Hätte der Unterricht damals also nicht zu solcher Unzeit stattgefunden, wäre ich nun (möglicherweise) des Russischen mächtig und könnte mir die Lesung, die zu besuchen ich gestern Abend das Vergnügen hatte, im Originalton ins Gedächtnis rufen. So muss nun leider die - allerdings geniale - Übersetzung Ganna-Maria Braungardts herhalten.
Ljudmila Ulitzkaja gehört zu meinen Lieblingsautorinnen, seit ich 1997 ihren ersten Roman Medea und ihre Kinder las. Es folgten Reise in den siebenten Himmel, Die Lügen der Frauen, Ergebenst, euer Schurik, Maschas Glück, zwischen diesen einige, die ich nicht gelesen habe und hier deshalb nicht aufzähle.
Und nun ihr neuester, 600 Seiten starker Roman Das grüne Zelt, in dem es um drei Freunde geht, die in der Sowjetunion zu Dissidenten werden.
Aus dem Klappentext: "Ilja, der Fotograf, vervielfältigt und verbreitet in seiner Freizeit verbotene Literatur. Als sich Jahre später herausstellt, dass er auch für den KGB tätig war, muss er fliehen. Micha ist Jude und schreibt seit seiner Jugend Gedichte. Wegen seiner Nähe zum Samisdat wird er denunziert und kommt ins Lager. Sanja kümmert sich während Michas Haft um dessen Frau und kleine Tochter. Dennoch hält ihn nach Michas Tod nichts mehr in der Sowjetunion."
Die Geschichte ist breit angelegt, in mehreren ineinander verwobenen Strängen erzählt und mit üppigem, um die überschaubare Hauptgruppe von sechs Menschen gruppiertem Personal ausgestattet. Es vermischen sich Biografie und Fiktion, einige Personen existierten real, werden aber wohl eher den russischen Lesern bekannt sein, manches entspringt den konkreten Erfahrungen der Autorin.
Wie in ihren früheren Werken besticht sie auch hier mit einer Kombination aus entlarvendem Blick und zwerchfellkitzelndem Humor, soviel lässt sich nach dem Hören eines Ausschnitts bereits sagen.
In einem vom Hanser-Verlag auf YouTube hochgeladenen Interview beschreibt Ulitzkaja ihr Verhältnis zur Sowjetmacht und ihre Beobachtung einer "Restalinisierung" in Russland, welche sie zum Schreiben des Grünen Zelts veranlasste:
Ihre Lesung beendete sie auf die Frage aus dem Publikum, ob sie ihre Bücher als Frauenliteratur bezeichnen würde, mit einer Feststellung, die ich hier mit Vergnügen festhalte und weitergebe: Der Begriff Frauenliteratur werde immer als Abwertung verstanden. Es sei natürlich eine Tatsache, dass Frauen viel später mit dem Schreiben begonnen haben als Männer, folglich stamme aber auch die größere Anzahl schlechter Bücher von Männern. Ihrer Auffassung nach sei inzwischen die Zeit der Frauen angebrochen, was auf eine Rettung der Erde hoffen lasse.
Das grüne Zelt nehme ich mir nun vor und empfehle es hier bereits ungelesen allein aufgrund meiner Erfahrung mit ihren früheren Büchern und des gestern Abend Gehörten.
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