To Save a Nightingale (Erzählung)


Prolog

Die drei Männer standen am Fenster des Versammlungsraums. Von dort überblickten sie den Hof und beobachteten die junge Frau, wie sie zum Morgenappell schritt. Wieder einmal mit unbedecktem Haar, offener Kutte und um Minuten verspätet.
"So geht es nicht weiter mit ihr", sprach der erste. "Wir sollten dringend ihre Einstellung überprüfen und gegebenenfalls korrigieren lassen."
"Ich sehe es wie du, Bruder", fiel der zweite ein. "Handelte es sich nur um ihr nachlässiges Äußeres oder das ständige Zuspätkommen, griffen vielleicht noch sanftere Methoden. Aber da ist so eine grundlegende Aufmüpfigkeit in ihr, die können wir nicht mehr durchgehen lassen."
"Nun, ich stimme euch zu", äußerte sich der dritte, "Lassen wir sie so bald als möglich ins Kühle Haus bringen. Und hoffen wir, dass Er sich diesmal raushält."

***

 1  Traum

Ich träumte von dir in der vergangenen Nacht. Du spaziertest nackt und völlig ungeniert durch ein seltsam kühles, verschachteltes Haus, in das man uns zur Überbrückung einer Wartezeit gesteckt hatte. Wir waren auf der Suche nach Handtüchern, brauchten dringend eine Dusche, unsere Kleider waren von oben bis unten mit Schlamm besudelt. Ich wäre nicht auf die Idee gekommen, mich auszuziehen, und dann auch noch bis auf die Haut, bevor ich etwas gefunden hätte, womit ich mich bedecken konnte. 
Getrennt waren wir durch verschiedene Räume geirrt, hatten Schränke aufgerissen und Schubladen herausgezogen und nichts gefunden außer einer gewaltigen Spritze mit einer purpurn leuchtenden dicken Flüssigkeit darin und einem Pop-up-Bilderbuch. Dieses betrachteten wir nun. Öffnete man es, senkten sich von innen her lauter kleine Vorhänge herab, einer vor den anderen, bis sich der letzte schloss, zwischen die Seitenkanten des vorderen und hinteren Buchdeckels gespannt. Wir lachten wie Kinder. Ich fühlte mein Herz höher schlagen und vermutete dieselbe Reaktion bei dir. 
Wir blickten uns an, tauschten ein stummes 'Sollen wir?' und öffneten dann einvernehmlich den ersten Vorhang, indem wir seine Hälften zur Seite schoben. Dahinter erschien der nächste Vorhang, und immer so weiter, bis wir in der Mitte des Buches angelangt waren und die letzten winzigen Bahnen teilten. Ein senkrechter Spalt bot sich unseren Blicken dar, eine schmale, dunkle Vertiefung. Beide hatten wir augenblicklich den Impuls, hineinzugreifen. 
Deine rechte Handfläche an meine linke gepresst, tauchten wir erst vorsichtig mit den Fingern, dann bis zum Handgelenk, schließlich bis zu den Ellbogen ab in eine warme Tiefe, die sich, sobald der enge Einlass passiert war, zu einem Raum dehnte, an dessen Begrenzung wir auch dann noch nicht heranreichten, als wir bereits bis zu den Schultern eingetaucht waren. Erneut tauschten wir einen Einverständnis suchenden Blick und zogen gemeinsam unsere Arme wieder hervor. Sie waren äußerlich unverändert. 
Als wir da so voreinander standen, du nackt, ich immer noch in meinen schmutzigen Kleidern, stieg plötzlich die Frage in mir auf, ob sich, legte ich auch nur ein einziges meiner Kleidungsstücke ab, deine Aufmerksamkeit von diesem seltsamen Bilderbuch ab- und mir zuwenden würde. Und welche Folgen das für unsere seit langem von unseren Hütern geplante Zukunft haben könnte. Und ob es überhaupt rechtmäßig war, dass diese anderen uns hüteten. Und welcher Anstrengung es wohl bedürfte, diesem Zustand zu entfliehen, in eine Selbstbehütetheit. Noch nie hatte ich mir auch nur ansatzweise solche Fragen gestellt.
Unsere Blicke lagen ineinander, doch du warst mit deinen Gedanken ganz woanders unterwegs, das sah ich dir an, bewegtest dich trotz des gerade Erlebten in den vorgegebenen Bahnen. Ich wollte es wagen und begann, meine Jacke aufzuknöpfen. Ein winziges Aufleuchten in deinen Augen, da klingelte es an der Tür und ich wachte auf.


2  Weiter ...

Dann gingen wir doch noch einmal zurück, das heißt, ich ging zurück, dich träumte ich ja nur, nahm dich mit hinter meinen Lidern an den Ort unserer ersten Begegnung, diesen seltsamen, kühlen Ort, dieses Haus mit den hallenden Räumen, den leeren Schränken und den seltsamen Fundstücken, von denen das Bilderbuch mit den zahlreichen Vorhängen und der tiefen dunklen Höhle nur eines war, dasjenige, von dem wir erzählen durften, aber die anderen Dinge, die wir fanden, zwangen uns zum Schweigen, wir hielten uns daran, wie wir uns immer an das hielten, was man uns sagte, so waren wir es gewohnt, nie waren wir schlecht damit gefahren, immer wurden uns eine Schlafstatt und Nahrung gewährt, ohne dass wir dafür hätten zahlen oder arbeiten müssen, nur gehorchen mussten wir, aber das war nicht schwer, verlangte man doch nichts Unmögliches, sondern nur das Beugen unserer Knie und unserer Häupter vor den Himmelhohen, und wer wollte das als zuviel verlangt bezeichnen, war es doch eine Ehre, zum Kreis derer zu gehören, die gezählt waren und gerettet, blieben sie nur innerhalb der Grenzen, die aus Liebe gezogen waren und die sich hart und kalt anfühlten, aber das war eine Täuschung, hatten wir gelernt, denn in Wirklichkeit waren sie warm und weich und unser einziger Schutz, daran erinnerten wir uns nun, in diesem Haus, von dem wir nicht wussten, wie wir hineingekommen waren, nur, dass wir eine Wartezeit zu überbrücken hatten, ganz allein und nach einer überstandenen Gefahr, einer Jagd durch wildes Gelände, durch Schlamm und Gestrüpp, davon zeugten die Spuren an unseren Kleidern, und dass wir uns nicht erinnern konnten, irritierte uns weniger als die Tatsache, dass wir, dass ich für uns beide dachte, denn scheinbar träumte ich dich nur, hatte dich erfunden, aber nun warst du da, so nackt und so ahnungslos, da musste ich dich doch schützen und wollte plötzlich nichts mehr wissen von meinen Hütern, denn wenn sie dich sähen, würden sie dich mir wegnehmen, das war mir so klar, wie etwas nur klar sein kann, und es interessierte mich nicht, wieso es mir klar war, für solche Überlegungen war keine Zeit, wollte ich dich retten, musste ich mich aussetzen, weit hinter die Umgrenzung aus gefühlt kalter, aber in Wirklichkeit warmer Liebe, weit außerhalb der Blicke der Himmelhohen, und ich hatte mich bereits entschieden, das merkte ich nun, als mir bewusst wurde, dass ich längst rannte, atemlos und ohne Pause rannte, weg von dieser gewaltigen immerdagewesenen Liebe, die mich zugesperrt hatte von außen mit einem stählernen Schloss, das du von innen gesprengt hattest, als wärest du einzig und allein dafür geboren worden, und ich hatte keine Zeit, mich zu wundern, weil ich plötzlich soviel wusste und noch mehr wissen wollte, und was ich schon wusste, war, dass alles, was ich darüber hinaus wissen wollte, da draußen lag, nicht drinnen, wie ich immer geglaubt hatte, und dich nahm ich mit, nackt wie du warst, und wären wir erst auf der Wiese am Fluss angelangt, würde auch ich meine Kleider ablegen, und dann würden wir gemeinsam in den Fluss steigen, und spätestens da würde ich dann meine Augen öffnen und dich hinauslassen und hoffen, dass du bleibst, aber wenn nicht, wäre auch das immer noch besser als das, was ich bereits zu vergessen begann. 


3  ... und weiter

Was als Traum begann, lässt mich nun nicht mehr los. Nach der ersten Fortsetzung folgt eine weitere. Wo das hinführen wird? Ich weiß es nicht.

*

Am Fluss angekommen begann ich umgehend damit, mich meiner schmutzigen Kleider zu entledigen. Erst da, noch atemlos von der Flucht, wurde ich mir der Tasche bewusst, die ich den ganzen Weg mitgeschleppt hatte und die vollgestopft war mit Fundstücken aus dem seltsamen Haus. Ich musste sie mir reflexartig umgehängt haben, vielleicht weil ich die Dinge darin vor einer Entdeckung durch die Hüter bewahren wollte. Aus demselben Grund habe ich sie übrigens bisher in meiner Geschichte unerwähnt gelassen, sprach lediglich von der Spritze und dem Bilderbuch. Die anderen Fundstücke hatten mich unmissverständlich zum Schweigen aufgefordert, zum Wahren ihres Geheimnisses.
Ich legte die Tasche nah am Ufer ab, warf meine Kleider auf einen Haufen, die würde ich später waschen und zum Trocknen in die Sonne legen. Dann stieg ich nackt in den Fluss. Er war nur knietief an dieser Stelle, sprang über faustgroße Kiesel und entließ nach und nach kleine Fische aus seinen Schatten. Ich bückte mich, schöpfte vom kühlen Wasser und spritzte es mir ins Gesicht. Da legte sich von hinten eine Hand auf meine Schulter. Ich fuhr herum, schon in dieser blitzartigen Bewegung ahnend, wen ich vor mir sehen würde. Und tatsächlich. Da warst du, unverändert, von mir bis hierher getragen.
Ich unterdrückte meine aufkommende Verwirrung, wollte lieber fraglos hinnehmen, was da an scheinbar Unmöglichem geschah. Wollte nicht wissen, ob ich noch träumte oder längst erwacht war. Oder möglicherweise in einer Art Zwischenwelt gefangen war. Spielte das eine Rolle? Ich hatte eine Gänsehaut, mein Herz klopfte laut, dein Blick war wach und mir zugewandt. Und ich vernahm ein Rauschen, das sowohl vom Wasser als auch von meinem eigenen Blut als auch von einer Filmspule herrühren konnte. Wie unwichtig, das zu wissen.



4  Am nächsten Morgen

... und weiter mit dir. Wer bist du?

*

Am nächsten Morgen wolltest du ausreiten. Noch bevor ich ein Wort über die Nacht verlieren konnte, die so ...
Komm schon!, riefst du ungeduldig, und ich schüttelte den Silberstaub ab, saugte den Tau von meinen Fingern. Du hattest die zwei erstbesten Pferde gesattelt. Wo kamen die her? Und konnte ich überhaupt reiten? Ich konnte.
Wir flogen über die erwachenden Wiesen, und zum ersten Mal hörte ich dieses Jauchzen, das tief aus deiner Brust kam und nach dem ich augenblicklich süchtig wurde. Aber nein, dies war gar nicht das erste Mal, ich hatte es schon einmal gehört, in der Nacht, ja, und dabei gedacht, wie unglaublich schön du bist.
Ich rief mir unser Gespräch vom Abend ins Gedächtnis. Wir hatten unser Lager am Fluss aufgeschlagen und lagen dicht beieinander, um uns zu wärmen. Du erzähltest, du habest noch nie in einen Spiegel geblickt. Nicht zu fassen. Das sollte ich dir glauben? Du batest mich, die Augen zu schließen, Dein Gesicht mit meinen Händen zu ertasten und Dir zu beschreiben, was ich 'sah'. Es fiel mir zunächst nicht leicht, denn ich hatte Dich ja bereits wirklich vor Augen. Nach einer Weile aber spürte ich, dass meine Finger ganz neue Facetten entdeckten. Ich glitt über sanfte Rundungen und stieß an harte Kanten, es gab weiche Stellen, die mich rührten und geheimnisvolle Winkel, die mich erregten. Das alles versuchte ich für Dich in Worte zu fassen. 
Ich ertastete auch dein Lächeln, das auf meine unbeholfenen Beschreibungen folgte, strich über deine Lippen und ließ deine Zunge mit meinen Fingern spielen. Du fragtest, ob ich es schaffen würde, die Augen geschlossen zu halten, und ich erwiderte, ich wolle es versuchen. Wir liebten uns blind, aber danach war mir, als hätte ich noch nie irgendjemanden so sehr gesehen wie dich.
Darüber hätte ich gerne mit dir gesprochen. Und ebenso gerne hätte ich mit geöffneten Augen wiederholt, was wir mit geschlossenen getan hatten. 
Doch stattdessen nun dieser Ritt  auf Pferden, von denen ich nicht wusste, woher sie kamen.. Die Welt, die auf uns zuflog mit einer Geschwindigkeit, die mich ahnen ließ, dass es von hier kein Zurück mehr gab. Dein Jauchzen, das mich wünschen ließ, wie du zu sein. Hatte ich dich deshalb erträumt? Hatte ich? Dich erträumt?


5  Liste der Fundstücke

neben der Spritze und dem Bilderbuch:

- ein Notizbuch 
- ein Bleistift

(Welche du benutztest, um für jedes einzelne Fundstück eine eigene Seite anzulegen, auf der später genauere Beschreibungen festgehalten werden sollten.)

- einige Meter Angelschnur
- ein Tütchen Sonnenblumensamen
- ein Klappspaten
- ein Stück Treibholz
- eine schlafende Nachtigall



6  Das Sprechen der Dinge; die Nachtigall

- Lass uns über die Fundstücke sprechen. (sagtest du)
- Sie baten mich um Verschwiegenheit. (sagte ich)
- Das bildest du dir ein.
- Wie kannst du das behaupten? Sie sprachen ganz deutlich zu mir.
- Was sprachen sie denn?
- Dass ihr Geheimnis gewahrt bleiben muss und dass ich sie vor den Hütern in Sicherheit bringen soll.
- Es ist gut, dass du das getan hast.
- Siehst du!
- Das heißt nicht, dass sie zu dir sprachen.
- Aber wie sonst sollte ich ...
- Aus einer Eingebung heraus, die du ernst nahmst.
- Was macht dich bloß so sicher in deinen Behauptungen?
- Dass ich noch nie in einen Spiegel gesehen habe.
- Das erzähltest du mir bereits. Ich kann es kaum glauben.
- Es ist die Wahrheit. Spiegel vermögen die Sicht zu verstellen.
- Aber wie gelingt dir das? Die Welt ist voller Spiegel.
- Es ist in der Tat eine große Versuchung. Aber nur so bleibe ich in Verbindung.
- In Verbindung womit? Womit?
- Mit den Dingen.
- Du meinst, du seiest, anders als ich, in der Lage, sie zu hören, mit ihnen zu sprechen?
- Das bin ich. Weil wir aneinander interessiert sind.
- Mehr als an euren Spiegelbildern.
- Ja, viel mehr.
- Du verurteilst also das Betrachten des eigenen Spiegelbilds.
- Nein, das tue ich nicht. Ich entschied mich lediglich für etwas anderes.
- Gibt es denn keinen Mittelweg?
- Doch, den gibt es, aber der ist schwer zu beschreiten. Ich weiß nicht, ob ich es könnte.
- Dabei scheinst du so stark.
- Du siehst mich nicht ganz.
- Wegen der Spiegel?
- Wegen der Spiegel.

*

Das musste ich erst einmal sacken lassen.
Sprachen wir also über die Fundstücke. Wir waren uns einig, dass sie uns einmal nützlich sein könnten und wir sie deshalb gut verwahren sollten. Die Angelschnur brachten wir gleich zum Einsatz. Ihr eines Ende schlangen wir um ein Füßchen der Nachtigall und schoben zum Schutz ein zartgrünes Blättchen zwischen Schnur und Bein. Das andere Ende befestigten wir an einem Stein. So wollten wir sichergehen, dass der kleine Vogel, sollte er überraschend aufwachen, nicht davonfliegen würde.
Überhaupt war dieses schlafende Tier das erstaunlichste unter den Fundstücken. Es hatte in einer Schublade in dem seltsamen Haus gelegen. Zuerst hatte ich es für tot gehalten, obwohl das Federkleid so frisch aussah. Ich hatte den kleinen Körper behutsam in die Hand genommen. Er war ganz schlaff, das Köpfchen baumelte herab. Aber er war warm und das Herz pochte leise. Ein Lebewesen im Tiefschlaf. Mir waren Tränen in die Augen geschossen. So etwas Anrührendes war mir nie zuvor begegnet. Ich zeigte dir den Vogel, du erkanntest ihn sogleich als Nachtigall. 
Nach meiner Flucht und der Wiederbegegnung mit dir am Fluss bereiteten wir dem kleinen Schläfer ein Lager aus Moos und Blütenblättern. Wir betteten ihn regelmäßig um und gaben ihm mithilfe eines Grashalms Tau zu trinken. Ich war verzaubert von den winzigen Schluckbewegungen, dem zarten Flaum unter dem hellbraunen Gefieder, dem kaum sichtbaren Heben und Senken des kleinen Brustkorbs, dem leisen Herzschlag.
Ich begann zu lieben, was wir hier taten.


7  In Sicherheit

Wir ernähren uns von Fisch und Wildpflanzen. Du hast mir beigebracht, essbare von giftigen zu unterscheiden. Trotzdem musst du immer noch ein paar Stängel, Beeren oder Knollen aussortieren, wenn ich allein unterwegs war zum Sammeln. 
Die nächsten Siedlungen sind jeweils einen Tagesmarsch entfernt, wir haben alle vier Himmelsrichtungen geprüft. Seltsam erschien mir dabei, dass wir nirgends auf das Haus stießen, aus dem wir geflohen waren. Davor hatte ich mich heimlich gefürchtet. Wir seien inzwischen weiter davon entfernt, als man in der Spanne eines Lebens laufen könne, erklärtest du mir, und ich fragte nicht weiter.

Mir ist, als dehnten wir Zeit und Raum. Nie hätte ich mir vorstellen können, mich außerhalb einer alles umschließenden Mauer und ohne durchstrukturierten Tagesablauf so sicher zu fühlen. 
Wir treiben dahin. Wir liegen im Gras, wir baden im Fluss. Wir essen und trinken und kümmern uns um die Nachtigall. Ich stelle dir Fragen, du antwortest in Rätseln, die mich weit mehr befriedigen als all die banalen Gültigkeiten, mit denen ich von den Hütern abgespeist worden war.
Vor allem aber sind wir einander hingegebene Körper. 
Mir ist, als fügtest du mich zusammen, weil du in eine Haut geschlüpft bist, die reißen kann, unter der Blut pocht, das davonfließen kann, unter der Knochen liegen, die brechen können. Manchmal möchte ich mich wie eine zweite Haut um dich legen, zum Schutz, aber stattdessen legst du dich um mich, hebst mich empor und lässt mich ein Stück fliegen, losgelöst, um uns von oben zu betrachten. Aber das halte ich immer nur solange aus, bis sich etwas Dunkles dazwischenschiebt, ein erdschwerer Schatten, den ich nicht sehen will, weil ich nicht zu erkennen vermag, ob er mir Vergangenes oder Zukünftiges zeigt. Also lasse ich mich fallen und lande in einem beruhigend gegenwärtigen und schlichten Bedürfnis wie Hunger oder Durst oder Müdigkeit oder Lust.

Ich sollte, ich muss von den Hütern erzählen. Ja. Und ich werde es tun. Bald. Was innerhalb gedehnter Zeit ein überraschend freizügiger Begriff ist.


8  Ganz allein

Manchmal kommst du mir abhanden. Ich war vielleicht in Gedanken versunken, tauche irgendwann wieder auf, und du bist nicht mehr da. Nicht eine Spur von dir ist zu finden. Als hätte ich dich in einem selbstvergessenen Moment gleich mitvergessen und durch dieses Vergessen - ich wage kaum, es auszusprechen: ausgelöscht. Dann springe ich panisch auf, drehe mich fliegend im Kreis, spähe wild in alle Richtungen, laufe blindlings los, aber nur ein kurzes Stück, und möchte am liebsten laut schreien. Aber das tue ich ja bereits, habe es nur nicht wahrgenommen. 
Du darfst nicht fort sein! Nicht einfach so verschwinden. 
Ich zweifle zum wiederholten Male an meiner Unterscheidungsfähigkeit von Wirklichkeit und Traum. Bist, warst du denn wirklich? Aber ja!, ruft meine Haut, und mein vergewaltigter Geist deutet auf seine von deiner Hand geheilten Wunden. Überall an und in mir finde ich deine Abdrücke.
Ich lege mich zu unserer schlafenden Nachtigall und schließe erschöpft die Augen. Bin ganz und gar zurückgeworfen in ... ja, in was denn? Was war da denn, wer war ich denn ohne dich?

Ich erinnere mich an eine besonders perfide Form der Strafe, welche von den Hütern angewandt wurde, wenn wir gar zu aufmüpfig nach einem Spaziergang "da draußen" verlangten, wenn wir trotzig darauf bestanden, einen Blick in die Welt werfen zu dürfen. Ließen wir uns nicht bezähmen, wurden wir mit verbundenen Augen an einen Ort außerhalb der Mauern gebracht. Dort nahm man uns die Augenbinde ab und ließ uns einen Tag und eine Nacht lang allein auf freiem Feld unter einem Baum mit ein wenig Proviant.
Es gab nur wenige unter uns, die diese Maßnahme mehr als einmal provozierten. Die meisten vergaßen nie das Gefühl von Schutzlosigkeit und Ausgeliefertsein, das sie in den endlos scheinenden Stunden durchlitten hatten. Hilflos an den Baum gepresst, nicht wagend, auch nur einen einzigen Schritt ins Freie zu tun. Ich war zweimal dort gewesen.
In diesen Momenten, wenn du plötzlich fort bist und ich auf mich allein gestellt bin, fühlt es sich wieder so an wie auf diesem weiten Feld unter dem einsamen Baum.

Aber jedes Mal kehrst du zurück. Jedes Mal zeigst du dich aufs Neue erstaunt über meine heftige Reaktion, sei ich doch, als du gingst, so eins mit mir gewesen. Jedes Mal sagst du, ich müsse mich daran gewöhnen. Aber warum? Wozu? Ich habe mich an dich gewöhnt. Ich will mich nicht an ein Ohnedich gewöhnen müssen.

Weißt du, dass dein wissendes Lächeln mich zornig macht? Aber das sage ich dir nicht, das denke ich mir nur.


9  Singen

Ich will sie so gern singen hören! 
Ich brenne darauf, dass sie endlich aufwacht, kann mich manchmal kaum noch beherrschen und bin kurz davor, sie zu wecken. Ganz sanft, natürlich! Mit einem winzigen Schubs nur. Sachte übers Gefieder blasen. Oder einem zärtlichen Kuss auf das kleine Köpfchen, durch das uns unbekannte Träume ziehen. 
Aber dann scheue ich doch jedes Mal davor zurück. Nicht immer bedarf es dazu deines Blicks, der sagt 'Hab Geduld. Lass sie. Es wird von selbst geschehen, eines Tages.' 
Also lassen wir sie. Lassen sie schlafen. Und schlafen.
Was hat diesen kleinen Vogel bloß so unendlich müde gemacht?

Ich habe mir angewöhnt, mich in deinen Blick zu betten, der sich darbietet wie ein sanftes Lager. Dort vergesse ich mein Spiegelbild und die Ordnung meiner Züge und meiner Haltung, deren gründliche Überprüfung und Zurechtrückung zu meiner täglichen Routine geworden waren. Ich lasse mich aus dem Rahmen meines selbstkritischen Schauens in dein abstrichlos annehmendes fallen.
Als ich dich einmal fragte, wo du diesen Blick erlernt habest, erwidertest du, es sei nicht nötig gewesen, ihn zu erlernen, da du ihn nie verlernt habest. Und ich dachte an meine Jahre zwischen den Mauern, in denen ich unfassbar viel verlernt haben musste. Das Gegenteil hatte ich für wahr gehalten, hatte doch all dies Verlernte ein immenses, Bedeutung vorgaukelndes Gewicht, so dass es sich anfühlte wie ein ungeheurer Lernreichtum.

Aber erst jetzt und durch dich lerne ich wirklich, indem ich mich von dir zu etwas zurückführen lasse, das einmal dagewesen sein muss. Vor der großen Erweckung, die in Wahrheit eine Einschläferung war. 'Ja? War sie das?', fragt etwas in mir. Inzwischen denke ich, dass es so war. Frage mich aber auch, ob dies denn bereits meine eigenen Gedanken sind. Vielleicht schlafe ich noch immer (wenn es denn so war/ist, wie ich (ich?) denke). Vielleicht träume ich noch (wenn dies denn wirklich (wirklich?) ein Traum war/ist). Ich weiß es nicht.

Was ich aber weiß: Dass wir hungrig und durstig sind und dann essen und trinken, dass wir uns die Münder mit den Handrücken abwischen und uns die satten Bäuche reiben. Wir graben unsere Zehen ins Erdreich und unsere Finger in die Körperhöhlen des jeweils anderen. Den Fingern folgen die Nasen und die Zungen. Wir sind voll unverhohlener Neugier. 
Und du siehst mir dabei zu, wie ich mich aus dem Rahmen fallen lasse.

Ach, und zugleich mit deinem Blick immer auch dein Ohr, das mich zum Singen bringt. Leise noch, ein wenig unterdrückt. Um unsere schlafende Nachtigall nicht vor der Zeit zu wecken.


10  Die Hüter

Am schlimmsten war, dass wir unsere Fragen nie zu Ende denken konnten, denn immer kamen uns die Antworten der Hüter zuvor. Und immer waren diese Antworten so klug und schlüssig, dass sie fette Punkte mitten hinein in unsere unbeholfenen Frageversuche platzierten, Schlusspunkte, die allem Zweifel bereits im Ansatz den Garaus machten. Wir standen da mit offenen Mündern, die versiegt waren und ließen uns SchwarzaufWeis(s)heiten in die Ohren pflanzen, abgelesen von Dünndruckseiten aus einem meterdicken schwarzen Buch, dessen Titel schlicht "Das Wort" lautete. "Das Wort" versammelte alles in sich, was man wissen musste, um ein gefälliges Leben zu führen. Deutungsbefugnis besaßen ausschließlich die Hüter. Sie hüteten uns und unsere Zungen und Ohren (und auch unsere anderen Gefäße) und das Wort und seine strikte Befolgung.

Wenn ich dir das nun erzähle, weiß ich, dass aus meiner Art und Weise des Erzählens der Zwang herausklingt, dem wir unterworfen waren, aber damals empfanden wir es ganz im Gegenteil als Schutz und waren dankbar für alles, was wir lernen durften und hatten kein anderes Ziel, als selbst eines Tages zur Schar der Hüter gehören zu dürfen. Verstehst du? 
Und ich glaubte mich diesem Ziel trotz meiner wiederholten Zweifel bereits ganz nahe, als du mich in meinem Traum aufsuchtest und mit einem einzigen Blick, einer einzigen Handbewegung all die fetten Punkte aufwirbeltest, um sie anschließend  nach und nach hinauszubefördern aus meinem Geist.

Du willst, dass ich von den Hütern erzähle, und ich weiß, dass du Kunde von all dem in meiner tiefsten Tiefe Verankerten erlangen willst, aber das braucht Zeit und eine andere, dem Ganzen angemessene Sprache, die gerade erst in mir heranzureifen beginnt. 

So üben wir uns in Geduld, einer Geduld, die in ihrer Behutsamkeit derjenigen verwandt ist, die wir im Umgang mit unserer schlafenden Nachtigall an den Tag legen. In ihrer Behutsamkeit, aber auch in ihrer Beharrlichkeit und gespannten Neugier.


11  Übungen und einfache Dinge

"Sie wirbelte herum, die Hand mit dem Messer in Schulterhöhe, bereit zum Verteidigungsstoß. Doch im Zwielicht konnte sie seine Position nicht deutlich ausmachen. Genau die Lichtverhältnisse, die er liebte. Dass er es gewesen war in seinem schwarzen Talar, bezweifelte sie keinen Augenblick. Niemand sonst war in der Lage, mit einer einzigen kurzen Berührung einen derartigen Kältestoß durch ihren Körper zu jagen. Dort, wo sein Finger auf ihre Schulter getippt hatte, ertastete sie ein kleines rundes Mal mit scharfen Rändern. Eisverbranntes Gewebe. Sie würde es herausschneiden müssen. Wieder einmal. Doch die Narben störten sie längst nicht mehr. Die waren der Preis, den ihre Auswilderung kostete. Er glaubte vermutlich, dieser Preis sei ihr zu hoch, sie würde ihn irgendwann nicht mehr zahlen wollen. Aber da kannte er sie schlecht ..."

Als ich aus dem Traum hochschrecke, siehst du mich an, als seiest du dabei gewesen und habest die Szene genau beobachtet. 
"Es war nur ein Traum", platze ich sofort heraus, wie zur Verteidigung.
"Es war eine Übung", erwiderst du, und versetzt mich damit zum wiederholten Male in Erstaunen.

Seit ich dir versprochen habe, mehr von den Hütern zu erzählen, verfolgen sie mich im Traum. Aber anstatt ängstlich zu fliehen, setze ich mich dort zur Wehr. Das heißt, sie setzt sich zur Wehr. Denn ich träume von mir als einer dritten Person, einer, die zwar offensichtlich ich ist, aber herausgenommen aus mir, wie um mir die unschuldige Rolle einer Zuschauerin zu überlassen, die wählen kann, ob sie hin- oder wegsieht, ob sie gut oder schlecht findet, ob sie sich gar ein Beispiel nimmt.
Jedes Mal erwache ich mit einem schlechten Gewissen aus diesen Träumen. Noch habe ich niemanden verletzt oder getötet, aber die Absicht, es im Notfall zu tun, hege ich zweifelsfrei. Ich trage stets ein Messer bei mir und scheine nicht nur mich, sondern auch meinen Platz verteidigen zu wollen. Einen frei gewählten Platz, den zu räumen ich nicht bereit bin.

Manchmal beobachtest du mich im Schlaf, so wie eben. Wenn ich das bemerke, versuche ich sogleich, meine geträumten Absichten zu relativieren. Ich schäme mich vor dir für meine Gewaltphantasien, die ich mir im Wachzustand niemals erlauben würde.
Doch du sagst dann Dinge wie "Es war eine Übung" oder "Dies ist erst der Anfang". Und ich verstehe nicht, bist du doch selbst der friedfertigste Mensch, der einzige. Aber deine Hand, die sich beschwichtigend auf meine Schulter legt, sagt mir, dass ich gar nicht verstehen muss. Dass es einen anderen Weg des Begreifens gibt.

"Können wir jetzt bitte Fische fangen und Kräuter sammeln? Können wir auf den Baum klettern und die höchsten Früchte pflücken? Dann ein Mahl zubereiten und essen? Können wir anschließend im Fluss baden? Uns danach zueinander legen und uns lieben, bis wir rundum satt sind? Und wenn wir genug haben, die Sonne verabschieden und den Mond und die Sterne begrüßen? Können wir all diese einfachen Dinge tun?"

"Natürlich", sagst du, "genau darum geht es doch."


12  Der verborgene Text

Ich habe dich um ein paar leere Blätter aus dem Notizbuch und um den Stift gebeten, denn in mir formuliert sich eine Beschreibung inneren Erlebens, das sich am äußeren Erleben entlanghangelt und der Wahrheit viel näher ist, als es jede sachliche Beschreibung der Vorgänge hinter der Mauer sein könnte.
Ich schreibe den Text auf, der sich in mir formt und überreiche ihn dir. „Hier, lies“, sage ich, „dann wirst du verstehen.“
Du liest ihn aufmerksam, ohne Regung. Danach blickst du mich an und sagst: „Ja, ich verstehe. Und ich weiß, auch, dass du dies nicht gerne hörst.“

*

[An dieser Stelle werden wir Zuschauer erstmals aktiv. Sind wir doch von Natur aus neugierig und treten deshalb einen Schritt näher, um einen Blick über ihre Schulter auf den geheimnisvollen Text werfen zu können. Wir lesen: „Ich träumte von dir in der vergangenen Nacht. Du spaziertest nackt und völlig ungeniert durch ein seltsam kühles, verschachteltes Haus, in das man uns zur Überbrückung einer Wartezeit gesteckt hatte …“
Verdutzt halten wir inne. Aber das kennen wir doch! Nun sind wir erst recht gespannt und wollen weiterlesen, doch da zerknüllt sie die Papierbögen. Fahren wir also fort mit unseren Beobachtungen.]

*


„Ich möchte nicht weiter darüber sprechen“, sage ich.
„Das ist auch nicht nötig“, sagst du.


13  Schlafe, noch ein wenig

So viele Welten bieten
sich meiner Unruhe an
keine von ihnen
ein Ort wie er unter
schlafenden Lidern
zu finden wäre

(langsam, ganz langsam beginne ich, ihren Schlaf zu begreifen)

Könnte ruhig schlafen da
wo ein Lied möglich wäre
mit unvermessener Stimme
ohne fremde Finger
an der Kehle

mein Lager soll sein
ein Aufbruchsort
eine Hand
hoch in der Luft
Abflugrampe
für Schiffe aller Art

(schlaf weiter, Nachtigall, schlafe, ich lerne von dir; mehr als von jedem prüfenden Blick, von jeder weisenden Hand)

Fast ist es als könne
er bald gehen
er der ein du war
für mich
aber noch
halte ich fest
halte ich den Fluss fest
in der Hand
und das weite Grün 

(schlaf weiter, Nachtigall, schlafe, noch ein wenig)


14  Das Losbinden 1

Es juckt uns in den Fingern, die Nachtigall loszubinden. Aber noch wagen wir es nicht.


15  Das Losbinden 2

- Warum haben wir sie eigentlich festgebunden? (fragst du)
- Um zu verhindern, dass sie davonfliegt, sobald sie aufgewacht ist. (sage ich)
- Warum soll sie nicht davonfliegen dürfen?
- Sie kennt die Freiheit doch gar nicht. Wer weiß, ob sie alleine zurechtkäme.
- Ist das der Grund? Dass wir sie schützen wollen?
- Du vermutest etwas anderes dahinter?

*

[Hier möchten wir Zuschauer uns nochmals zu Wort melden: Tut es etwas zur Sache, wer welchen Part in diesem Dialog übernimmt? Uns scheint, die Rollen könnten ebenso gut vertauscht sein. Hier findet ein Gespräch statt, in dem zwei sich nicht gegeneinander positionieren, sondern miteinander etwas zu ergründen versuchen. Es könnte sich sogar um ein Selbstgespräch handeln. In jedem Falle aber wohl um ein Gespräch in seiner schönsten Form.]

*

- Vielleicht wollen wir sie einfach bei uns behalten.
- Was wäre falsch daran? Schließlich lieben wir sie.
- Vielleicht bliebe sie ja freiwillig.
- Das können wir nicht wissen.
- Wir können es herausfinden.
- Wie?
- Indem wir sie losbinden.

*

[Sie bemühen sich aufrichtig. Sie blicken sowohl ihren Sehnsüchten als auch ihren Ängsten ins Auge. Sie sind gewillt, das Richtige tun. Sie fürchten sich vor Verlust. Sie können frei entscheiden, und sind nahe daran zu erkennen, dass nur eine ihrer möglichen Entscheidungen tatsächlich mit Freiheit zu tun hat.]

*

- Wir werden nicht mehr ruhig schlafen können.
- Wir könnten es als Übung betrachten.
- Eine Übung in Loslassen? In Mut? In Vertrauen?
- Eine Übung in Liebe.
- ...
- ... 

*

[Sie weinen ein wenig. Aber nicht aus Sentimentalität, nein, es gehört einfach als Lebensäußerung dazu und hat nichts Verzweifeltes. Sie wissen es ja: Die Liebe erweist sich im Freilassen. Sie wissen das auch ohne Konfuzius, von dem sie noch nie etwas gehört haben.] 

*

- Lass uns noch eine Nacht darüber schlafen.
- Lass es uns lieber jetzt gleich tun.
- Warum so eilig?
- Weil wir längst wissen, dass es das Richtige ist.

*

[Nun ist es an uns Zuschauern, die Luft anzuhalten …]


16  Das Losbinden 3

Vor zwei Stunden haben wir unsere (unsere?) Nachtigall losgebunden. Zuvor haben wir sie noch einmal umgebettet und ihr ein wenig Wasser eingeflößt. Sie schläft noch immer tief und fest und atmet ganz ruhig. Wir hingegen sind jetzt sehr aufgeregt.


17  Wie es sein wird

Wie es sein wird? Wir wissen es nicht. Das heißt, manchmal glaube ich, du weißt es sehr wohl, willst mich aber nicht teilhaben lassen an diesem Wissen. Ich frage dich auch nicht. Das wäre wie ein Überspringen und ein Auslassen. Aber ich will nichts überspringen und auslassen, ich will alles, jeden einzelnen Augenblick.
Ich weiß nicht, wie lange wir uns noch hier am Fluss aufhalten werden. Und warum der Sommer nicht zu enden scheint, weiß ich auch nicht. Vergesse ich diese Fragen und wende mich stattdessen dem zu, was ist, verengt sich zwar mein Fokus, stellt sich scharf auf den Moment, und dehnt sich aber zugleich die Zeit bis an den äußersten Rand, dort, wo sie nicht mehr fortschreitet und vergeht, sondern sich ruht. Eine weiche Kugel mit einem unendlichen Innenraum.

Wären da nicht unsere Leiber, die nach dem erhitzten Aneinander und Ineinander sich wieder voneinander lösen und abkühlen. Unsere Hände streichen über Gänsehaut und winzige Nachbeben, und all dieses zarte, sich aufbäumende Leben scheint gefangen nicht im wieder und wieder sich reproduzierenden Jetzt, sondern im fortlaufenden Variieren. Minimale Veränderungen der Lust, der Gier und des Sattseins.
Wir schlafen inzwischen nicht mehr regelmäßig ein in den Bächen, die wir vergossen haben, lassen sie nicht mehr von unserer Haut und dem Boden, auf dem wir schlafen einsaugen, sondern waschen sie im Fluss ab. Und waschen sie uns nicht mehr gegenseitig ab, was dann regelmäßig zu neuen Ausbrüchen von Lust führte, sondern waschen jedes sich selbst.
Wie mein Körper sich anfühlt, so losgelöst von deinem. Kaum zu glauben, dass er für sich ein Ganzes ist.

Erinnerst du die Nacht, die erste, die wir voneinander abgewandt einschliefen? Ich lag noch lange wach und erforschte mich. Und fragte mich, ob du das gleiche tatest. Und in der zweiten Nacht schon fragte ich mich das nicht mehr, sondern wandte mich ganz und gar mir zu und der Möglichkeit, meinen Arm weit zur Seite strecken zu können, ins Dunkle, an der Unterseite das leicht feuchte Gras und an der Oberseite himmelhoch Luft.

Wie es sein wird? Ich versuche, diese Frage vom Zwischenuns zur Nachtigall umzulenken. Ich stelle mir vor, wie sie eines Tages aufwachen wird. Wie sie singen wird. Und dass es unbeschreiblich schön sein wird.
 

18  Fallen

Wie ich auf einmal falle, in alles falle ohne Unterlass und nicht mehr sein will ohne dieses Fallen und ist doch gar kein Herbst - fall - atumn, harvest, fall - to fall - nein: fallen, wirklich fallen ließ ich mich im Frühling - spring - to spring, sprang, sprung -  sprang from your wholehearted gaze - entspringe neu in diesem Fallen, entspringe neu und sehend deinem Blick -  bleibst du, wenn schließlich alles um uns fällt? - ich zweifle seit  -


Du warst spazieren. Ich habe heimlich in deinen Notizen geblättert. Darin hast du die Fundstücke aufgelistet und deren mögliche Verwendung beschrieben. Die Angelschnur hatten wir benutzt, um die Nachtigall festzubinden. Inzwischen ist sie wieder losgebunden, und die Schnur bewahren wir aufgerollt neben den anderen Fundstücken in einer kleinen Grube, die wir mit dem Klappspaten ausgehoben und mit Blättern ausgekleidet haben.
Der Klappspaten. Ich will vergessen, welchen Verwendungszweck du unter anderen dazu notiert hast. Will es vergessen, vergessen, VERGESSEN!
Auch das Stück Treibholz, die Sonnenblumensamen - VERGESSEN! 

Die Flüssigkeit in der Spritze soll ein Erwachen bewirken. Das verstehe ich nicht. Wäre es also möglich, sie der Nachtigall zu verabreichen und diese damit zu wecken? Wenn ja, warum tun wir es nicht? Oder ist ihre Wirkung gar so stark, dass ich dich damit - im Falle deines - 
Nein! Ich kann hier, ich will hier nicht weiterdenken.

Was ist mit dem Pop-up-Bilderbuch? Seit unserem Erlebnis in dem seltsamen Haus, als wir mit unseren Armen tief in einen weiten, hinter den Vorhängen im Buch verborgenen Raum vordrangen, haben wir es nicht mehr aufgeschlagen. In deinen Notizen hast du dazu lediglich vermerkt: „hinter dem Vorhang vortreten“.

Als du von deinem Spaziergang zurückkehrst, findest du mich verstört, obwohl ich mich bemühe, es zu verbergen. Als hätte ich je etwas vor dir verbergen können. Du fragst nicht, streichst mir nur durchs Haar und sagst: „Schon gut.“ Ich muss nichts sagen, du weißt es sowieso.
Etwas in mir bäumt sich auf gegen dieses Allwissen, aber der größte Teil von mir lässt sich fallen in deine Allumfassung, weil sie so gar nichts gemein hat mit der Allumfassung, wie ich sie von den Hütern kenne.

„Bleib doch bitte für immer“, sage ich nicht, sondern schweige ich in mich hinein, auch wenn es dort meinen kompletten Innenraum bis zum Bersten füllt.

„Haben wir nicht eine wundervolle Zeit zusammen“, sagst du.


19  Ende und Anfang 1

Als ich am Morgen aufwache, liegst du nicht neben mir. Das ist nicht ungewöhnlich. Seit die hungrige Hitze unserer ersten Wochen nachgelassen hat, unternimmst du fast täglich Spaziergänge im frühen Dämmerlicht. Um diese Tageszeit liegt ein besonderer Schimmer auf dem Fluss, sagst du, ein Funkenspiel, das deine Seele berührt und von etwas kündet. Von was, möchte ich lieber nicht wissen, deshalb frage ich nicht, und du erzählst mir nicht unaufgefordert davon.
Obwohl ich also den leeren morgendlichen Platz an meiner Seite kenne, lässt er heute mein Herz den Takt wechseln. Das muss daran liegen, dass ich mich nach der recht kühlen Nacht gerne ein wenig an deiner Haut gewärmt hätte. Ja natürlich, nur daran liegt es, Herz, sei ruhig. 

Ich schlage die Decken zurück und richte mich auf, lasse meinen Blick bis zur nahen Flussbiegung schweifen. Du bist nicht zu sehen. Ein Blick auf die Nachtigall, sie schläft noch immer, nichts anderes habe ich erwartet.
Ich recke und dehne meine Glieder, schlüpfe in die Schuhe und schlendere am Ufer entlang, streiche mit den Fingern durch die hohen, taubenetzten Gräser, lausche dem morgendlichen Vogelsang. Irgendwann wird unsere Nachtigall das schönste Lied von allen anstimmen, davon bin ich überzeugt.
Ich lasse mir Zeit, beuge mich hin und wieder hinab, um einen flachen Stein aufzuheben und ihn übers Wasser springen zu lassen. Es will mir heute nicht gelingen, jeder einzelne versinkt mit dem ersten Auftreffen.
Dann entdecke ich dich.
Natürlich bist du hier an dieser Stelle! Handelt es sich doch um einen unserer Lieblingsplätze im Fluss. Dieser ist hier ganz seicht, man kann die Stichlinge zwischen den Steinen am Grund umherflitzen sehen. Sein Lauf beschleunigt sich um eine Sandbank herum, auf der wir uns häufig sonnen, das Gurgeln des Wassers und das Sirren der Luft im Ohr. 
Du liegst ausgebreitet auf dem Rücken, die beschuhten Füße im Wasser, den Kopf auf einen Stein gebettet. Wie unbequem, denke ich, bevor mein Herz erneut den Takt wechselt und ich in die Knie gehe, weil mich eine plötzliche Schwäche erfasst.
Die Welt hält kurz inne, zu kurz, schon muss ich wieder in die Höhe und einen Fuß vom Ufer hinüber auf die Sandbank setzen, den zweiten folgen lassen, neben dir in die Knie
gehen. Wie schön du bist, fährt es mir durchs Herz.


20  Ende und Anfang 2

Der rot gefärbte Stein, dein ins Nirgends gerichteter Blick, dein Kopf, der unnatürlich weit nach hinten fällt, als ich dich an den Schultern hochziehe, dein schlaffer Leib, dein ungeheures Gewicht, der weite Weg zurück zum Schlafplatz, die Schleifspur, die wir hinterlassen, die Taubheit meiner Arme, der Fluss, die Wiese, die Sonne, der Baum, die Nachtigall, die Fundstücke, unsere Dinge, unser Platz, die Nacht lange vor Einbruch der Dunkelheit, dieser Tag, dieser nicht enden wollende Traum …


21  Ende und Anfang 3

Ich benötige zwei volle Tage, um ein Loch auszuheben, das lang und breit und tief genug ist. Du hattest genau diese Verwendungsmöglichkeit für unseren Klappspaten notiert. Ich war darauf gestoßen, als ich einmal heimlich in deinen Notizen geblättert hatte und wünschte nun, ich hätte unsere letzten gemeinsamen Tage  frei von der Last dieses Wissens genießen können.
Mein Rücken und meine Arme schmerzen, meine Hände sind voller Blasen, aber jeder körperliche Schmerz ist besser als der andere, tiefere.
Zwischendurch lege ich Pausen ein, unter anderem, um dich zu waschen, dir frische Kleider anzuziehen und dich in Decken zu hüllen, auch dein Gesicht, was mich einige Überwindung kostet, aber notwendig ist, um dich vor den Fliegen zu schützen. Später, in der dunklen Erde, wirst du gänzlich ausgesetzt sein, aber hier, im Licht, an der Luft, will ich es noch verhindern.

Als ich mit dem Graben fertig bin, lege ich mich ein letztes Mal zu dir, hülle mich mit ein in die Decke, die ich um deinen Leib gewickelt habe. Deine kühle Haut, die unbewegte  Brust, dein Haar, deine Lippen, deine Wimpern. Mit Mühe schlinge ich deine Arme um mich. Fast wären wir eins. Was sage ich bloß?

*

Schmerzworte, Mangelworte, Schweigeworte, Nichtworte
Zeilenzwischenräume ohne Zeilen drumherum
Du nicht mehr und in allem nur du
Ich ohne dich 
Ichohnedich

*

Mit Hilfe der Decken ziehe ich dich schließlich bis an den Rand deines Grabes. Ich würde dich gerne langsam hinablassen, aber dafür bist du mir zu schwer. Keinesfalls will ich dich hineinrollen, zu groß ist die Gefahr, dass du mit dem Gesicht nach unten zu liegen kämest. Nicht auszudenken! 
Schließlich steige ich selbst in die Grube und ziehe dich herunter. Das funktioniert. Stück für Stück rutschst du hinab, gehalten von meinen Beinen auf der einen und der Erdwand auf der anderen Seite. Nachdem es geschafft ist, stemme ich mich wieder hinauf, setze mich auf die Kante oberhalb deiner Füße und betrachte ein letztes Mal dein Gesicht und die Konturen deiner Gestalt unter der Decke. Kaum dass ich dich noch darin finde.
Also bedecke ich dich endlich mit Blättern, zuerst das Gesicht, die Lider, dann den Rest und streue anschließend einen Teppich aus Blüten und Gräsern über dich. Ein paar besonders schöne Steine und Hölzer, die wir im Laufe der Zeit gesammelt hatten, füge ich hinzu. Und bevor ich beginne, die Erde aufzuschütten, beuge ich mich noch einmal hinab, um einen Schmetterling zu befreien, der sich auf einer der Blüten niedergelassen hat.

Es dunkelt bereits, als ich die letzte Schicht Erde aufgetragen habe. Ich nehme ein kurzes kühles Bad im Fluss und krieche erschöpft zwischen meine Decken. Hier in der warmen Geborgenheit unseres Nachtlagers, mit dem sanften Abendwind auf meinem Gesicht und dem Sternendach über mir, weine ich zum ersten Mal, seit ich dich auf der Sandbank gefunden habe. Die Tränen rinnen erst leise über meine Wangen, aber als meiner Brust ein tiefer Schluchzer entfährt, kann ich mich nicht mehr halten. 
Du fehlst mir so. Was soll nun werden?


22  Das Erwachen 1 

Ich schlafe unruhig in dieser Nacht nach deinem Begräbnis. Im Traum durchlebe ich wieder und wieder Szenen unserer gemeinsamen Zeit. 
Die Flucht aus dem seltsamen Haus, nach der ich dich zunächst verloren glaubte. 
Die Wiederbegegnung mit dir im Fluss, das Errichten unseres Lagers, das Erkunden der Umgebung. Das Verschwundensein des seltsamen Hauses.
Wie wir essbare Pflanzen sammelten, Fische fingen. Uns liebten. Am Tag und in der Nacht. Im Fluss, im Gras, auf der Sandbank. 
Das gegenseitige Erforschen unserer Körper, unsere schier unersättliche Neugier.
Die Beschäftigung mit den Fundstücken aus dem Haus. Das Hüten und Versorgen der Nachtigall.
Unsere Zwiegespräche. Deine für mich oft rätselhaften Aussagen über Sinn und Zweck dessen, was uns geschieht und dessen, was wir tun. Über Liebe, Freiheit und Schönheit. 
Deine stille Gelassenheit, mein berstendes Glück. Deine Geduld, meine Ungeduld. Deine Zugewandtheit, meine allmähliche Gesundung. 
Unsere Verbindung, von der ich gehofft hatte, sie würde ewig dauern.
Dein plötzlicher Tod. 

Kurz vor Einsetzen der Dämmerung reißen mich ungewohnte Laute aus meinen Träumen, ein nie zuvor gehörter Gesang.

Die Nachtigall ist aus ihrem Schlaf erwacht.


23  Das Erwachen 2

In den darauffolgenden Tagen kümmere ich mich weiter um dein Grab. Es soll schön sein. 
Ich ebne den aufgeworfenen Erdhügel. Er wird sich mit der Zeit weiter senken. 
Ich umrunde es mit Kieseln, die ich aus dem Flussbett klaube.
Ich säe die Sonnenblumensamen aus und hoffe, dass sie den Winter überleben und im nächsten Sommer aufgehen werden. Auf dem Tütchen steht: Aussaat März bis Juni. 
Ich nehme mir das Stück Treibholz vor und überlege, ob ich ein Kreuz daraus fertigen soll. Als ich es probehalber am einen Ende spalte, biegt es sich auf zu einem Ypsilon. Das gefällt mir. Viel besser als ein Kreuz. Eine nach oben sich weitende Öffnung. Es wird verwittern, aber das werde ich nicht mehr mitbekommen, also ist es in Ordnung für mich. Ich stecke das Ypsilon ans Kopfende deines Grabs und drücke als zusätzlichen Halt rundum ein paar faustgroße Kiesel in den Boden.
Ich suche stundenlang nach einem herzförmigen Stein und platziere diesen, nachdem ich ihn endlich gefunden habe, auf Höhe deiner Brust. Ich lege mich dazu, bis die Nacht hereinbricht. 

Bei allen Verrichtungen schlägt mein Herz seltsam ruhig. Ich kümmere mich um dein Grab und um unseren Platz, beschaffe Nahrung, bade täglich im Fluss und wasche meine Kleider. Ich esse, trinke, schlafe, funktioniere.

Die Nachtigall unternimmt derweil kleine Ausflüge, von denen sie bisher noch jedes Mal zurückkehrt. Sie singt. Für mich und von Liebe und Tod, bilde ich mir ein und lege unsere ganze Geschichte in ihr Lied. Irgendwann wird sie zu Ende gesungen, unsere Geschichte zu Ende erzählt haben und nicht mehr an diesen Platz zurückkehren. Dann werde auch ich aufbrechen müssen. Nur: Wohin?

Wie ich in allem nach Zeichen und Hinweisen suche. Wie ich allem eine höhere Bedeutung beimessen will.
Und doch kann dies nicht verhindern, dass die Tage kürzer und die Nächte kühler werden. Dass es häufiger regnet und die ersten Blätter fallen. Dass der Herbst kommt, um unseren Sommer endgültig abzulösen.

Manchmal beschäftigt mich die Frage, ob ich vielleicht noch immer träume.
Die Spritze fällt mir ein und deine Notiz, dass das Serum ein Erwachen bewirkt. Ich krame sie hervor, ebenso das Pop-up-Bilderbuch und lasse ein paar neue, ungewohnte Gedanken zu.

 

24  Das Erwachen 3

Welches Wort drückt einen Seufzer aus, so tief und lang, dass er Stunden, Tage und Nächte füllt? Welches Wort? Ich suche und finde es nicht. Es gibt keins. Soll ich eins erschaffen? 
Manches will unbezeichnet bleiben, stelle ich mir vor, denn jede Bezeichnung wäre ein zu enger Raum, jeder einzelne Buchstabe ein scharfkantiger Stein. 
Es gibt kein Wort für diesen langen, tiefen Seufzer, es gibt nur stummen Zwischenraum, bereit, gefüllt zu werden. Ich lernte von dir, dieses weite Gefäß zwischen den Zeilen zu lieben, das so geduldig und beharrlich alles aufnimmt.

Du fehlst! Ich lag in deiner Hand, sie war mir ein Hafen. Nie dachte ich, dass ich den Anker je wieder lichten und erneut aufbrechen würde. Nun hat der Hafen mich ausgestoßen, und ich treibe, einsam.
Und frage mich, welche Einsamkeit die größere ist: Die eine, hervorgerufen durch das Fehlen deiner Hand, oder die andere, verursacht durch die Nachtigall, die, nun endlich erwacht, meiner Hand nicht mehr bedarf.

*

Es ist früher Abend. Ich sitze auf unserer Lagerstatt, vor mir die Spritze und das Bilderbuch. Der Gedanke lässt mich nicht los, dass ich mich möglicherweise immer noch in einem Traum befinde. Also habe ich beschlossen, mir die Spritze zu verabreichen, das Serum, welches laut deiner Notiz ein Erwachen bewirken soll. 
Ich löse die Schutzkappe von der Kanüle, halte sie senkrecht in die Höhe und drücke den Kolben, bis ein winziges, zähflüssiges Tröpfchen austritt. Ich werde weder unter die Haut noch in die Vene spritzen, ersteres erscheint mir zu unsicher bezüglich der Wirkung, zweiteres traue ich mir nicht zu. Mit der linken Hand fasse ich das Fleisch meines Oberschenkels, zähle bis drei und stoße die daumenlange Nadel in den Muskel. Dann schiebe ich langsam den Kolben bis zum Anschlag hinunter. Ein leichter Druck, ein Brennen, beides erträglich. Ich ziehe die Nadel heraus und presse ein Huflattichblatt auf die Einstichstelle, bis sie nicht mehr blutet. 
Anschließend schlage ich das Pop-up-Bilderbuch auf mit seinen samtroten, hintereinander fallenden Vorhängen. Ich öffne einen nach dem anderen bis ich in der Buchmitte angekommen bin und wieder, wie damals in dem seltsamen Haus, den dunklen Spalt vor mir habe. Ich erinnere mich an den grenzenlosen Raum dahinter, in den wir mit unseren Armen vorgestoßen waren. Diesmal tauche ich mein Gesicht hinein und finde zunächst den tiefsten je geschlafenen Schlaf.


25  Der Aufbruch 1

Als ich aufwache - weit über den nächsten Morgen hinaus, so fühlt es sich jedenfalls an - als ich also endlich aufwache, ist jede Faser meines Körpers so schlafsatt, als hätte ich einen ganzen Berg von Nächten verschlungen. Ich verspüre einen immensen Tatendrang.
Trotzdem springe ich nicht sofort auf, denn auch mein Geist ist blitzwach und rät mir, mich mit Bedacht in den neuen Tag hineinzutasten. Kann ich doch hinter meinen noch immer geschlossenen Lidern nicht wissen, wie die Welt um mich herum aussieht. Jetzt, nachdem ich offenbar endgültig erwacht bin aus dem Traum und dem daraus geborenen Geschehen. 

Ich lausche aufmerksam, versuche auszumachen, ob sich der Klang meiner Umgebung verändert hat. Aber da ist das gewohnte Streichen des Windes, das Gluckern des Wassers im Flussbett, das leise Rascheln vereinzelt fallender Blätter. Da ertönt ein vertrauter Gesang. 
Zögernd streiche ich mit den Händen über meinen warmen Leib unter der dicken Decke, taste weiter, streiche über mein Gesicht, durchs Haar, über den Rand der Lagerstatt hinaus durchs taufeuchte Gras. Alles fühlt sich vollkommen vertraut an.
Ich öffne die Augen und erblicke über mir die Plane, die wir an Regentagen verwendeten. Mir fällt wieder ein, dass ich sie trotz des wolkenlosen Himmels vorsorglich über mein Lager gespannt hatte, weil ich nicht wusste, wie die Spritze wirken würde. Ob ich vor dem zu erwartenden Erwachen zunächst in tiefen Schlaf sinken oder in irgendeiner anderen Weise schutzbedürftig sein könnte.

Mein Körper und mein nächster Umkreis scheinen unverändert. 
Ich richte mich auf und wage einen Blick hinüber zu deinem Grab. Auch dort ist alles wie zuvor. Du bist nicht mehr bei mir. Aber du warst da, ich habe dich nicht bloß geträumt. Dein Grab ist da, umrundet von Kieseln, in der feuchten Erde der Abdruck meines Körpers, am Kopfende das Treibholz-Ypsilon, auf Brusthöhe der Herzstein.
Alles Sichtbare um mich her legt Zeugnis ab von unserer gemeinsamen Zeit.
Was aber hat sich dann verändert? Denn dass etwas anders ist, spüre ich überdeutlich. 
Ich horche in mich hinein. In meinen Körper scheint eine neue Lust nach Bewegung und Tätigkeit eingezogen zu sein. Meine Füße zappeln, als wollten sie auf der Stelle losmarschieren. Meine Hände lassen sich nicht stillhalten, sie wollen unbedingt zupacken. Mein Blick schweift in die Ferne, und ich erkenne, dass er über die Grenze des Gewohnten springen will.

Ich muss los, sage ich zu mir und, weil ich einen Zeugen wünsche, zur Nachtigall. Dann beginne ich, meine Sachen zu packen.


26  Der Aufbruch 2

Meine Hände so tätig und leer zugleich.

Ich räume unseren Platz, falte Kleidung, rolle Decken und Planen zusammen, sortiere Verzichtbares aus, schaffe Essbares herbei zur Wegzehrung, fange einen Fisch, töte ihn und nehme ihn aus, entzünde ein letztes Feuer, brate den Fisch, stopfe mir das zarte Fleisch mit den Fingern in den Mund, stochere mit einem Ast in der Glut herum, lösche sie schließlich vollends, indem ich einen Topf Wasser hineinschütte.
Ich packe in meine Tasche und in deinen Rucksack soviel von meinen Sachen, dass sie fast aus den Nähten platzen, ziehe meine Decke unter Anstrengung wieder heraus und stopfe stattdessen eine von deinen hinein, wegen des daran haftenden Geruchs.
Ich bereite mir zum letzten Mal ein Schlaflager unter der Rotbuche, wasche mich am nächsten Morgen ein letztes Mal im Fluss, hülle mich anschließend in mehrere Lagen Kleidung, schnüre meine Schuhe, bündele meinen Proviant in einem deiner Hemden und verabschiede mich von diesem Ort, indem ich ein letztes Mal mit der Hand übers Gras streiche, sie auf die glatte Rinde des Baumes lege, sie in den Fluss tauche, der mich als einziger begleiten wird, denn ich habe mich entschieden, seinem Lauf zu folgen, zu der Siedlung, die einen Tagesmarsch entfernt in nordwestlicher Richtung liegt.
Ich schnüre mein Nachtlager zu einem Paket und vergrabe dieses mit der benutzten Spritze und dem Pop-up-Bilderbuch in dem Erdloch, das wir für die Fundstücke ausgehoben hatten. Auch den Klappspaten lasse ich zurück, zwischen den Wurzeln der Buche versteckt.

Ich knie ein letztes Mal vor deinem Grab nieder und lege beide Hände auf die Erde. Aus wie unendlich vielen Teilen doch ein einziger Abschied besteht.

Was ich nicht mehr berühren kann:
Dich, weil du zu tief schläfst.
Die Nachtigall, weil sie erwacht ist.


27  Der Aufbruch 3

Die Nachtigall. Der Abschied von ihr ist der seltsamste von allen, die mit meinem Fortgang einhergehen. Schliefe sie noch immer, könnte ich sie einfach mitnehmen, könnte sie weiterhin hüten und durch die notwendigen Verrichtungen am Leben halten. Aber nun, da sie erwacht ist, braucht sie mich nicht mehr, und ich bezweifle, dass sie mich aus freien Stücken begleiten wird. Sie wird sich einen Partner suchen, das heißt, da sie ein Männchen ist, wird sie sich eine Partnerin herbeisingen, mit dieser eine Familie gründen. Sie wird ganz einfach ihrem Instinkt folgen und genau das von der Natur für sie Vorgesehene tun. Und sie wird es nicht in Frage stellen. Wird sie glücklich sein? Ohne darum zu wissen?

Ich habe Rucksack und Tasche geschultert, halte in der einen Hand das Bündel mit dem Proviant und in der anderen einen Stock, den du mit Schnitzereien versehen und auf deinen Wanderungen benutzt hast. Meine Schultern sind stark und meine Beine kräftig. Am schwersten wiegt mein Herz. Noch.

Auf dem ersten Wegstück, dem Lauf des Flusses folgend, begleitet mich die Nachtigall. Manchmal fliegt sie ein Stück voraus, um sich dann auf einem Zweig niederzulassen, bis ich sie eingeholt habe. So geht das eine Weile, bis sie endlich von einem Zweig emporflattert, mich ein letztes Mall umkreist und dann in entgegengesetzter Richtung davonfliegt.
Ach, du kleiner Vogel! Du geliebtes, zartes, starkes Wesen. Du Begleiter einer Zeit der Wunder. Ich wünsche dir alles Glück der Welt.

Die Endgültigkeit dieses Abschieds bedrückt mich weniger, als ich vermutet hatte. Da blitzt ein silbrigheller, knisternder Funke durch all das Dunkel der vergangenen Tage. Vorfreude, Gespanntheit, Lust auf Neues.

Nach vielen Stunden, aber noch vor Einbruch der Dämmerung, mein Proviant ist fast aufgezehrt, erblicke ich die ersten Häuser am Rand der Siedlung. Wir hatten dort bei freundlichen Menschen und mit dem wenigen Geld, das wir besaßen, Ausrüstung für unseren Aufenthalt im Freien gekauft. Ich habe keine Furcht, die kleine Stadt und ihre Bewohner sind mir in guter Erinnerung. Nun nehme ich erste Geräusche wahr: Feierabendverkehr, vereinzelte Rufe, ein Kinderlachen, das Läuten der Türglocke beim Bäcker. Dann die Gerüche: Asphalt, Benzin, Brot, gebratenes Fleisch. 

Am Brunnen auf dem Marktplatz lasse ich mich auf einer Bank nieder, Rucksack und Tasche platziere ich neben mir auf dem Boden. Ich strecke die Beine aus und dehne meine Arme. Das Plätschern des Brunnens erinnert mich an den Fluss, Freund unserer Lagerzeit, Begleiter meines heutigen Weges.

Am anderen Ende der Bank sitzt ein alter Mann, auf seinen Knien ein kleines Mädchen. Immer wieder taucht sie ihre Hände ins Wasser und streicht dann mit ihnen durch sein schütteres Haar. "Ich mache dir eine Königsfrisur", ruft sie und kichert. Der alte Mann brummt vor Vergnügen und kitzelt das Kind am Bauch, dass es zu zappeln beginnt und sich vor Lachen krümmt. Dann bemerkt es mich, sieht mich mit großen Augen an, streckt sich zum Ohr des Mannes und flüstert ihm etwas zu. Er nickt und wendet sich mir lächelnd zu. 
"Meine Enkelin meint, wir sollten Sie mal nach Ihrem Namen fragen. Sie sind neu in der Stadt, nicht wahr?"
"Ja, das bin ich", erwidere ich und füge nach kurzem Zögern hinzu: "Und einen Namen habe ich nicht." 
Der Alte stutzt und blickt mir forschend in die Augen. Die Kleine hingegen springt auf, klatscht in die Hände und ruft: "Das ist toll! Dann denken wir uns einen aus. Ja, Opa, machen wir das? Denken wir uns einen Namen für sie aus?" 
Ohne den Blick von mir zu wenden, nimmt der Mann das Mädchen am Arm, zieht sie zu sich heran und mahnt sachte: "Pst, meine Kleine, immer mit der Ruhe. So etwas will mit Bedacht angegangen sein. Mir scheint, wir lernen hier gerade eine ganz besondere Person kennen." 
Das Kind schmiegt sich an seine Beine und verstummt. Er aber nickt mir mit warmer Freundlichkeit zu, zwinkert und sagt: "Fürs erste heißen wir Sie herzlich willkommen in unserem Königreich."


***


Epilog

Die zwei Frauen standen am geöffneten Fenster ihres Schlafsaals und blickten hinaus zur Mauer, die das gesamte Areal umschloss.
"Meinst du, wir können noch mit ihrer Rückkehr rechnen?", fragte die eine.
Die andere schüttelte den Kopf: "Hast du vergessen, wie lange sie schon fort ist? Morgen werden es drei Monate! Niemand kann da draußen so lange überleben."

Ein Windstoß trieb ein paar herbstlich gefärbte Blätter herein. Die Frauen schlossen das Fenster, warfen ihre Kutten über und machten sich auf den Weg zum Versammlungsraum. Sie waren spät dran, gleich begann der Morgenappell, und die Hüter legten größten Wert auf Pünktlichkeit.