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Die Wohnungstür war lediglich ins Schloss gezogen worden. Auch die Tür zum Balkonzimmer war nicht abgesperrt. Die Frau hätte problemlos auf dem üblichen Weg entkommen können. Warum sie einen anderen gewählt hatte? Das herauszufinden, war Ermittlungssache.
Entkommen können. In dieser Kategorie dachte Bluhm, nachdem er sich gründlich im Zimmer der Toten umgesehen hatte.
Treten wir ein paar Schritte und ein, zwei Stunden zurück:
Ein Grüppchen Passanten hatte die Polizei verständigt: Sie hatten bemerkt, wie die Frau auf die Brüstung des Balkons geklettert war. Einer hatte noch zu ihr hinauf gerufen, ein anderer war zur Haustür gestürzt, um sämtliche Klingelknöpfe zu drücken. Aber als die ersten Stimmen durch die Gegensprechanlage drangen, lag sie bereits auf dem Gehweg. Zerschmettert, in einer wachsenden Blutlache, die Flügel weitgehend unversehrt und zu beiden Seiten ausgebreitet.
Hauptkommissar Bluhm trat durch die offene Balkontür hinaus und beugte sich über die Brüstung. Sieben Stockwerke tiefer kümmerten sich seine Kollegen um die Leiche und um die Passanten. Verdammt nochmal, warum nahmen sie ihr nicht endlich die Flügel ab?! Er sandte einen schrillen Pfiff hinunter. Kollegin Treuer blickte auf und erhob sich, drehte die Handflächen nach außen, zog die Schultern hoch und schüttelte den Kopf. Dann machte sie eine flatternde Bewegung mit den Armen, griff sich an die Schulter und tat, als versuche sie ihren Arm abzutrennen. Was ihr nicht gelang. Erneut die Geste der Ratlosigkeit.
Was hatte das zu bedeuten? Bluhm fuchtelte ein Fragezeichen in die Luft, aber da war Treuer schon wieder in die Hocke gegangen, um sich weiter mit den Kollegen zu beraten.
Diese absurden, diese nutzlosen Flügel ...
Ah, offenbar waren sie überein gekommen, das lange weiße Kleid zu entfernen oder zu öffnen. Treuer und ein anderer waren mit Scheren zugange. Soweit er das auf die Entfernung erkennen konnte.
Bluhm wandte sich ab und trat über die Schwelle zurück ins Zimmer. Dort ließ er den Blick schweifen, so erwartungslos, wie es ihm möglich war. Ein Blatt Papier auf dem ansonsten leeren Schreibtisch fesselte seine Aufmerksamkeit.
Es war dicht beschrieben, in einer akkuraten Handschrift. Er nahm es vom Tisch: Eine Sammlung von Sätzen beziehungsweise Aussagen, teilweise durchgestrichen oder farbig markiert. Der Form nach eine Art Zitatliste.
Bluhm angelte seine Lesebrille aus der Brusttasche. "Du wirst MICH immer lieben, von Anbeginn liebe ICH dich.", lautete der erste Satz. Er war rot durchgestrichen und wiederholte sich mehrmals im Lauf der Liste. Desweiteren:
"Heute gehört uns der Himmel, morgen das ganze All."
"Es gibt kein Gold, nur toten Glanz."
"Wir singen, wir toben, wir regieren die Welt."
"Es gibt nur uns, für dich nur MICH, der Rest ist Schein."
"Wir wollen tanzen, bis der Boden blutet."
"Lass unsere Liebe einzig sein; ICH esse dich wie Brot, und du trinkst MICH wie Wein."
"Wir werden ewig sein, du bist alleine MEIN."
Und so weiter und so fort. Eine Auflistung seltsamer, befremdender Aussagen.
Am Ende: "ICH bin zu jeder Zeit und an jedem Ort."
Und als letzter Satz, so oft nachgezeichnet, bis das Papier an einigen Stellen gerissen war: "Du kannst nicht fliegen."
(Den folgenden Kommentar veröffentliche ich stellvertretend für Lilith vom Textwärts-Blog ( http://textwaerts.wordpress.com/ ), die aus irgendwelchen, vermutlich Blogger-bedingten Gründen nicht durchkam:)
AntwortenLöschen"Das ist mir direkt in die Seeleneingeweide gefahren. So viele Fragen, so ein dicker Kloß im Hals, so viel Staunen. Ich mag, dass ich den Text nicht leicht verdauen werde, wende die Bilder im Mund und schmecke noch. Chapeau, Iris!"
Danke Lilith! Fragen habe ich auch an die Geschichte. Was sie soll bzw. will, wie sie weitergehen wird (obwohl sie als Rohversion schon seit Jahren existiert) ... Lassen wir uns überraschen. :-)
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