind da eine Frau und ein Mädchen, waren deine Frau und deine älteste Tochter. Spürst du den Vorwurf in ihren Blicken. Und die Traurigkeit. Bist du weit entfernt von einem Triumph, würdest du die beiden in deinem Rücken doch ebenso gern an den Händen halten. Wird das aber nie wieder möglich sein. Bist du ein Ungeheuer. Kannst du einfach nicht stehenbleiben und dich umdrehen und ein anderer sein. Wirst du immerzu wüten. 
Und wirst du immer der Mann sein, der ein Sohn ist, der die Mutter vermisst. Hat diese keine Hand für dich frei, hält sie darin deine toten Brüder. Bist du selbst mit dem einen Bruder nach dessen Geburt gestorben, bist du mit dem anderen im Krieg gefallen, bist du mit dem dritten verschollen. Bist du dreimal verschwunden und unsichtbar. Bis die Mutter eines Tages nicht länger vermisst, sondern vergisst, sich selbst und die Brüder und dich. Kennt sie dich nicht und niemanden mehr. Bist du nun tot oder frei? Weißt du es nicht. Vergisst du dich. 
Spürst du die bedingungslose Hand, die in deiner liegt. Spürst du die verhungernden Blicke im Rücken. Spürst du dein Unvermögen. Denkst du während des gesamten Weges an die Flasche in der Werkstatt und dass immer etwas zu werkeln ist in diesem vorwurfsfreien Raum mit dem unerschöpflichen Vorrat an Vergessen.

(8.11.2012)



3 In deinem Bett 2

Wie zum Beispiel euer Ehebett nach Verlangen riecht und du würgen musst. Stehst du davor und blickst auf den trunken schlafenden Leib. Liegt dieser mittendrin. Wird er erwachen, sobald du dich legst, wird er sich bäumen und über dich kommen. Hörst du sein gieriges Keuchen, spürst du sein gewaltiges Fordern, wirst du verschwindend klein. Kannst du dich nicht überwinden, deinen Platz einzunehmen. Schleichst du hinaus und schließt leise die Tür.
Stehst du gefällt im Flur zwischen drei Türen, hinter denen es schläft. Öffnest du die zum Zimmer deiner älteren Tochter. Weckst du das Kind, rückt es ganz nah an die Wand, macht es dir Platz in der Wärme. Zieht es eine Grenze dicht an seinem Rücken entlang. 
Kennst du diese Art Grenze, hast du selbst eine solche gezogen, damals im letzten Kriegsjahr. Lebte dieses jüdische Mädchen bei euch, versteckt und beschützt, ein ganzes Jahr lang. War sie so alt wie du, hätte sie deine Gefährtin sein können. Stahl sie dir aber deinen Platz im Bett. Nahm sie dir die Möglichkeit, deine Freundinnen zu treffen. Musstest du immerzu im Haus bleiben, war ja die Schule sowieso geschlossen und war die Gefahr viel zu groß, dass ein Wort über deine Lippen käme. Hast du versucht, verständig zu sein. Hast du ein Einsehen gehabt, war dieses Einsehen aber fern deinem Herzen. War da ein großer Zorn in dir auf das fremde Mädchen, so groß, wolltest du sein Leid nicht mehr sehen und die tödliche Gefahr. Sahst du nur noch dich und deinen Verzicht.
Hast du bald darauf begonnen dich zu schämen, so sehr. Wolltest du nie wieder selbstsüchtig sein. Wolltest du helfen und gut sein, wolltest du retten, was dir in die Hände fiel, wie zum Beispiel den zerschlagenen Mann ohne Mutter und ohne Heimat. Wolltest du alles wiedergutmachen, was schlecht war. Stießest du aber in jeder Richtung an eine Grenze ähnlich der im Bett deiner Tochter. Entzieht sich ein jedes deiner Hand, die sich so gerne beschwichtigend und heilend auf alles legen würde. 
Fällst du ohnmächtig in einen ohnmächtigen Raum.

(23.11.2012)



4 Sonntagsspaziergang 2

Wie zum Beispiel die Hand des Vaters sich um deine schließt und den langweiligen Sonntagsspaziergang zu einem Engelsflug macht. Verschwindet deine kleine Hand vollends in seiner großen. Ist sie ein Vögelchen im Nest. Bist du selbst ein Vögelchen unter weitem Fittich. Fällt dein Blick auf eure Füße, versuchen deine kleinen einen Gleichschritt mit den großen, merken die großen das und verlegen sich aufs Trippeln. Musst du kichern.
Ist es überhaupt immer ein Spaß mit dem Vater, macht der so lustige Dinge, kennt er so viele Witze, kann er so tolle Sachen wie Hütten bauen und Schaukeln an hohen Ästen aufhängen und auf Grashalmen und Eichelhülsen pfeifen und Lagerfeuer machen. Kann er dich am Ende des Spaziergangs auf seinen Schultern tragen, ohne müde zu werden. Sitzt er später geduldig auf dem Sofa und lässt sich von dir die Haare kämmen und zu einer Königsfrisur gestalten.
Sind während alldem die Mutter und die Schwester unzufrieden. Schießen sie euch Blicke in den Rücken, flüstern sie einen Ärger hinaus, den du nicht hören willst. Scheppern sie in der Küche mit dem Geschirr, stören sie euren Frieden. Willst du das nicht und verschließt du deine kleinen Ohren, öffnest du sie nur für die Geschichten und die Lieder des Vaters.
Merkst du gar nicht, wie sie dich schützen, wie sie dich nicht einweihen in ihr Wissen um das Böse, wie sie dich im Glauben lassen, alles sei gut. Halten sie dich für klein und dumm. Aber bist du das nicht. Schützt du dich nämlich selbst. Wählst du die Türen, die du öffnest und die du schließt. Machst du es ganz anders als die Mutter und die Schwester. Wirst du ein ganz und gar stures Kind, lässt du nichts mehr an dich heran. Wird das immer so bleiben.
Sehen die Mutter und die Schwester deine kleine Gestalt und deine weiche Haut. Glauben sie, dass du nichts siehst und nichts weißt. Beneiden sie dich darum, manchmal so sehr, dass sie dir böse sind. Wünschen sie zugleich, dass du so unangetastet bleibst, so kindlich und frei.
Wissen sie nichts über dich.

(24.11.2012)



*



Alles mündet in Mensch

Wie sich der Vater zu jeder Mahlzeit quer über den Tisch legt und sich auf alle Teller verteilt in Schweigehäufchen, und wie wir Kinder glauben, dass er das tut, um zu gebieten, und dass er das volle Recht dazu hat, wir also unsere gehorsam-scheuen Münder nur öffnen, um winzige Häppchen hineinzuführen, jedes zweite vom Schweigehäufchen abgetragen, dabei könnte es auch die Mutter sein, die den strengen Vater austeilt mit ängstlichem Blick und die uns nur glauben machen will, dass zuerst das Gebieterische war und darauf die Angst, aber erst viele Jahre später denken wir, dass es auch so gewesen sein kann, dass zuerst die Angst war, eine Macht, die im Sichkleinmachen das Gebieten erzwang, und wir wissen nicht, ob wir uns vielleicht irren, nicht nur in der Wahl zwischen diesen beiden Möglichkeiten, sondern in der Beschränkung auf die Zahl zwei, wodurch wir etwas Totales erschaffen, viel zu simpel, das ahnen wir schon, aber anders nicht zu begreifen für unsere nie erwachsen gewordenen Seelen, die sich auf Schwarzweiß spezialisiert haben, nur manchmal, da denken wir in blassen Farben, Grautonnuancen noch fast, und befreien uns gewaltsam aus der kontraststarren Enge, die wir uns als Geborgenheitsgatter geschaffen haben, und dann sehen sich die Mutter und der Vater auf einmal so ähnlich, dass wir stutzen, denn wie kann das sein, diese Ähnlichkeit, wo wir doch gerade beginnen zu differenzieren, und neugierig geworden treiben wir das Ganze auf die Spitze und nehmen diese ähnlichen Elternbilder, halten sie neben den Spiegel, aus dem wir selbst uns entgegenblicken, und siehe da: die Ähnlichkeit ist eine übergreifende, wir sehen zwar deutlicher und in Farbe, und Details fliegen aus den Hintergründen auf uns zu, auch ganz und gar fremde, aber alles mündet in Mensch.

(25.02.2013)



Weihnachten

Der Vater verbringt viele Stunden in seiner Werkstatt. Er tut dort geheime Dinge, sägt und hämmert und leimt. Bald ist Weihnachten. Wir wünschen und erhoffen uns einen Kaufladen.
Trotzdem: So viele Stunden?
Aber das fragen wir Kinder uns nicht. Spüren nur die wachsende Unruhe der Mutter, jeden Abend. Ihren Unmut, der sich schließlich in gereizter Ungeduld uns gegenüber äußert. Wir spüren es, werden es aber erst Jahrzehnte später formulieren und in einen Zusammenhang bringen können. Zunächst einmal sind wir noch so klein, dass wir auf Stühle klettern müssen, um an die Dinge im höchsten Fach des Küchenschranks zu gelangen. So klein, dass wir noch eine Gutenachtgeschichte brauchen, um ruhig schlafen zu können. So klein, dass wir noch ans Christkind glauben.

Neben dem Weihnachtsbaum steht ein Gebirge, größer als wir. Ein rotsamtenes Tuch ist darüber drapiert. Das wird von der Mutter weggezogen, nachdem wir alle zusammen ein Weihnachtslied gesungen haben, mit kerzenfunkelnden Augen. Unter dem Tuch kommt ein Kaufladen zum Vorschein, ein wunderschöner, vom Vater gezimmerter, vom Christkind gebrachter. Ein Kaufladen mit aufklappbaren Seitenteilen, einer Verkaufstheke und Fächern und Laden in den verschiedensten Größen. Darin kleine Schächtelchen und Döschen und Gläschen, Netze, Körbe, Obst, Gemüse und Eier. Auf der Theke eine Klasse, die klingelt, wenn die Geldlade herausfährt.
Wir spielen "Ich wäre die Verkäuferin und du die Kundin", wechseln uns dabei ab, werden nicht müde der immer neuen Varianten.
Zwischendurch müssen wir Schnittchen und roten Heringssalat essen, müssen noch ein paar weniger wichtige Geschenke auspacken, müssen den Eltern beim Auspacken ihrer Geschenke zusehen, müssen mit ihnen anstoßen, in ihren Gläsern perlender Sekt, in unseren prickelnde Limonade, müssen verstohlen kichern über Mutters "Aber nur eins, versprochen?" zum Vater und dessen darauf folgendes Augenrollen.
Wir spielen den ganzen Abend mit unserem Kaufladen. Irgendwann muss der Vater noch einmal in seine Werkstatt, um etwas zu holen, das er vergessen hat. Dafür braucht er sehr lange, in der Zwischenzeit wird die Mutter wieder ganz unruhig, das bemerken wir wohl, aber der Kaufladen ...! Schließlich sind wir so müde, dass wir unter die Bettdecken schlüpfen, bevor der Vater zum Gutenachtsagen zurück ist.
Später schrecken wir kurz aus unseren Kaufladenträumen hoch, weil der Vater durch den Flur stolpert und irgendetwas klirrt. Das unterdrückte Schimpfen der Mutter und das Lallen des Vaters hören wir schon nicht mehr. Oder doch?

(16.12.2014)