Mittwoch, 11. September 2013

Das Erwachen 2 (nach dem Traum 20)

In den darauffolgenden Tagen kümmere ich mich weiter um dein Grab. Es soll schön sein. 
Ich ebne den aufgeworfenen Erdhügel. Er wird sich mit der Zeit weiter senken. 
Ich umrunde es mit Kieseln, die ich aus dem Flussbett klaube.
Ich säe die Sonnenblumensamen aus und hoffe, dass sie den Winter überleben und im nächsten Sommer aufgehen werden. Auf dem Tütchen steht: Aussaat März bis Juni. 
Ich nehme mir das Stück Treibholz vor und überlege, ob ich ein Kreuz daraus fertigen soll. Als ich es probehalber am einen Ende spalte, biegt es sich auf zu einem Ypsilon. Das gefällt mir. Viel besser als ein Kreuz. Eine nach oben sich weitende Öffnung. Es wird verwittern, aber das werde ich nicht mehr mitbekommen, also ist es in Ordnung für mich. Ich stecke das Ypsilon ans Kopfende deines Grabs und drücke als zusätzlichen Halt rundum ein paar faustgroße Kiesel in den Boden.
Ich suche stundenlang nach einem herzförmigen Stein und platziere diesen, nachdem ich ihn endlich gefunden habe, auf Höhe deiner Brust. Ich lege mich dazu, bis die Nacht hereinbricht. 

Bei allen Verrichtungen schlägt mein Herz seltsam ruhig. Ich kümmere mich um dein Grab und um unseren Platz, beschaffe Nahrung, bade täglich im Fluss und wasche meine Kleider. Ich esse, trinke, schlafe, funktioniere.

Die Nachtigall unternimmt derweil kleine Ausflüge, von denen sie bisher noch jedesmal zurückkehrt. Sie singt. Für mich und von Liebe und Tod, bilde ich mir ein und lege unsere ganze Geschichte in ihr Lied. Irgendwann wird sie zuende gesungen, unsere Geschichte zuende erzählt haben und nicht mehr an diesen Platz zurückkehren. Dann werde auch ich aufbrechen müssen. Nur: Wohin?

Wie ich in allem nach Zeichen und Hinweisen suche. Wie ich allem eine höhere Bedeutung beimessen will.
Und doch kann dies nicht verhindern, dass die Tage kürzer und die Nächte kühler werden. Dass es häufiger regnet und die ersten Blätter fallen. Dass der Herbst kommt, um unseren Sommer endgültig abzulösen.

Manchmal beschäftigt mich die Frage, ob ich vielleicht noch immer träume.
Die Spritze fällt mir ein und deine Notiz, dass das Serum ein Erwachen bewirkt. Ich krame sie hervor, ebenso das Pop-up-Bilderbuch und lasse ein paar neue, ungewohnte Gedanken zu.


Fortsetzung folgt

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