Donnerstag, 18. Oktober 2012

Ursula Ziebarth: Gelesene Kinder

Ein Plädoyer für das Lesen von Romanen über Kinder, für das Lesen von Romanen, für das Lesen. (abseits von sogenannter "Fach"literatur)

Ich besitze ein einziges Buch von Ursula Ziebarth, es ist längst nur noch antiquarisch zu bekommen: Ein Kinderspiegel, 1979 bei Piper erschienen. "Ein Buch der Freundschaft zu Kindern, ein Schatz an Geschichten, Bildern, Träumen und, weil wir alle Kinder waren, ein Buch der Freundschaft zu den Menschen." (aus dem Klappentext) Ich habe bereits einmal daraus zitiert, hier.

Sollte ich, um die Aufmerksamkeit für diese bemerkenswerte Frau zu wecken, auf ihren Briefwechsel mit Gottfried Benn hinweisen? Würde man an dieser Stelle dann hellhörig werden, höbe das Wissen um die Bekanntschaft mit dem berühmten Dichter sie in ihrer Bedeutung? Ich glaube nicht an Werbung. An deren Macht natürlich schon, aber nicht an ihre Bedeutung für die Beförderung des Guten, an eine nachhaltige Wirkung auf das Weltwesen. Ich glaube an die Kraft von Graswurzeln.

In dem Text, auf den ich mich beziehe, geht es, wie der Titel schon sagt, um "Gelesene Kinder". Ziebarth schreibt:
"Auch gelesene Kinder sind unsere Kinder, wir sehen ihnen zu ohne daß sie es bemerken, begleiten sie ohne zu stören oder sie zu beschämen. [...]
Man versteht sich besser auf Kinder, nachdem einem geschriebene begegnet sind, [...], was ein paar Klugköpfe sicher sophistisch bestreiten werden, weil diese Kinder ja nur auf dem Papier existieren und wer sich mit ihnen beschäftigt, angeblich noch lange nichts von lebendigen Kindern wisse, ja, diesen durch Flucht in die Lektüre womöglich sogar ausweiche, sich also von der Realität entferne.
Auch Literatur ist eine Realität, schließlich dichten, schreiben, lesen Menschen spätestens seit dem Gilgamesch-Epos, und sie werden schon wissen, warum sie so beharrlich Leben schildern und geschildertes Leben in sich aufnehmen.
[...]
Der Verfasser von Oliver Twist und David Copperfield hat mehr für Kinder bewirkt als so mancher Fachliteraturverfertiger der pädagogischen Disziplin in seiner Unfähigkeit, Empfindungen für Kinder zu wecken, weil von Kindern in der Fachsprache nicht anders als von Objekten gesprochen wird, die es zu beobachten, zu untersuchen, zu beurteilen gilt.
[...]
Das Kind im Mittelpunkt oder auch nur am Rande eines Kunstwerkes aus Sätzen weckt, was Überlegungungen übertrifft: Zuneigung, anwendbare, auf lebendige Kinder anwendbare, nicht begrenzbar auszudehnende Zuneigung zu allen Kindern dieser Welt in ihrer Wehrlosigkeit.
Die großen Fürsprecher der Kinder sind nicht die Erfinder pädagogischer Instrumentarien, nicht die Empfehler angeblich optimaler Verhaltensweisen, sonder die uns zum Mitempfinden hinreißenden Darsteller kindlichen Lebens, die uns zwingen, sie zu adoptieren und die Substanz an Liebe, die ihre wörtliche Existenz in uns Lesern sich ansammeln läßt, zu verwenden auf jedes Kind, das unseren Weg kreuzt. Sie, die Kunstmacher, sind die Prediger in der Wüste."

Ziebarth nennt und beschreibt in ihrem Essay einige literarische Kinderfiguren*, mir selbst fallen weitere ein, ich kenne die Wirkung solcher Erzählungen, sie ist meines Erachtens nicht hoch genug zu schätzen. (Im Übrigen betrifft das nicht nur die Schilderung kindlicher, sondern allgemein menschlicher Schicksale.) In der Buchhandlung stehe ich immer mal wieder vor der Situation, dass ein Erziehungsratgeber gesucht wird (aus einer schier unglaublichen Masse, von der nur ein Bruchteil als brauchbar zu bezeichnen ist) und ich am liebsten empfehlen würde, stattdessen Romane zu lesen, Geschichten über Kinder, keine Appelle, sondern reine Schilderungen, aus den von Ursula Ziebarth genannten Gründen. Manchmal tue ich's .

* Folgende Beispiele für "Geschriebene Kinder" erwähnt Ursula Ziebarth in ihrem Text:
- Rudyard Kipling, Kim
- Jules Romain, Am 6. Oktober
- Jules Renard, Poil de carotte
- Robert Walser, Der Gehülfe
- Martin Anderson-Nexö, Ditte Menschenkind
- Charles Dickens, Oliver Twist und David Copperfield
- Bernward Vesper, Die Reise

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