Vorab eine Begründung für die Auswahl des Textes:
Fast täglich habe ich es in der Buchhandlung mit rezensentengläubigen Kunden zu tun, solchen, die sich von anderen sagen lassen, was zu lesen lohnt oder gar ein Muss ist. Diese Kunden kennen die Bestsellerlisten und/oder die Literaturseiten der klugen Zeitungen, kennen sie besser als ihren eigenen Geschmack und trauen gestelzt formulierten Urteilen mehr als dem eigenen verschütteten Instinkt für das, was ihnen gefallen und guttun könnte. Sie haben viel Zeit mit dem Lesen von Kritiken verbracht, kommen mit ausgeschnittenen oder ausgedruckten Artikeln und "sparen" sich so das Stöbern, das Blättern, das Hineinlesen, das Verführenlassen.
Manchmal, viel zu selten, gelingt es mir, solche Kunden auf Abwege zu führen, sie auf weniger Populäres aufmerksam zu machen, auf ein gelungenes Cover, einen originellen Titel hinzuweisen, ihnen ein Buch aufzuschlagen und mit den ersten Sätzen ein Netz auszuwerfen, in dem sie sich verfangen und den Reiz des Findens und Gefundenwerdens erleben. Denn nichts anderes geschieht, wenn wir auf ein Buch stoßen, das unvermittelt zu uns spricht und eine Resonanz an verschiedenen Stellen in uns auslöst.
Natürlich lese auch ich Rezensionen und schaue Literatursendungen (manche sogar mit Vergnügen und Gewinn), nicht nur "von Berufs wegen", sondern aus echtem eigenen Interesse, das manchmal allerdings eher den Rezensenten und ihren Selbstdarstellungskünsten gilt als dem besprochenen Buch. Das entdecke ich nämlich am allerliebsten selbst.
Und nun Doris Lessing:
"[...]
Wie jeder andere Schriftsteller bekomme ich ständig Briefe von jungen Leuten, die in verschiedenen Ländern - aber besonders in den Vereinigten Staaten - Examensarbeiten und Aufsätze über meine Bücher schreiben. Sie alle sagen: Bitte schicken Sie mir ein Verzeichnis der Artikel über Ihr Werk, der Kritiker, die über Sie geschrieben haben, der Autoritäten." Sie fragen auch nach tausend Einzelheiten, die völlig irrelevant sind, die aber als wichtig zu betrachten sie gelehrt wurden und die schließlich ein Dossier ergeben wie das eines Einwanderungsbüros.
Diese Anfragen beantworte ich wie folgt: 'Lieber Student. Du bist verrückt. Warum Monate und Jahre damit zubringen, Tausende von Wörtern über ein einziges Buch oder selbst einen einzigen Schriftsteller zu schreiben, wenn es Hunderte von Büchern gibt, die darauf warten gelesen zu werden. [...] Und wenn du dir mein Werk als Thema ausgesucht hast [...], warum liest du dann nicht, was ich geschrieben habe und wirst dir klar über das, was du denkst, und prüfst es anhand deines eigenen Lebens, deiner eigenen Erfahrung. Kümmere dich nicht um Professor Schwarz und Weiß.'
[...]
Ich sage diesen Studenten, die ein, zwei Jahre damit zugebracht haben, Abschlußarbeiten über ein einziges Buch zu schreiben: 'Es gibt nur eine Art, Bücher zu lesen, nämlich die, in Bibliotheken und Buchhandlungen zu stöbern, Bücher mitzunehmen, die einen interessieren, und nur die zu lesen und sie wegzulegen, wenn sie einen langweilen, oder die Längen zu überspringen - und niemals, niemals etwas zu lesen, weil man glaubt, man müßte, oder weil es zu einer Richtung oder Bewegung gehört. Denk daran, daß das Buch, das dich langweilt, wenn du zwanzig oder dreißig bist, eine Offenbarung sein kann, wenn du vierzig oder fünfzig bist - und umgekehrt. Lies kein Buch, wenn nicht die Zeit dafür gekommen ist. [...] Vor allem solltest du wissen, daß die Tatsache, daß du ein oder zwei Jahre über einem Buch oder einem Autor verbringen mußt, bedeutet, daß du schlecht unterrichtet worden bist - man hätte dich lehren sollen, auf deine eigene Weise von einer Neigung zur nächsten zu lesen, du solltest lernen, deinem eigenen intuitiven Gespür im Hinblick auf das, was du brauchst, zu folgen: das ist es, was du hättest entwickeln sollen, nicht die Art, wie man andere Leute zitiert.'"
(Trotzdem, liebe Doris Lessing, war es mir in diesem Fall ein Bedürfnis und ein Vergnügen, "andere Leute" zu zitieren, nämlich Sie mit Ihrer klugen Kritikergläubigkeitskritik.)
aus dem 1971 verfassten Vorwort Doris Lessings zu ihrem 1962 erschienen Roman "Das goldene Notizbuch", hier Roman Fischer 1978
Sehr schön beschrieben! Ich stöbere auch lieber und wenn man ein klein wenig Lebenserfahrung hat, sagt einem das Gefühl sehr schnell udn sehr viel über ein Buch. Das Cover ist das Spiegelbild des Inneren oftmals, und nach dem Lesen einiger Zeilen merkt man sofort, auf welche Art und Weiße das Buch geschrieben ist.
AntwortenLöschenAlejandro
Dankeschön!
AntwortenLöschenMan tritt ja sowohl mit sich selbst als auch mit dem Buch in Kontakt, wenn man selbst sucht und findet. Ich erlebe das als sehr befriedigend. Und ich erlaube mir inzwischen auch, ein Buch wieder wegzulegen, wenn es mich nicht gleich mit den ersten Seiten, manchmal sogar Zeilen, packt.
LG, Iris
Liebe Iris,
AntwortenLöschenwie schön Deine Zeilen! Ich bedauere, dass ich nicht persönlich in "Deinen" Buchladen kommen kann. Hier fehlt eine engagierte Buchhändlerin, die Auswahl ist sehr klein und jede Besonderheit muss in Deutschland bestellt werden. Also was bleibt mir da übrig, als auf Rezensionen und Literatursendungen zurückzugreifen.
Schön wäre es, wenn Du im Forum vielleicht das eine oder andere Buch, das Dir gefällt, einstellen könntest.
Sonnige Grüße
Linda
Liebe Linda,
AntwortenLöschenes spricht ja auch erstmal gar nichts gegen Buchbesprechungen, ich wünschte sie mir nur manchmal mehr informativ als urteilend. Und die Leser wünschte ich mir manchmal mündiger.
Vielleicht werde ich tatsächlich mal (wieder) aktuell gelesene Bücher vorstellen, hier oder im Forum. Ich denk drüber nach.
Auch Dir sonnige Grüße!
Iris
Liebe Iris,
AntwortenLöschenich würde mich sehr freuen, wenn Du im Forum Deine Rezensionen oder Buchempfehlungen einstellen würdest. Dort herrscht ja totales Schweigen. Vielleicht entsteht dann wieder etwas mehr Aktivität.
Liebe Grüße
Linda