Donnerstag, 24. Mai 2012

Orientierung

Heute früh las ich bei den Gleisbauarbeiten über Melusines Suchtverhalten, und mir fiel ein Text wieder ein, den ich vor drei Jahren geschrieben habe. Darin geht es um die Orientierung, die mir Bücher bedeuten, seit ich lesen kann. Geschichten waren mir Zuflucht und Schutz in Zeiten, in denen die Welt mich verwirrte, ich mich in ihr verlor und nicht mehr fand. Am Wesen und Verhalten der fiktiven Figuren hangelte ich mich entlang und fand dort die für die Entwicklung eines Kindes, einer Jugendlichen und jungen Erwachsenen so wichtige Kongruenz, mehr als im zweideutigen, tabubelegten, manipulativen Verhalten der mich real umgebenden Menschen. Meine Realität hat sich sehr zum Guten gewandelt, Bücher und überhaupt Geschichten haben ihre Bedeutung behalten.


***


Ich komme aus der Zwischenwelt eines Traums. Als ich merke, dass ich nicht dort aufwache, wo ich eingeschlafen bin, setzt für einen Moment mein Herzschlag aus. Dann springe ich auf und renne los. Bleibe abrupt stehen. Laufe zurück. Drehe mich im Kreis. Neugier zieht mich hinaus, Furcht drängt mich an die Wand. Ich fliehe nach innen.

Dort treffe ich wilde Kerle auf einer Insel, denke dabei an das Essen, das auf meinem Nachttisch steht. Ob es noch warm ist, wenn ich nach Hause komme? Dann fährt Lukas mich in seiner Lokomotive immer wieder um die zwei Berge herum, obwohl ich ihm schon vor Stunden gesagt habe, dass ich endlich aufs Schiff will. Übersee. Nach Maycomb, Alabama. Muss Scout, Jem und Dill wiedersehen. Will wissen, ob Atticus es geschafft hat die Nachtigall zu befreien.

Ich werde herausgezogen und renne wieder los. Es gibt keine Begrenzungen, keine Richtungshinweise. Am Schlimmsten aber ist: Das Nichts unter meinen Füßen, das Nichts über meinem Kopf. Ich schließe die Augen. 

Finde mich in Salinas wieder, jenseits von Eden, dort besuche ich Cathy im Bordell. Ihr Sohn Caleb hat sie gefunden und zur Rede gestellt, bald wird er seinem Bruder Aaron von ihr erzählen. Ich schaue noch kurz bei Adam, dem Vater der beiden und Lee, dem Koch vorbei, dann durchquere ich Nordamerika bis zur Ostküste. Tauche in den Atlantischen Ozean und schwimme mit dem Golfstrom und der Atlantischen Strömung bis nach Norwegen. Dort stoße ich auf unentdecktes Land und nehme es in Besitz, mache es urbar, kaufe mir eine Ziege, richte mich nach den Tages- und Jahreszeiten. Freunde mich mit Isak und seiner Frau Inger an. Die Erde schenkt uns ihren Segen.

Ich öffne die Augen einen winzigen Spalt und erkenne, dass ich mich auf einer schiefen Ebene befinde. Sofort beginne ich zu wanken und zu rutschen. Ich rudere mit den Armen. 'Senke die Lider! Finde dein inneres Gleichgewicht!'

Nun hat es mich an die englische Küste verschlagen. In der Lyme-Bucht sehe ich sie zum ersten  Mal: Die Geliebte des französischen Leutnants. Wir treffen uns auf einer Lichtung wieder und lesen uns Gedichte von Tennyson und Hardy, Clough und Arnold vor. Sarahs und Charles’ Geschichte erinnert mich an die eines österreichischen Leutnants, den ich kannte, Anton Hofmiller. Er heiratete die gelähmte Edith aus Mitleid – oder aus „Ungeduld des Herzens“, wie es ihr Arzt nannte. Niemals würde mir so etwas passieren! Ich muss weiter, Arturo auf seiner Insel besuchen. Er will mir Nunziata vorstellen, die junge Frau seines Vaters. Gemeinsam werden wir auf den Klippen stehen und uns an den rauen Wind lehnen.

Vorsichtig lasse ich mich nieder, rolle mich zusammen wie ein Embryo, lege die Hände vors Gesicht und weine ein wenig. Weine um mich, um die endlose Kette des Aufwachens, um den Verlust der Bilder.

Schönheit holt mich ein: Ein Taubennest, ein Gartenfest,Glück … Ich treffe Milly, Laura und Bertha wieder. Wir trinken Tee und erzählen uns von damals. Von damals …

Erneut öffne ich die Augen und entdecke neben mir ein Buch. Ich schlage es auf – und siehe: Da hat einer über mich geschrieben! Im Zeitraffer wachsen Gärten um mich herum und Städte, ziehen Wolken über mich hin, wechseln Sonne und Mond. Ich bin wieder da, nur anders und lese über mich:

„Wer kennt sie, diese, welche ihr Gesicht
wegsenkte aus dem Sein zu einem zweiten,
das nur das schnelle Wenden voller Seiten
manchmal gewaltsam unterbricht?

Selbst ihre Mutter wäre nicht gewiß,
ob sie es ist, die da mit ihrem Schatten
Getränktes liest. Und wir, die Stunden hatten,
was wissen wir, wie viel ihr hinschwand, bis

sie mühsam aufsah: alles auf sich hebend,
was unten in dem Buche sich verhielt,
mit Augen, welche, statt zu nehmen, gebend
anstießen an die fertig-volle Welt:
wie stille Kinder, die allein gespielt,
auf einmal das Vorhandene erfahren;
doch ihre Züge, die geordnet waren,
blieben für immer umgestellt.“

Rainer Maria Rilke, Der Leser (aus dem ich eine Leserin gemacht habe)

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