Donnerstag, 8. November 2012

Sonntagsspaziergang (Vater Mutter Kind 2)

Wie zum Beispiel die Hand deiner jüngsten Tochter sich in deine schmiegt, den ganzen weiten Spazierweg lang und du manchmal zu fest zudrückst aus lauter Furcht, sie könnte dir ihre Hand entziehen. Aber tut sie das nicht, tritt sie dir stattdessen auf den Fuß und ruft "Hey, nicht so fest!", lacht noch dabei, ach, schießt dir eine Träne ins Auge. Nicht fassen kannst du dein Glück. Ist es so ganz und gar unverdient, zetern von hinten die Blicke, fallen sie stumm über eure Händeeinheit her. Sind da eine Frau und ein Mädchen, waren deine Frau und deine älteste Tochter. Spürst du den Vorwurf in ihren Blicken. Und die Traurigkeit. Bist du weit entfernt von einem Triumph, würdest du die beiden in deinem Rücken doch ebenso gern an den Händen halten. Wird das aber nie wieder möglich sein. Bist du ein Ungeheuer. Kannst du einfach nicht stehenbleiben und dich umdrehen und ein anderer sein. Wirst du immerzu wüten. 
Und wirst du immer der Mann sein, der ein Sohn ist, der die Mutter vermisst. Hat diese keine Hand für dich frei, hält sie darin deine toten Brüder. Bist du selbst mit dem einen Bruder nach dessen Geburt gestorben, bist du mit dem anderen im Krieg gefallen, bist du mit dem dritten verschollen. Bist du dreimal verschwunden und unsichtbar. Bis die Mutter eines Tages nicht länger vermisst, sondern vergisst, sich selbst und die Brüder und dich. Kennt sie dich nicht und niemanden mehr. Bist du nun tot oder frei? Weißt du es nicht. Vergisst du dich. 
Spürst du die bedingungslose Hand, die in deiner liegt. Spürst du die verhungernden Blicke im Rücken. Spürst du dein Unvermögen. Denkst du während des gesamten Weges an die Flasche in der Werkstatt und dass immer etwas zu werkeln ist in diesem vorwurfsfreien Raum mit dem unerschöpflichen Vorrat an Vergessen.

4 Kommentare:

  1. Wie gut, dass es "vorwurfsfreie Räume" gibt.
    Wie gut, dass ich durch Virginia Satirs Familienrekonstruktion so viel über Familien, insbesondere meine, lernen konnte.
    Wie schon oft diese deine intensiven Dichtworte...

    AntwortenLöschen
  2. Gerade in Familienrekonstruktion und Aufstellungen habe ich solche vorwurfsfreien Räume erlebt, nie frei von Verantwortung, aber von Schuldzuweisungen. Ich schätze Virginia Satir und ihre Arbeit sehr und hatte das Glück, an systemische Therapeuten zu geraten, die ihrer Richtung folgen und ebenso respektvoll handeln. Schade, dass es unter den Anbietern von Familienaufstellungen und Systemischer Therapie soviele Scharlatane gibt, deren schlimmster in meinen Augen der sich als Guru gebärdende Bert Hellinger ist.
    Herzlichen Dank für Deinen Kommentar!

    AntwortenLöschen
  3. Oh, über Hellinger haben wir ganz ähnliche Meinungen. Was dieser Kerl sich schon geleistet hat, der "geht über Leichen"...
    Gruß von Sonja

    AntwortenLöschen