Der Betrachter (Erzählung)

1 Dinge und Wörter

Er war ein Betrachter, seit er denken konnte, vermutlich sogar von Geburt an. Sein Inneres beherbergte unbearbeitete Bilder einer vorbewussten Zeit, in denen er manchmal blätterte. Fern aller Sprache verankerten sie ihn in einer Unmittelbarkeit, die ihm mit dem Erwerb der Lesefähigkeit Stück für Stück abhanden gekommen war.
Er betrachtete die Dinge und die um sie herum drapierten Wörter, die einen Zugang schaffen sollten, allzu häufig aber Barrieren darstellten. Ebenso betrachtete er die Menschen und die Wörter, die sie auf den Tisch legten, "offen auf den Tisch legen" nannten sie es, und er verstand es nicht, denn die Wörter türmten sich zu Bildern, ihren Schöpfern entfernt ähnlich, jedoch nie mehr als das. Sie sollten beschreiben, was man bei einfacher Betrachtung doch mit bloßem Auge erkennen konnte.
Er hatte erlebt, dass Besucher seine Mutter fragten, warum er so still sei, und wie sie anfangs mit einem Gesicht voller Liebesglanz darauf erwiderte "Er ist ein Betrachter". Eines Tages dann sprach sie diese Worte zum wiederholten Mal, und ihr Mund formte eine Schale aus Stolz, aber in ihren Augen lagen Steine, und der Satz passte nicht mehr zu ihrem Gesicht. Sie schien es selbst zu bemerken, denn bald änderte sie ihre Antwort in "Er ist ein Zurückhalter", und die Steine verschwanden aus ihren Augen, aber der frühere Glanz kehrte nicht zurück.
Er überlegte, dass er vielleicht selbst einmal Wörter auf den Tisch legen sollte und tat dies, als das nächste Mal Besucher kamen. Die Wörter kamen ihm mickrig vor und passten nicht zu ihm, eigentlich war es gut, dass er sie aus sich herausgenommen hatte. Die Besucher beugten sich staunend darüber, klatschten in die Hände und kniffen ihn augenzwinkernd in die Wangen. Er war nicht sicher, ob er wiederholt solche Reaktionen hervorrufen wollte. Seine entfernt stehende Mutter war zu einem bewegungslosen Bild geworden, für einen Moment nur, aber es jagte ihm einen gehörigen Schrecken ein. Etwas lief verkehrt, und es hatte mit ihm zu tun.
Fortan lag er des Nachts häufig wach und dachte über sich nach, darüber, ob alles mit ihm seine Richtigkeit hatte. Die Wörter waren abgelegt, das ließ sich nicht mehr rückgängig machen, er hatte im Laufe der Zeit noch weitere dazu gelegt. Keins von ihnen glänzte, keins schien ihm in irgendeiner Weise zu entsprechen. Er legte ganze Sätze zwischen sich und sein Selbst. Die Besucher rückten näher und nannten es "vertraut werden", sie schmiegten sich in seine Worte und glaubten, ihr Duft entströme seinem Wesen.
Wann immer man ihm gestattete, das Haus zu verlassen, schlug er den Weg zum Fluss ein. Seinen Körper der Länge nach in die Wiese gepresst, die Nase ins Gras und eine Hand in den Strom getaucht, gelang es ihm, die Wörter beiseite zu schieben, und
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Setzen wir uns ein Stück entfernt auf einen Stein und lassen ihm die Zeit, die er braucht, um von selbst wieder aufzutauchen und uns weiter an seiner Geschichte teilhaben zu lassen.

(04.02.2012)




2 Buchstabenkleider

Wenn er aus Fluss und Gras auftauchte, hatte er für einen Augenblick freien Zugang zu der am Ufer wurzelnden Weide. Er trat dicht an sie heran, und sie schichtete mit ihren Blätterfingern holziggrünrauschende Abdrücke in seine Sinne. Dann entrollte sich erneut das Banner zwischen ihnen mit dem Aufdruck: Die Weiden (salix) sind eine Pflanzengattung aus der Familie der Weidengewächse (saliceae).
Er erinnerte sich an die Zeit, als seine Mutter abends an seinem Bett gesessen hatte, bei weit geöffneten Fenstern und Türen, und mit sanfter Stimme Einladungen ausgesprochen hatte. Nach und nach wurde dann sein Zimmer bevölkert von Tieren mit gelben Augen und glänzendem Fell, wilden Tieren, die durch dichte Wälder streiften und Beute machten, die nachts unter freiem Himmel schliefen, nachdem sie Zwiesprache gehalten hatten mit einem runden silbernen Mond, die morgens am Teich aus ihrem Spiegelbild tranken, die das Rudel mieden und Freundschaft mit denen schlossen, die ebenso einsam waren wie sie. Mit ihm verbündeten sie sich und nahmen ihn mit auf ihre Streifzüge, bis er erschöpft in bildlose Tiefen sank, ein heimatloser Vagabund.
Und es gab die Zeit danach, die Zeit des zweifelhaften Geschenks, als man ihn in der Schule mit den Buchstaben bekannt gemacht hatte. Er war neugierig gewesen, und sie näherten sich ihm mit einnehmender Höflichkeit. Er lernte, sie zu Wörtern zu verknüpfen und die Dinge zu sehen, von denen sie erzählten. Er begann, die Sätze zu lieben und war nicht mehr auf die Einladungen seiner Mutter angewiesen. Statt im Garten oder am Fluss, traf man ihn immer häufiger in einer Ecke des Hauses an, über ein Buch gebeugt, mit dem Finger unter den Zeilen in fremde Länder reisend und die Ozeane befahrend. Er tauchte und ritt und flog, und am Abend fiel er erschöpft wie früher in den Schlaf, nur seine Haut blieb hungrig.
Immer häufiger geschah es nun, dass aus den Mündern der Erwachsenen keine Einladungen mehr fielen, denen die Geladenen prompt folgten, sondern dass Buchstaben von ihren Lippen purzelten, die zierliche oder gewaltige Zusammenfügungen bildeten, je nach Sprecher. Wo ihn früher ein Hund angesprungen hatte, wurde dieser nun von einer Kette aus einem 'H', einem 'u', einem 'n' und einem 'd' zurückgehalten, und ein emporwachsender Stamm wurde von einem 'B', einem 'a', einem 'u' und einem 'm' umringt. 
Neben diesen Buchstabenreihen mit ihrer eingegossenen Bedeutung gab es aber auch andere, lose aufgefädelte, die scheinbar heute dies und morgen jenes bedeuten konnten. 'Du', 'mein lieber Sohn', 'immer' und 'ja' waren solche, ebenso 'ein hübscher Junge' und 'so ein kluges Kind'. Kaum hatte er sich an ihnen gewärmt, traten sie plötzlich in Gemeinschaft mit einem Steinauge oder einem Porzellanmund auf, und er musste sie aus ihrem weichen Bezug herausnehmen und auf mehrere offene Ablagen verteilen.
Die notwendig gewordene Schärfung seiner Augen und Ohren ließ ihn bald wahrnehmen, wie schlecht manches Buchstabenkleid saß, in das sich die Besucher seiner Mutter hüllten und - für ihn unbegreiflich - wie sich auch seine Mutter immer dann, wenn Besuch kam, zu enge oder zu weite Kleider überstreifte, die zudem entweder farblos oder aber mit einem schreienden Muster versehen waren. 
Immer häufiger verließ er das Haus und die Wörter, die es beherbergte und suchte Zuflucht am Fluss.
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Lassen wir ihn ausruhen, die Geschichte geht weiter. Ob sie unseren Ahnungen folgt? Stellen wir uns in den Wind und warten ab.

(13.02.2012) 



3 Impulse

Einmal hörte er einen Besucher zu seiner Mutter sagen, er wisse ein Mittel gegen Schweigsamkeit. Sie lachte ihn aus, aber nur mit der einen Hälfte ihres Wesens. Ihre andere Hälfte öffnete eine Frage, in die der Besucher einen weiteren Satz legte: Das Mittel heiße Ermutigung. Er zog eine Schachtel aus seiner Tasche und gab sie ihr. Zwei davon täglich dürften reichen. Sie würden ihren Sohn nach und nach dazu bringen, seinen Impulsen zu folgen. Ein unverständlicher Satz. Tat er doch tagein, tagaus nichts anderes!
Am Abend trat die Mutter in sein Zimmer und trug ein Tablett, auf dem eine Ermutigung lag. Er sollte sie am Stück schlucken, nicht lutschen oder zerbeißen, und ein Glas Wasser hinterhertrinken. Einem Impuls folgend, versteckte er die Ermutigung unter der Zunge und leerte das Glas in einem Zug. Die eine Hälfte seiner Mutter lächelte zufrieden und legte ihm einen Kuss auf die Stirn, die andere heftete ihren Blick auf eine Stelle hinter seinen Augen. 
Nachdem sie sein Zimmer verlassen und die Tür hinter sich geschlossen hatte, fischte er den bitteren Geschmack aus dem Mund und warf ihn aus dem Fenster. Dann folgte er dem Impuls, zu weinen.

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Lassen wir ihn traurig zurück. Nichts daran ist schlimm. Er ist stark wie der Fluss, und wir dürfen uns wundern.

(17.02.2012)



4 Wind

Er blies in die graue Schicht, die sich über den Tisch gelegt hatte. Buchstaben wirbelten durchs Zimmer. Darunter tauchte ein Laib Brot auf, noch warm, das roch er, ohne die Entfernung zwischen seiner Nase und dem Tisch verringert zu haben. Ein Krug Wasser stand daneben und ein blitzsauberes Glas, des weiteren eine Schale mit Äpfeln. Er zog sein Messer aus dem Gürtel, schnitt einen Kanten vom Brot und biss hinein. Das war sein Garten Eden. Wenn er gegessen hatte, würde er draußen die graue Schicht von der Wiese fegen. Er würde die Windmaschine anwerfen und mit ihrer Hilfe das Dach der Hütte, den Schuppen, die Bäume und Sträucher von ihren Buchstabenschleiern befreien.
Seit wann war er erwachsen? Er erinnerte sich, es gab ein Datum, an dem war großartig gefeiert worden mit Torte und Kerzen, die Mutter hatte zusammen mit den Besuchern gesungen, ihre Augenwinkel waren mit glitzernden Diamanten geschmückt. Sein Gesicht war schwer von Küssen, und mehrmals hatte seine Mutter 'Ach' und 'mein lieber großer Junge' gesagt. Freude war in seine Brust gekehrt, denn er hatte gelernt, dass sie eingesperrt war wie er, nur dass sie keinen Fluss hatte, an den sie sich zurückziehen konnte. Sie meinte, was sie sagte. Er hatte mit seinen Armen einen Wall aus Dankbarkeit um sie gelegt und gehofft, dass sie spüren konnte, wie sehr er meinte, was er tat.
Wirklich erwachsen war er erst jetzt, einen ganzen Zeitraum später, und das Entfernen der grauen Schichten war nur ein erster Schritt, das wusste er.  Aber dass der Fluss nicht versiegte, wusste er auch. Und dass der Wind sein Freund war, ebenso.
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Er hat uns einen Blick in die Zukunft gewährt, angeregt vom Wind, der von einer Insel herüberweht. Warten wir auf weitere Berichte. Es sieht aus, als dürften wir hoffen.

(14.04.2012)




5 Namen

Hin und wieder ließ er sich die Wörter aus dem Kopf pusten, das war leicht, er stellte sich in den Wind und öffnete alle Ein- und Ausgänge. Ganze Sätze wirbelten durch die Luft, kullerten über den Boden, sie zerplatzten oder stülpten sich heraus aus ihrer besitzergreifenden Bedeutung. Es war ein großartiges Schauspiel, und er hatte dafür ein ungeschliffenes Lachen. 
Nach einer solchen Befreiung konnte er sich den Dingen zuwenden. Sie erkannten seine Unvoreingenommenheit, manche wurden zutraulich und verrieten ihm ihre wahren Namen. Alle waren sie in Unaussprechlichkeit gehüllt,  ihm wurde ein Geheimnis überreicht, ein kostbarer Schatz. Dankbarkeit erfüllte ihn. 
Und zugleich durchfloss ihn eine Trauer, denn er kannte seinen eigenen Namen nicht. Die schwarz auf weiße Buchstabenreihe in dem ledergebundenen Buch mit der Goldprägung war es nicht. Er war sicher, es musste einen anderen Namen geben, den wahren, der nur ihn meinte, den kein anderer trug. 
Er erkannte, dass die Ablegung der Wörter nicht nur einen Gewinn an Freiheit bedeutete, sondern auch den Verlust des Zugriffs auf einen Teil seiner selbst.
Nichts war so beglückend wie die wortlose Nähe zu den Dingen, nichts war so einsam wie die Namenlosigkeit.
Während des Rückwegs zu Seinesgleichen, zur Mutter, zu den Besuchern, zupfte er Silben aus den Zweigen, fischte er Sätze aus dem Rinnstein, schnappte er Buchstaben mit dem Mund aus der Luft. Zuhause häufte er sie auf den Tisch und bereitete eine Geschichte daraus, eine sauber umzäunte Antwort auf die Frage 'Na, mein Junge, was hast du erlebt?'. 
Und unterschrieb sie mit 'Ich heiße ..... Wie lautet mein Name?'
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Überlassen wir ihn seiner Verwirrung, wir dürfen sicher sein, dass sie eine Quelle ist, aus der zu schöpfen er lernen wird.

(11.05.2012) 


6 Unverhofftes Wiedersehen

Lange Zeit ist er stumm seiner Wege gegangen.

Er hat etwas aufgegeben, so unser spontaner Eindruck, wird aber kaum gewillt sein, es für uns in Worte zu fassen.

Die Dinge, soviel wissen wir bereits, verraten ihm vertrauensvoll ihre Namen. Sie tun dies, indem sie seine Netzhaut und seine Handflächen beschriften. Nicht mit Buchstaben, die würden bloß die Wirklichkeit verzerren.

Noch immer sucht er regelmäßig seinen Freund, den Fluss auf. Von seiner Lieblingsstelle aus hat er einen Sommer lang eine Frau und einen Mann beobachtet. Die beiden hatten hinter der Biegung ein Lager aufgeschlagen. Er hat sich bedeckt gehalten, hat Liebe und Tod gesehen und die Fürsorge für ein kleines Wesen, das er, als es nach Wochen erwachte und einen Gesang anstimmte, als Nachtigall erkannte.

Er weiß nicht, ob sie ihn bemerkten. Die Dinge aber, die zwischen ihnen das Ufer bevölkerten, verwoben sie miteinander in ihrem unbedingten Netz. Eine wortlose Verknüpfung, gehalten vom Gleichgewicht der gemeinsam geatmeten Luft.

Vielleicht, überlegt er, sollte er seiner Mutter ein paar von den alten Geschichten zurückgeben. Er braucht sie nicht mehr, sind doch so viele freundlich gesinnte Stimmen um ihn herum. Sie aber, die Mutter, ist angewiesener denn je nach ihrem langen, mit Verlernen angefüllten Leben.

Nein, dies ist kein Hochmut, fällt ihm der Fluss ins innere Wort. 
Der Zweifel ist ihm ein treuer steinerner Begleiter, für dessen Auswaschung es Jahrzehnte bedarf. 

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Wir lassen ihn nur ungern wieder los, wissen wir doch nicht, wie weit und für welche Zeitspanne er sich diesmal entfernen wird. Trotzdem ... (denn auch wir haben dazugelernt) ...
(19.06.2014) 

 


- to be continued -