Mittwoch, 17. April 2013

Ganz allein (nach dem Traum 7)

Manchmal kommst du mir abhanden. Ich war vielleicht in Gedanken versunken, tauche irgendwann wieder auf, und du bist nicht mehr da. Nicht eine Spur von dir ist zu finden. Als hätte ich dich in einem selbstvergessenen Moment gleich mitvergessen und durch dieses Vergessen - ich wage kaum, es auszusprechen: ausgelöscht. Dann springe ich panisch auf, drehe mich fliegend im Kreis, spähe wild in alle Richtungen, laufe blindlings los, aber nur ein kurzes Stück, und möchte am liebsten laut schreien. Aber das tue ich ja bereits, habe es nur nicht wahrgenommen. 
Du darfst nicht fort sein! Nicht einfach so verschwinden. 
Ich zweifle zum wiederholten Male an meiner Unterscheidungsfähigkeit von Wirklichkeit und Traum. Bist, warst du denn wirklich? Aber ja!, ruft meine Haut, und mein vergewaltigter Geist deutet auf seine von deiner Hand geheilten Wunden. Überall an und in mir finde ich deine Abdrücke.
Ich lege mich zu unserer schlafenden Nachtigall und schließe erschöpft die Augen. Bin ganz und gar zurückgeworfen in ... ja, in was denn? Was war da denn, wer war ich denn ohne dich?

Ich erinnere mich an eine besonders perfide Form der Strafe, welche von den Hütern angewandt wurde, wenn wir gar zu aufmüpfig nach einem Spaziergang "da draußen" verlangten, wenn wir trotzig darauf bestanden, einen Blick in die Welt werfen zu dürfen. Ließen wir uns nicht bezähmen, wurden wir mit verbundenen Augen an einen Ort außerhalb der Mauern gebracht. Dort nahm man uns die Augenbinde ab und ließ uns einen Tag und eine Nacht lang allein, ganz allein auf freiem Feld unter einem Baum mit ein wenig Proviant.
Es gab nur wenige unter uns, denen das mehr als einmal passierte. Die meisten vergaßen nie das Gefühl von Schutzlosigkeit und Ausgeliefertsein, das sie in den endlos scheinenden Stunden durchlitten hatten. Hilflos an den Baum gepresst, nicht wagend, auch nur einen einzigen Schritt ins Freie zu tun. Ich war zweimal dort gewesen.
In diesen Momenten, wenn du plötzlich fort bist und ich auf mich allein gestellt bin, fühlt es sich wieder so an wie auf diesem weiten Feld unter dem einsamen Baum.

Aber jedesmal kehrst du zurück. Jedesmal zeigst du dich aufs neue erstaunt über meine heftige Reaktion, sei ich doch, als du gingst, so eins mit mir gewesen. Jedesmal sagst du, ich müsse mich daran gewöhnen. Aber warum? Wozu? Ich habe mich an dich gewöhnt. Ich will mich nicht an ein Ohnedich gewöhnen müssen.

Weißt du, dass dein wissendes Lächeln mich zornig macht? Aber das sage ich dir nicht, das denke ich mir nur.

4 Kommentare:

  1. Jetzt lese ich schon seit Tagen ganz vorsichtig Ihre Traum- und Nachtraumerlebnisse und habe noch nichts dazu geschrieben, und das werde ich auch nicht können. Ähnlich wie bei Tagebüchern oder bei (meist posthum) veröffentlichten Briefen habe ich eine seltsame Scheu, solche Texte so intensiv und "kritisch" zu lesen wie sozusagen rein literarische, weniger persönlich daherkommende. Aber vielleicht muß man sich an das Persönlichere in literarischen Blogs (gegenüber gedruckten Büchern) ja auch erst noch gewöhnen, so wie vor gut einem Jahrhundert sich die theaterbesuchenden Menschen auch an die Intimität der Kammerspiele gewöhnen mußten, wo einfach die Rampe zur Bühne fehlte, die im "großen Haus" notfalls so eine Art Schutz bot. Andererseits ist ja gegen ein vorsichtiges, quasi schüchternes Lesen auch nichts einzuwenden, denke ich. Sonnige Grüße aus Berlin!

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    1. Irgendwie freut mich dieser Kommentar sehr. Das stille, vorsichtige Mitlesen freut mich.
      Wie persönlich sind diese Texte oder überhaupt die Texte in meinem Blog? Klar, die unter dem Label 'Tagebuch' sind privat, das ist so eine Kategorie, da gibt's eigentlich nichts dran zu kritteln, sie können einen interessieren oder nicht, man kann den Stil mögen oder nicht, man kann sie lesen oder nicht.
      Das Persönliche hingegen - hm, ich frage mich, ob nicht jeder Text in gewisser Weise ein persönlicher ist, insofern, dass er ja von einer bestimmten Person geschrieben ist. Selbst eine ganz und gar erfundene Geschichte. Niemand anders würde sie auf diese Weise erdenken bzw. empfangen und formulieren können. In all meinen Texten steckt etwas von mir, was nicht heißt, dass sie eins zu eins aus meinem Leben erzählen. Kein einziger tut das eigentlich. Manche berühren mich allerdings stärker, weil sie so eine Art Häutung darstellen, ich in ihnen mir selbst ein Stück näher komme. Vielleicht ist es in etwa das, was Sie hier spüren? Nur der Traum war ja real geträumt, die Fortsetzung entspringt meiner Fantasie.
      Ich kann es nicht so gut ausdrücken, weil ich selbst noch mit Herantasten beschäftigt bin an das, was Schreiben mir bedeutet, das Warum und das Wozu. Ein wenig weiß ich's schon. Und ganz klar ist, dass ich einfach schreiben MUSS, dass es mich dazu drängt.
      Danke für die Sonne und abendliche Grüße zurück!

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  2. Nur ein paar ganz kleine Anmerkungen.

    Ernst Jünger schreibt einmal, es gehe sich besser über gefrorenen Schlamm. Ich habe das immer stark im Bewußtsein, wenn ich arbeite, und zwar gerade, wenn ich's mit stark Gefühlsbetontem zu tun habe, dem ich einen Ausdruck geben will. So mit Eigenstem umzugehen, ist freilich nicht immer schmerzlos, ich weiß, aber wir wollen das Eigenste sowohl kommunzieren, wie wie es zugleich doch auch schützen müssen. Die Gefahr in Ihrem Text heißt deshalb Kitsch, nicht dick, nein, sondern in Kleinigkeiten. Etwa die Folge von "allein, ganz allein" ist zu viel; das "allein" alleine ist stark genug, um es nicht verdoppeln und noch eins draufsetzen zu müssen. Ebenso wirken die Begriffe "Schutzlosigkeit" und "Ausgeliefertsein" zu deskriptiv und sind genau dadurch zu weich; vielmehr müssen sie erzählt werden, ohne daß ihre Bezeichnung überhaupt fällt. Oder Sie finden eine ironische Formulierung, was aber, glaube ich, nicht Ihrer Intention entspricht. Das sollte es auch nicht.

    Sehr schön dafür ist die "schlafende Nachtigall"; sie schläft genau auf dem Grat, auf dem sich der ganze Text bewegen muß - er darf eben auch nicht nüchtern werden.

    Nicht verstanden habe ich den "vergewaltigten Geist"; Vergewaltigung scheint mir hier nicht etwa ein zu harter, sondern ein sachlich falscher Ausdruck zu sein. Wer hat denn vergewaltigt? Eine Selbstvergewaltigung widerspräche dem Straftatbestand. Sie sollten hier, glaube ich, etwas anderes finden.

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    1. Oh, das ging schnell, danke. Dann will ich auch noch schnell antworten (bevor ich mich dann aber w i r k l i c h meiner anderen Arbeit zuwende, die im Moment absolute Priorität hat. Disziplin. Grrr)

      Gutes Bild, der gefrorene Schlamm, und mir absolut einleuchtend.
      Das "ganz allein" kann ich sofort streichen. Was die Begriffe "Schutzlosigkeit" und "Ausgeliefertsein" betrifft, stimme ich Ihnen zu. Völlig einleuchtend die Begründung. darüber werde ich später nachzudenken haben.
      Gut, dass die schlafende Nachtigall Ihren "Segen" hat, denn in die habe ich mich schwer verliebt, sie ist unverzichtbar und hat zentrale Bedeutung.
      Der "vergewaltigte Geist". Hm, der muss bleiben, vielleicht in anderer Formulierung, bedarf aber, das leuchtet mir ein, der Erklärung. Entweder schon vorher an irgendeiner Stelle, oder spätestens jetzt im Anschluss. Auch darüber muss ich nachdenken. Eine Idee wäre auch, eine Art Stimme aus dem Off danach fragen zu lassen (ähnlich wie Sie das in Ihrem Kommentar tun), das fände ich reizvoll, es würde aber vielleicht die Geschichte, die ja ohnenhin auf verschiedenen ineinanderfließenden Ebenen spielt, überladen. Okay, Nachdenkmaterial für später.

      Vielen Dank vorerst!

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