Freitag, 11. Mai 2012

Namen (Der Betrachter 5)

Hin und wieder ließ er sich die Wörter aus dem Kopf pusten, das war leicht, er stellte sich in den Wind und öffnete alle Ein- und Ausgänge. Ganze Sätze wirbelten durch die Luft, kullerten über den Boden, sie zerplatzten oder stülpten sich heraus aus ihrer besitzergreifenden Bedeutung. Es war ein großartiges Schauspiel, und er hatte dafür ein ungeschliffenes Lachen. 
Nach einer solchen Befreiung konnte er sich den Dingen zuwenden. Sie erkannten seine Unvoreingenommenheit, manche wurden zutraulich und verrieten ihm ihre wahren Namen. Alle waren sie in Unaussprechlichkeit gehüllt,  ihm wurde ein Geheimnis überreicht, ein kostbarer Schatz. Dankbarkeit erfüllte ihn. 
Und zugleich durchfloss ihn eine Trauer, denn er kannte seinen eigenen Namen nicht. Die schwarz auf weiße Buchstabenreihe in dem ledergebundenen Buch mit der Goldprägung war es nicht. Er war sicher, es musste einen anderen Namen geben, den wahren, der nur ihn meinte, den kein anderer trug. 
Er erkannte, dass die Ablegung der Wörter nicht nur einen Gewinn an Freiheit bedeutete, sondern auch den Verlust des Zugriffs auf einen Teil seiner selbst.
Nichts war so beglückend wie die wortlose Nähe zu den Dingen, nichts war so einsam wie die Namenlosigkeit.
Während des Rückwegs zu Seinesgleichen, zur Mutter, zu den Besuchern, zupfte er Silben aus den Zweigen, fischte er Sätze aus dem Rinnstein, schnappte er Buchstaben mit dem Mund aus der Luft. Zuhause häufte er sie auf den Tisch und bereitete eine Geschichte daraus, eine sauber umzäunte Antwort auf die Frage 'Na, mein Junge, was hast du erlebt?'. 
Und unterschrieb sie mit 'Ich heiße ..... Wie lautet mein Name?'
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Überlassen wir ihn seiner Verwirrung, wir dürfen sicher sein, dass sie eine Quelle ist, aus der zu schöpfen er lernen wird.

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