Mittwoch, 22. Februar 2012

Ebbe

So lange nur Augen fürs Meer ... War da denn Land hinter ihr? War da denn Zeit außerhalb des durchfluteten Jetzt? 
Ein letzter salziger Schluck. Dann Ebbe und ihre Darreichungen: Ein Stein! Eine Muschel! Ein Stück Gold! - ANWESENHEIT -
Sie wird nicht am Strand sitzen und auf die Flut warten. Du weißt doch, dass das Meer seine Versprechen hält! Es gibt das Landesinnere und eine Einladung von dort. Sie wird einen Besuch machen. 
Und sie wird Eindrücke sammeln. Solche, von denen sie später erzählen wird, aber auch solche, die sie - oh diebische Freude! - mit niemandem teilen wird.


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Hier gibt es jetzt eine Pause. Wir werden uns um Ostern herum wiedersehen. (So lautet der Plan.) 

Freitag, 17. Februar 2012

Impulse (Der Betrachter 3)

Einmal hörte er einen Besucher zu seiner Mutter sagen, er wisse ein Mittel gegen Schweigsamkeit. Sie lachte ihn aus, aber nur mit der einen Hälfte ihres Wesens. Ihre andere Hälfte öffnete eine Frage, in die der Besucher einen weiteren Satz legte: Das Mittel heiße Ermutigung. Er zog eine Schachtel aus seiner Tasche und gab sie ihr. Zwei davon täglich dürften reichen. Sie würden ihren Sohn nach und nach dazu bringen, seinen Impulsen zu folgen. Ein unverständlicher Satz. Tat er doch tagein, tagaus nichts anderes!
Am Abend trat die Mutter in sein Zimmer und trug ein Tablett, auf dem eine Ermutigung lag. Er sollte sie am Stück schlucken, nicht lutschen oder zerbeißen, und ein Glas Wasser hinterhertrinken. Einem Impuls folgend, versteckte er die Ermutigung unter der Zunge und leerte das Glas in einem Zug. Die eine Hälfte seiner Mutter lächelte zufrieden und legte ihm einen Kuss auf die Stirn, die andere heftete ihren Blick auf eine Stelle hinter seinen Augen. 
Nachdem sie sein Zimmer verlassen und die Tür hinter sich geschlossen hatte, fischte er den bitteren Geschmack aus dem Mund und warf ihn aus dem Fenster. Dann folgte er dem Impuls, zu weinen.

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Lassen wir ihn traurig zurück. Nichts daran ist schlimm. Er ist stark wie der Fluss, und wir dürfen uns wundern.

Donnerstag, 16. Februar 2012

Die Einladung

Ich habe eine Einladung erhalten:

Du schreibst über mich.
Besuchst Du mich mal?
Nächste Woche?


Darauf telefonierten wir:

Ich komme gerne.
Bring Deine Wörter mit.
Werden sie Dich nicht stören?
Wird meine Stille Dich stören?
Ein wenig fürchte ich mich vor ihr.
Sie wird Deine Wörter auffangen.
Wirst Du zu mir sprechen?
Wirst Du mir zuhören?


Wir werden uns sehen. Nächste Woche.

Dienstag, 14. Februar 2012

Sandkasten

Meine Schwester und ich waren drei und fünf Jahre alt, als wir einmal einen Nachmittag allein zuhause verbringen mussten, ausgestattet mit Spielsachen, Papier und Buntstiften und der Ermahnung, im Haus zu bleiben, was bedeutete, dass wir nicht draußen im Garten und im Sandkasten spielen konnten, worauf uns nichts anderes übrig blieb, als den Sand mit unseren Eimerchen aus der Kiste ins Kinderzimmer zu transportieren - was ein mühsames, aber lohnendes und lustiges Unterfangen war -, ihn dort auf den Teppich zu häufen, Wasser hinzuzufügen und zahllose kleine Kuchen zu backen, die wir auf dem Wohnzimmertisch anrichteten, voller Vorfreude auf die Rückkehr unserer Eltern und deren garantierten Stolz auf ihre selbstständigen, einfallsreichen und gehorsamen Töchter, die sich darüberhinaus weder gezankt noch geprügelt hatten, was während unserer Kindheit eine absolute Seltenheit darstellte.


(Noch mehr S-Wörter gibt's im Zeitnetz.)

Weiter Weg (Loses Blatt #40)

Ist ein weiter Weg ein langer oder ein breiter Weg?

Montag, 13. Februar 2012

Buchstabenkleider (Der Betrachter 2)

Wenn er aus Fluss und Gras auftauchte, hatte er für einen Augenblick freien Zugang zu der am Ufer wurzelnden Weide. Er trat dicht an sie heran, und sie schichtete mit ihren Blätterfingern holziggrünrauschende Abdrücke in seine Sinne. Dann entrollte sich erneut das Banner zwischen ihnen mit dem Aufdruck: Die Weiden (salix) sind eine Pflanzengattung aus der Familie der Weidengewächse (saliceae).
Er erinnerte sich an die Zeit, als seine Mutter abends an seinem Bett gesessen hatte, bei weit geöffneten Fenstern und Türen, und mit sanfter Stimme Einladungen ausgesprochen hatte. Nach und nach wurde dann sein Zimmer bevölkert von Tieren mit gelben Augen und glänzendem Fell, wilden Tieren, die durch dichte Wälder streiften und Beute machten, die nachts unter freiem Himmel schliefen, nachdem sie Zwiesprache gehalten hatten mit einem runden silbernen Mond, die morgens am Teich aus ihrem Spiegelbild tranken, die das Rudel mieden und Freundschaft mit denen schlossen, die ebenso einsam waren wie sie. Mit ihm verbündeten sie sich und nahmen ihn mit auf ihre Streifzüge, bis er erschöpft in bildlose Tiefen sank, ein heimatloser Vagabund.
Und es gab die Zeit danach, die Zeit des zweifelhaften Geschenks, als man ihn in der Schule mit den Buchstaben bekannt gemacht hatte. Er war neugierig gewesen, und sie näherten sich ihm mit einnehmender Höflichkeit. Er lernte, sie zu Wörtern zu verknüpfen und die Dinge zu sehen, von denen sie erzählten. Er begann, die Sätze zu lieben und war nicht mehr auf die Einladungen seiner Mutter angewiesen. Statt im Garten oder am Fluss, traf man ihn immer häufiger in einer Ecke des Hauses an, über ein Buch gebeugt, mit dem Finger unter den Zeilen in fremde Länder reisend und die Ozeane befahrend. Er tauchte und ritt und flog, und am Abend fiel er erschöpft wie früher in den Schlaf, nur seine Haut blieb hungrig.
Immer häufiger geschah es nun, dass aus den Mündern der Erwachsenen keine Einladungen mehr fielen, denen die Geladenen prompt folgten, sondern dass Buchstaben von ihren Lippen purzelten, die zierliche oder gewaltige Zusammenfügungen bildeten, je nach Sprecher. Wo ihn früher ein Hund angesprungen hatte, wurde dieser nun von einer Kette aus einem 'H', einem 'u', einem 'n' und einem 'd' zurückgehalten, und ein emporwachsender Stamm wurde von einem 'B', einem 'a', einem 'u' und einem 'm' umringt. 
Neben diesen Buchstabenreihen mit ihrer eingegossenen Bedeutung gab es aber auch andere, lose aufgefädelte, die scheinbar heute dies und morgen jenes bedeuten konnten. 'Du', 'mein lieber Sohn', 'immer' und 'ja' waren solche, ebenso 'ein hübscher Junge' und 'so ein kluges Kind'. Kaum hatte er sich an ihnen gewärmt, traten sie plötzlich in Gemeinschaft mit einem Steinauge oder einem Porzellanmund auf, und er musste sie aus ihrem weichen Bezug herausnehmen und auf mehrere offene Ablagen verteilen.
Die notwendig gewordene Schärfung seiner Augen und Ohren ließ ihn bald wahrnehmen, wie schlecht manches Buchstabenkleid saß, in das sich die Besucher seiner Mutter hüllten und - für ihn unbegreiflich - wie sich auch seine Mutter immer dann, wenn Besuch kam, zu enge oder zu weite Kleider überstreifte, die zudem entweder farblos oder aber mit einem schreienden Muster versehen waren. 
Immer häufiger verließ er das Haus und die Wörter, die es beherbergte und suchte Zuflucht am Fluss.
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Lassen wir ihn ausruhen, die Geschichte geht weiter. Ob sie unseren Ahnungen folgt? Stellen wir uns in den Wind und warten ab.

Donnerstag, 9. Februar 2012

Ach-Alphabet

Ach Beute!
"Christliche" Demagogen entern
furchtsame Gemüter.
"Heilige" indulcijubilieren jenseits,
keusch lüstern marodierend.
Nemesis!? -
Opfer priesterlicher Quacksalberei.
Reuiger "Sünder" Tinte
unterschreibt Vaterunser.
Wunde(r)(n)? -
Xenokratie. Yellow-Press. 
Zapfenstreich.

Mittwoch, 8. Februar 2012

Pampelmuse

Der Duft einer Grapefruit erinnert mich an die Zeit, als sie noch Pampelmuse hieß und zum täglichen Frühstück meiner Großmutter gehörte, neben Pumpernickel und frisch gebrühtem Bohnenkaffee, dessen Aroma mich aus dem Ehebett lockte, in dem ich in der Besucherritze geschlafen hatte, eingemummelt in meinen Schlafsack, mit dem ich in die Küche hüpfte, wo Großvater mir durch die vom Schlaf zersausten Haare wuschelte, mich auf einen Stuhl hob, ein Frühstücksbrettchen und ein Messer vor mich hinlegte, die er mit dem Brotkorb, der Butter, Honig und selbstgemachter Marmelade umringte, und mir warmen Kakao in den Becher schenkte, über dessen Rand später mein Blick der Großmutter folgte, wie sie die geblümte Wachstuchtischdecke mit einer Hand in die andere leer fegte, dann die Balkontür öffnete, hinaustrat und die Brotkrumen über die Brüstung in den Hof warf, in dessen Mitte sich bereits die Spatzen versammelt hatten, in Erwartung der Fütterung und um mit ihrem Gezwitscher die Komposition des Morgens nach einem Tag und einer Nacht bei meinen Großeltern vollkommen zu machen.


(Inspiriert wurde ich, wie schon beim Azur, von der Weberin und ihrem Alphabet, von dem heute das P an der Reihe war.)

Samstag, 4. Februar 2012

Dinge und Wörter (Der Betrachter 1)

Er war ein Betrachter, seit er denken konnte, vermutlich sogar von Geburt an. Sein Inneres beherbergte unbearbeitete Bilder einer vorbewussten Zeit, in denen er manchmal blätterte. Fern aller Sprache verankerten sie ihn in einer Unmittelbarkeit, die ihm mit dem Erwerb der Lesefähigkeit Stück für Stück abhanden gekommen war.
Er betrachtete die Dinge und die um sie herum drapierten Wörter, die einen Zugang schaffen sollten, allzu häufig aber Barrieren darstellten. Ebenso betrachtete er die Menschen und die Wörter, die sie auf den Tisch legten, "offen auf den Tisch legen" nannten sie es, und er verstand es nicht, denn die Wörter türmten sich zu Bildern, ihren Schöpfern entfernt ähnlich, jedoch nie mehr als das. Sie sollten beschreiben, was man bei einfacher Betrachtung doch mit bloßem Auge erkennen konnte.
Er hatte erlebt, dass Besucher seine Mutter fragten, warum er so still sei, und wie sie anfangs mit einem Gesicht voller Liebesglanz darauf erwiderte "Er ist ein Betrachter". Eines Tages dann sprach sie diese Worte zum wiederholten Mal, und ihr Mund formte eine Schale aus Stolz, aber in ihren Augen lagen Steine, und der Satz passte nicht mehr zu ihrem Gesicht. Sie schien es selbst zu bemerken, denn bald änderte sie ihre Antwort in "Er ist ein Zurückhalter", und die Steine verschwanden aus ihren Augen, aber der frühere Glanz kehrte nicht zurück.
Er überlegte, dass er vielleicht selbst einmal Wörter auf den Tisch legen sollte und tat dies, als das nächste Mal Besucher kamen. Die Wörter kamen ihm mickrig vor und passten nicht zu ihm, eigentlich war es gut, dass er sie aus sich herausgenommen hatte. Die Besucher beugten sich staunend darüber, klatschten in die Hände und kniffen ihn augenzwinkernd in die Wangen. Er war nicht sicher, ob er wiederholt solche Reaktionen hervorrufen wollte. Seine entfernt stehende Mutter war zu einem bewegungslosen Bild geworden, für einen Moment nur, aber es jagte ihm einen gehörigen Schrecken ein. Etwas lief verkehrt, und es hatte mit ihm zu tun.
Fortan lag er des Nachts häufig wach und dachte über sich nach, darüber, ob alles mit ihm seine Richtigkeit hatte. Die Wörter waren abgelegt, das ließ sich nicht mehr rückgängig machen, er hatte im Laufe der Zeit noch weitere dazu gelegt. Keins von ihnen glänzte, keins schien ihm in irgendeiner Weise zu entsprechen. Er legte ganze Sätze zwischen sich und sein Selbst. Die Besucher rückten näher und nannten es "vertraut werden", sie schmiegten sich in seine Worte und glaubten, ihr Duft entströme seinem Wesen.
Wann immer man ihm gestattete, das Haus zu verlassen, schlug er den Weg zum Fluss ein. Seinen Körper der Länge nach in die Wiese gepresst, die Nase ins Gras und eine Hand in den Strom getaucht, gelang es ihm, die Wörter beiseite zu schieben, und
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Setzen wir uns ein Stück entfernt auf einen Stein und lassen ihm die Zeit, die er braucht, um von selbst wieder aufzutauchen und uns weiter an seiner Geschichte teilhaben zu lassen.

Donnerstag, 2. Februar 2012

Etwas

Sie wussten nicht weiter
etwas hatte sich 
zwischen sie geschoben
eine Taubheit
eine Dämpfung des Lichts
übermüdete Haut
etwas hatte sie
in Hälften zurückgebrochen
mit klaffenden Rändern
und der Unfähigkeit
zu Güte
ihre Hände wollten
noch einmal verbinden
doch etwas tauchte sie
in Stolz
die Versuche waren 
aufgebraucht
sprach etwas in ihnen 
kurz vor dem Ziel
ließen sie sich vom Ende 
überwältigen