Jeden Dienstag, wenn ich nach meiner Mittagspause durch den Ort zurück zum Laden spaziere, stehen an der Ecke vor der Unterführung eine Frau und ein Junge. Sie schätze ich auf Anfang dreißig, ihn auf etwa acht Jahre. Sie ist zierlich, mittelgroß, immer hell gekleidet und trägt ihre langen blonden Haare jedesmal zu einer anderen Frisur gebunden. Er ist blass und schmal, sein Kopf ist kahl, auch Augenbrauen und Wimpern fehlen. Wenn es so warm ist wie gestern, trägt er ein kurzärmliges T-Shirt, dann kann man das Pflaster sehen, das in seiner Ellenbeuge klebt.
Ich habe die beiden im Sichtfeld, sobald ich mich ihnen bis auf etwa dreißig Schritte genähert habe. Das macht ungefähr halbsoviele Sekunden, in denen ich Zeit habe für eine Menge Spekulationen. Über das, was sie hinter sich haben. Über das, was sie vor sich haben. Über das, was ihr Leben bis in alle Bereiche bestimmt. Ich spekuliere und interpretiere und würde am liebsten zu ihnen treten und sagen "Ich weiß." Dabei kann ich es gar nicht wissen. Niemand kann das. Es ist eine Erfahrung, die sie machen und die jeden treffen kann, die aber dennoch nicht teilbar ist, weil sie abgesehen von den äußeren Fakten und Geschehnissen auch innendrin passiert. In jedem einzelnen. Die Frau, in der ich die Mutter des Jungen vermute, kann auch nicht die Erfahrung des Jungen, in dem ich den Sohn der Frau vermute, teilen. Und er kann die ihre nicht teilen. Trotzdem stehen sie da zusammen, jeden Dienstag seit nunmehr acht Wochen, stehen da ganz ruhig, sprechen ein wenig miteinander, berühren sich nicht, aber halten sich trotzdem, irgendwie.
Stelle ich mir vor.
Mich rührt diese Szene sehr an.
Gestern standen sie nicht an ihrem gewohnten Platz, im ersten Moment versetzte mich das in Schrecken, aber nachdem ich ein paar Schritte weitergegangen war, erblickte ich sie auf der anderen Straßenseite. Ich war erleichtert. Sie hatten einfach nur einen Schattenplatz gesucht. Ich lächelte und nickte ihnen zu, wortlos. Ob sie mir meine Erleichterung ansahen? Jedenfalls lächelten sie mir ebenfalls grüßend zu. Der Junge blickte dann auf zur Frau und nahm ihre Hand.
Was habe ich von diesem meinem Gefühl der Erleichterung zu halten?
Irgendwann werden sie nicht mehr an der Ecke stehen. Der Junge wird kein Pflaster mehr in der Ellenbeuge tragen, seine Haare werden wieder wachsen. Sie werden eine normale Familie sein, über die niemand mitleidig spekuliert. (Es kann auch ganz anders kommen, aber daran will ich nicht denken, ich will ihnen eine gute Zukunft erdenken.)
Ich glaube, sie erkennen mich inzwischen auch wieder, und so wenig ich ihnen geben kann, so unmöglich ein Teilen ist, so gehört vielleicht auch für die Frau und den Jungen unsere Begegnung inzwischen zu den Dienstagen und deren Abläufen dazu. Und vielleicht ahnen sie etwas von meinen Spekulationen und Interpretationen. Und vielleicht lag in dem Lächeln, das wir gestern tauschten, nachdem wir uns nach meinem ersten Schreck doch noch entdeckt hatten, so etwas wie ein Frohsein darüber, dass wir alle noch da sind.
Aber auch das ist, jedenfalls soweit es die beiden betrifft, reine Spekulation meinerseits.
Was für eine erzählende Wunderbarspekulationsgeschichte...
AntwortenLöschenDie beiden berühren mich tatsächlich sehr. Ich hab's als Übung betrachtet, eine Beobachtung möglichst wertungs- und interpretationsfrei zu schildern. Ist gar nicht so einfach, deshalb freut es mich, dass es so bei Dir ankommt. :-)
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