Mittwoch, 5. Juni 2013

Flughemmung, Poolbillard und zwei gute Sätze

Heute bin ich im Buchladen auf einen Satz gestoßen, der hatte auf mich eine Wirkung vergleichbar dem Eröffnungsstoß beim Poolbillard: Alle Kugeln rollten auf einmal los, in unterschiedliche Richtungen. Ich fand den Satz auf der Rückseite des Umschlags des neuen Romans von Eugen Ruge, "Cabo de Gata". Er lautet:


"Diese Geschichte habe ich erfunden, um zu erzählen, wie es war."

Ja!

Das Spiel ist eröffnet, die Kugeln in Bewegung.
Ich will hier überhaupt nicht auf Ruges Roman eingehen, der sicher sehr gut ist, ich hatte die Zeit, kurz hineinzulesen, die Sprache gefällt mir. Was mir auffiel, waren die vielen Absätze, die mit "Ich erinnere mich" beginnen. Daran konnte ich in Gedanken anknüpfen, das war der nächste Stoß, etwas ist ins Rollen gekommen, das Spiel (meins) geht weiter.
(Falls jemand doch an Informationen zum Buch interessiert ist: hier.)

Meine Gedanken sprudelten, aber ich hatte noch eine Stunde zu arbeiten und keine Gelegenheit, mir Notizen zu machen. Dennoch werde ich versuchen, das Rollen in meinem Kopf in Worte zu fassen, ohne es aufzuhalten.

Wunderbarerweise hat inzwischen Karin von KaineKolumnen meinen letzten Blogartikel als Anregung für eigene weiterführende Gedanken genutzt, die sich wiederum nahtlos einfügen in meine Assoziationen nach dem morgendlichen Satzfund. Auch von ihr nehme ich einen Satz mit:


"Wiedergeben und Erfinden – sie tasten sich an der Wirklichkeit entlang, die wahrhaftig ist, wenn ich aufrichtig bleibe."

Danke!

Auch ich erfinde Geschichten, um zu erzählen, wie es war. Es, das ist ein bestimmtes Erleben zu einer bestimmten Zeit. Es will erzählt sein. Darüber zu schreiben, scheint mir notwendig. Gar nicht mal um meinetwillen, denn es betrifft nicht nur mich, es ist gesellschaftsrelevant. Aber wie halte ich mich da heraus?

*

Ich erinnere mich an den Moment der Erleuchtung und dass von da an alles in einem anderen Licht erschien.

Ich erinnere mich an meine Begeisterung, an meinen Willen zum absoluten Gehorsam und an meinen Lerneifer, der später auch zum Lehreifer wurde.

Ich erinnere mich an meine Haltung: knieend, mit geschlossenen Augen und gefalteten Händen, oder stehend mit zum Himmel gerecktem Gesicht und erhobenen Händen, oder stillsitzend und den Lehrern lauschend, oder herumlaufend und Handzettel verteilend, oder liegend mit nur einem Gedanken vor dem Einschlafen und nach dem Aufwachen.

Ich erinnere mich an das kleine schwarzgebundene Buch mit den über 1800 Seiten, die ich nahezu in- und auswendig kannte.

Ich erinnere mich daran, wie ich dazu angehalten wurde, alles wörtlich zu nehmen und wie bereitwillig ich dem Folge leistete.

Ich erinnere mich an das vollständige Untertauchen in einem Wasserbecken.

Ich erinnere mich an eine Gemeinschaft, die mich freundlich aufnahm und sich für restlos alles interessierte, was mich betraf, je intimer desto besser.

Ich erinnere mich an das Gefühl von Angenommensein, von Zugehörigkeit, von Sicherheit.

Ich erinnere mich an das Gefühl von Zwang, von Manipulation, von Kontrolle, das aber erst nach Jahren aufkam.

Ich erinnere mich an den Moment des Aufwachens und wie ich die vermeintliche Erleuchtung als Verblendung erkannte.

Ich erinnere mich an den Ausbruch, an das Überbordwerfen, an das Auftauchen und an das Abheben.

Ich erinnere mich an die lange Zeit der Angst nach dem Ausstieg.

Ich erinnere mich an meine Auswilderung.



Ich erinnere mich daran, wie alles gut wurde.


*

Wie schreibt man über etwas sehr Persönliches, über etwas, das zu erzählen man für wichtig hält, das aber dennoch privat bleiben soll, aus dem man sich als Person komplett heraushalten will? Man erfindet eine Geschichte, um zu erzählen, wie es war. Oder? Und bemüht sich dabei um Aufrichtigkeit.
...

(Fortsetzung folgt)

(Und meine Schreibhemmung bezeichne ich ab sofort als Flughemmung.)

1 Kommentar:

  1. Mit Engelszungen redete sie...
    "Auswilderung", Gottseidank!

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