Dienstag, 29. Oktober 2013

Leere Hände

Sie betrachtet ihre Handflächen, die Linien darin, die in alle Himmelsrichtungen weisen, ineinander und auseinander fließend, die Mulde, die ihre Hand bildet, wenn sie die Muskeln entspannt, eine Mulde, in die sich ein runder Stein oder eine volle Blüte oder ein Vogelkopf schmiegen könnten. Eine Hand, die leer ist und frei und offen, weil etwas fertiggestellt ist und abgelegt. Eine Hand, die nicht zwingend neu gefüllt werden muss, jedenfalls nicht sofort, es hat Zeit, vielleicht kann sie zunächst unter fließendes Wasser gehalten werden, in den Wind, ins Licht. Kann sie für einen Moment auf eine sonnenbeschienene Mauer gelegt werden, über eine Wange streichen, in Herznähe auf einer Brust ruhen. Legt sie beide Handflächen aneinander, aufeinander, ineinander und lässt sie ein Weilchen ruhen, spürt sie sich selbst und dass es Momente gibt, in denen nichts zwischen ihr steht.

Mittwoch, 23. Oktober 2013

Zurück

Dieser Urlaub war vor allem ein großer Tausch. Ausatem gegen Einatem.

Im Einzelnen: Meer, Wind, Möwen, Krabbenbrötchen, Gummistiefel, Wattwanderung, Seehunde, Wellhornschnecken, Fischbrötchen, Inselgeschichte, Seefahrtsgeschichte, Krabbenbrötchen, Ausflug, Leuchtturm, Dünen, Sand, Sand, Sand, Fischbrötchen, Edvard Munch, Isabella Rossellini, Krabbenbrötchen ..., Fischbrötchen ...

Später in Hamburg: Bob Dylan. Der Beste.

Und eine Erkenntnis: Wie leicht sich am Meer ein Ja finden lässt.

Mittwoch, 9. Oktober 2013

Epilog (nach dem Traum 25) & Geschafft! (fürs Erste)


Die zwei Frauen standen am geöffneten Fenster ihres Schlafsaals und blickten hinaus zur Mauer, die das gesamte Areal umschloss.
"Meinst du, wir können noch mit ihrer Rückkehr rechnen?", fragte die eine.
Die andere schüttelte den Kopf: "Hast du vergessen, wie lange sie schon fort ist? Morgen sind es genau drei Monate! Niemand kann da draußen so lange überleben."

Ein Windstoß trieb ein paar herbstlich gefärbte Blätter herein. Die Frauen schlossen das Fenster, warfen ihre Kutten über und machten sich auf den Weg zum Versammlungsraum. Sie waren spät dran, gleich begann der Morgenappell, und die Hüter legten großen Wert auf Pünktlichkeit.


*



Geschafft! Die Nachtigall-Geschichte ist abgeschlossen. Naja, fast, jetzt kommt die Überarbeitung, das Schleifen der Schnittstellen zwischen den einzelnen Fragmenten, das Füllen, Wegstreichen etc. Darauf freue ich mich aber.
Wer die Geschichte am Stück lesen möchte, kann das entweder hier * oder dort** tun. 
*Hier kann man den Entstehungsprozess verfolgen inklusive meiner Überlegungen und sämtlichen Kommentaren, der jüngste Text steht an oberster Stelle, also zunächst ganz zurückscrollen.
**Dort steht der reine Text, die einzelnen Kapitel in chronologischer Reihenfolge, manches ist bereits überarbeitet, einen Prolog gibt es jetzt ebenfalls. 
Und so, wie es nun ist, bleibt das Ganze für die nächsten zwei Wochen stehen. Denn:

Morgen geht's ans Meer! Genauer: an die Nordsee. Noch genauer: auf eine der nordfriesischen Inseln. Ich war schon fünfmal dort, aber noch nie im Herbst. Das Licht soll im Oktober besonders schön sein. Ich lasse mich überraschen.

Ahoi! Und bis bald.

Sonntag, 6. Oktober 2013

Der Aufbruch 3 (nach dem Traum 24)

Die Nachtigall. Der Abschied von ihr ist der seltsamste von allen, die mit meinem Fortgang einhergehen. Schliefe sie noch immer, könnte ich sie einfach mitnehmen, könnte sie weiterhin hüten und durch die notwendigen Verrichtungen am Leben halten. Aber nun, da sie erwacht ist, braucht sie mich nicht mehr, und ich bezweifle, dass sie mich aus freien Stücken begleiten wird. Sie wird sich einen Partner suchen, das heißt, da sie ein Männchen ist, wird sie sich eine Partnerin herbeisingen, mit dieser eine Familie gründen. Sie wird ganz einfach ihrem Instinkt folgen und genau das von der Natur für sie Vorgesehene tun. Und sie wird es nicht in Frage stellen. Wird sie glücklich sein? Ohne darum zu wissen?

Ich habe Rucksack und Tasche geschultert, halte in der einen Hand das Bündel mit dem Proviant und in der anderen einen Stock, den du mit Schnitzereien versehen und auf deinen Wanderungen benutzt hast. Meine Schultern sind stark und meine Beine kräftig. Am schwersten wiegt mein Herz. Noch.

Auf dem ersten Wegstück, dem Lauf des Flusses folgend, begleitet mich die Nachtigall. Manchmal fliegt sie ein Stück voraus, um sich dann auf einem Zweig niederzulassen, bis ich sie eingeholt habe. So geht das eine Weile, bis sie endlich von einem Zweig emporflattert, mich ein letztes Mal umkreist und dann in entgegengesetzter Richtung davonfliegt. Ach, du kleiner Vogel! Du geliebtes, zartes, starkes Wesen. Du Begleiter einer Zeit der Wunder. Ich wünsche dir alles Glück der Welt.

Die Endgültigkeit dieses Abschieds bedrückt mich weniger, als ich vermutet hatte. Da blitzt ein silbrigheller, knisternder Funke durch all das Dunkel der vergangenen Tage. Vorfreude, Gespanntheit, Lust auf etwas Neues.

Nach vielen Stunden, aber noch vor Einbruch der Dämmerung, mein Proviant ist fast aufgezehrt, erblicke ich die ersten Häuser am Rand der Siedlung. Wir hatten dort bei freundlichen Menschen und mit dem wenigen Geld, das wir besaßen, Ausrüstung für unseren Aufenthalt im Freien gekauft. Ich habe keine Furcht, die kleine Stadt und ihre Bewohner sind mir in guter Erinnerung. Bald nehme ich erste Geräusche wahr: Feierabendverkehr, vereinzelte Rufe, ein Kinderlachen, das Läuten der Türglocke beim Bäcker. Dann die Gerüche: Asphalt, Benzin, Brot, gebratenes Fleisch. 

Am Brunnen auf dem Marktplatz lasse ich mich auf einer Bank nieder, Rucksack und Tasche platziere ich neben mir auf dem Boden. Ich strecke die Beine aus und dehne meine Arme. Das Plätschern des Brunnens erinnert mich an den Fluss, Freund unserer Lagerzeit, Begleiter meines heutigen Weges.

Am anderen Ende der Bank sitzt ein alter Mann, auf seinen Knien ein kleines Mädchen. Immer wieder taucht sie ihre Hände ins Wasser und streicht dann mit ihnen durch sein schütteres Haar. "Ich mache dir eine Königsfrisur", ruft sie und kichert. Der alte Mann brummt vor Vergnügen und kitzelt das Kind am Bauch, dass es zu zappeln beginnt und sich vor Lachen krümmt. Dann bemerkt es mich, sieht mich mit großen Augen an, streckt sich zum Ohr des Mannes und flüstert ihm etwas zu. Er nickt und wendet sich mir lächelnd zu. 
"Meine Enkelin meint, wir sollten Sie mal nach Ihrem Namen fragen. Sie sind neu in der Stadt, nicht wahr?"
"Ja, das bin ich", erwidere ich und füge nach kurzem Zögern hinzu: "Und einen Namen habe ich nicht." 
Der Alte stutzt und blickt mir forschend in die Augen. Die Kleine hingegen springt auf, klatscht in die Hände und ruft: "Das ist toll! Dann denken wir uns einen aus. Ja, Opa, machen wir das? Denken wir uns einen Namen für sie aus?" 
Ohne den Blick von mir zu wenden, nimmt der Mann das Mädchen am Arm, zieht sie zu sich heran und mahnt sachte: "Pst, meine Kleine, immer mit der Ruhe. So etwas will mit Bedacht angegangen sein. Mir scheint, wir lernen hier gerade eine ganz besondere Person kennen." 
Das Kind schmiegt sich an seine Beine und verstummt. Er aber nickt mir mit warmer Freundlichkeit zu, zwinkert und sagt: "Fürs erste heißen wir Sie herzlich willkommen in unserem Königreich."

Freitag, 4. Oktober 2013

Der Aufbruch 2 (nach dem Traum 23)

Meine Hände so tätig und leer zugleich.

Ich räume unseren Platz, falte Kleidung, rolle Decken und Planen zusammen, sortiere Verzichtbares aus, schaffe Essbares herbei zur Wegzehrung, fange einen Fisch, töte ihn und nehme ihn aus, entzünde ein letztes Feuer, brate den Fisch, stopfe mir das zarte Fleisch mit den Fingern in den Mund, stochere mit einem Ast in der Glut herum, lösche sie schließlich vollends, indem ich einen Topf Wasser hineinschütte.
Ich packe soviele von unseren Sachen in meine Tasche und in deinen Rucksack, dass beide fast aus den Nähten platzen, ziehe meine Decke unter Anstrengung wieder heraus und stopfe stattdessen deine hinein, wegen des daran haftenden Geruchs.
Ich bereite mir zum letzten Mal ein Schlaflager unter der Rotbuche, wasche mich am nächsten Morgen ein letztes Mal im Fluss, hülle mich anschließend in mehrere Lagen Kleidung, schnüre meine Schuhe, bündele meinen Proviant in einem deiner Hemden und verabschiede mich von diesem Ort, indem ich ein letztes Mal mit der Hand übers Gras streiche, sie auf die glatte Rinde des Baumes lege, sie in den Fluss tauche, der mich als einziger begleiten wird, denn ich habe mich entschieden, seinem Lauf zu folgen, zu der Siedlung, die einen Tagesmarsch entfernt in nordwestlicher Richtung liegt.
Ich schnüre mein Nachtlager zu einem Paket und vergrabe dieses mit der benutzten Spritze und dem Pop-up-Bilderbuch in dem Erdloch, das wir für die Fundstücke ausgehoben hatten. Auch den Klappspaten lasse ich zurück, zwischen den Wurzeln der Buche versteckt.

Ich knie ein letztes Mal vor deinem Grab nieder und lege beide Hände auf die Erde. Aus wie unendlich vielen Teilen doch ein einziger Abschied besteht.

Was ich nicht mehr berühren kann:
Dich, weil du zu tief schläfst.
Die Nachtigall, weil sie erwacht ist.