Dienstag, 9. April 2013

Das Sprechen der Dinge; die Nachtigall (nach dem Traum 5)

- Lass uns über die Fundstücke sprechen. (sagtest du)
- Sie baten mich um Verschwiegenheit. (sagte ich)
- Das bildest du dir ein.
- Wie kannst du das behaupten? Sie sprachen ganz deutlich zu mir.
- Was sprachen sie denn?
- Dass ihr Geheimnis gewahrt bleiben muss und dass ich sie vor den Hütern in Sicherheit bringen soll.
- Es ist gut, dass du das getan hast.
- Siehst du!
- Das heißt nicht, dass sie zu dir sprachen.
- Aber wie sonst sollte ich ...
- Aus einer Eingebung heraus, die du ernst nahmst.
- Was macht dich bloß so sicher in deinen Behauptungen?
- Dass ich noch nie in einen Spiegel gesehen habe.
- Das erzähltest du mir bereits. Ich kann es kaum glauben.
- Es ist die Wahrheit. Spiegel vermögen die Sicht zu verstellen.
- Aber wie gelingt dir das? Überall hängen Spiegel herum.
- Es ist in der Tat eine große Versuchung. Aber nur so bleibe ich in Verbindung.
- In Verbindung womit? Mit wem?
- Mit den Dingen.
- Du meinst, du seist, anders als ich, in der Lage, sie zu hören, mit ihnen zu sprechen?
- Das bin ich. Weil wir aneinander interessiert sind.
- Mehr als an euren Spiegelbildern.
- Ja, viel mehr.
- Du verurteilst also das Betrachten des eigenen Spiegelbilds.
- Nein, das tue ich nicht. Ich entschied mich lediglich für etwas anderes.
- Gibt es denn keinen Mittelweg?
- Doch, den gibt es, aber der ist schwer zu beschreiten. Ich weiß nicht, ob ich es könnte.
- Dabei scheinst du so stark.
- Du siehst mich nicht ganz.
- Wegen der Spiegel?
- Wegen der Spiegel.


Das musste ich erst einmal sacken lassen.
Sprachen wir also über die Fundstücke. Wir waren uns einig, dass sie uns einmal nützlich sein könnten und wir sie deshalb gut verwahren sollten. Die Angelschnur brachten wir gleich zum Einsatz. Ihr eines Ende schlangen wir um ein Füßchen der Nachtigall und schoben zum Schutz ein zartgrünes Blättchen zwischen Schnur und Bein. Das andere Ende befestigten wir an einem Stein. So wollten wir sichergehen, dass der kleine Vogel, sollte er überraschend aufwachen, nicht davonfliegen würde.
Überhaupt war dieses schlafende Tier das erstaunlichste unter den Fundstücken. Es hatte in einer Schublade in dem seltsamen Haus gelegen. Zuerst hatte ich es für tot gehalten, obwohl das Federkleid so frisch aussah. Ich hatte den kleinen Körper behutsam in die Hand genommen. Er war ganz schlaff, das Köpfchen baumelte herab. Aber er war warm und das Herz pochte leise. Ein Lebewesen im Tiefschlaf. Mir waren Tränen in die Augen geschossen. So etwas Anrührendes war mir nie zuvor begegnet. Ich zeigte dir den Vogel, du erkanntest ihn sogleich als Nachtigall. 
Nach meiner Flucht und der Wiederbegegnung mit dir am Fluss bereiteten wir dem kleinen Schläfer ein Lager aus Moos und Blütenblättern. Wir betteten ihn regelmäßig um und gaben ihm mithilfe eines Grashalms Tau zu trinken. Ich war verzaubert von den winzigen Schluckbewegungen, dem zarten Flaum unter dem hellbraunen Gefieder, dem kaum sichtbaren Heben und Senken des kleinen Brustkorbs, dem leisen Herzschlag.
Ich begann zu lieben, was wir hier taten.

5 Kommentare:

  1. traumwelten entwickeln auf uns immer einen sog, dem wir kaum, zu widerstehen vermögen.

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    1. Geht mir genauso, deshalb lässt mich diese Geschichte auch nicht los. :-)

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  2. (Verzeihung, aber: die Angelschnur-Funktion / der Einsatz gefällt mir nicht besonders, denn das kann und darf man doch nicht machen ! - schon gar nicht mit einer Nachtigall, und überhaupt.... ;O) Ich hoffe nur, dass es alles gut in der Traumgeschichte ist und wird. Ja dann und wann....)
    Die schöne Nachtigall! ....

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    1. Nein, darf man nicht? Selbst wenn, es passieren nunmal auch Dinge, die nicht passieren sollten/dürften.
      ...

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  3. Ja, Iris. T-ja....
    "Jedes Tun ist Erkennen, und jedes Erkennen ist Tun." (Humberto R. Maturana und Francisco J. Varela; "Der Baum der Erkenntnis")

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