Donnerstag, 14. Juli 2011

Du

Du warst ins kalte Wasser gesprungen, hattest den Einstieg souverän gemeistert und dir einen kleinen eigenen Platz geschaffen. Du warst wieder „drin“, doch als du dieses Wort dachtest, legte sich eine Klammer um deinen Brustkorb, der Schweiß brach dir aus allen Poren, der alte Film lief ab. Du blicktest in den Spiegel, um dich in der Gegenwart zu verankern, kauftest dir ein neues Notizbuch und fingst von vorne an.
Hörtest ihnen in aller Ruhe zu. Bewundertest ihre gekonnt gesetzten Worte. Durch deren präzise Zusammenfügung ergaben sich Sätze von strahlender Schönheit, und diese wiederum fanden sich zusammen zu Geschichten von großer Anziehungskraft. Bei dir steckte eine Ahnung dahinter, bei ihnen fundiertes Wissen.
Du verlorst dich in ihren Texten und fandest dich in Ländern wieder, die du auf dem Globus nicht auf Anhieb gefunden hättest. Sprangst in Flüsse und Seen mit klarem Wasser und zauberhaft belebtem Grund. Du lerntest fremde Völker kennen, erforschtest deren Sitten, begannst zu begreifen, dass es verschiedene Formen der Langsamkeit, des Wachsens, des Werdens gab.
Wunder geschahen und machten dich verrückt. Du hetztest durch dein Gehirn auf der Suche nach Quellen, nach Sammlungen, auf die sich zurückgreifen ließ. Da gab es auch welche, aber die wolltest du nie mehr antasten. Sie sollten mit der Zeit eintrocknen, zerbröseln, zu Staub werden, bis ein frischer Luftzug ausreichte, um sie endgültig hinauszuwehen aus deinem verwundeten Geist.

Jahre, Jahre und Jahre hattest du damit verbracht, dich zu konzentrieren. Auf eine einzige Sache. Eine große Sache. Eine, für die du ganz und gar einstehen wolltest, sterben wolltest, wenn es sein musste. Du kanntest tausende Seiten, kleinbedruckte Seiten in- und auswendig, bliebst niemandem eine Antwort schuldig. Keiner machte dir etwas vor. Lässig kamen dir die Worte über die Lippen. Ja, reden konntest du. Wurdest dafür bewundert. Machtest Karriere. Musstest immer häufiger um Bewahrung vor Hochmut beten.

Du konntest immer noch locker zurückgreifen auf das Erlernte. Aber du wolltest es nicht. Du hattest es schließlich doch als Gefängnis erkannt. Als Zelle, als Fessel, als Zwang, als Gewalt … als alles andere als zu dir gehörig.

Du blicktest zurück auf verlorene Jahre. Ein Leben im Buchstaben des Gesetzes. Hattest dich selbst aus deinem Gefängnis entlassen und standest dann da mit leeren Händen und Zeit, über die du plötzlich selbst verfügen konntest. Du wusstest gar nicht wie das ging. Wie das gehen sollte. Du zögertest und schautest dich noch einmal um. Da stand einer an der Mauer und hielt das Tor noch ein wenig geöffnet. Du hättest zurückkehren können in die Sicherheit des geregelten Ablaufs. Doch du ranntest los. Ins Ungewisse.
Du probiertest hier und dort. Warst lebensuntüchtig und offen wie eine frische Wunde. Wie geht man, wenn man kein Ziel hat, welche Richtung schlägt man ein, wenn jede offensteht? Was tut man mit seiner freien Zeit, kann man wirklich am Brunnen sitzen und die Tauben beobachten? Länger als fünf Minuten? Länger als eine Stunde? Könnte man theoretisch einen ganzen Tag lang, und eventuell sogar die Nacht …? Was geht, was geht nicht? Bin ich mein eigener Herr? Und was befehle ich mir dann? Was erlaube ich mir? Was tue ich mir Gutes?
Wie nehme ich mich bei der Hand und sage: Wird schon!
Du betratest einen Buchladen und brachst in Tränen aus. Die Buchhändlerin führte dich zum blauen Sofa hinten in der Ecke, brachte dir ein Glas Wasser, setzte sich zu dir und fragte, ob sie etwas für dich tun könnte. Du sagtest, du wolltest hier arbeiten und alle, alle Bücher lesen. Sie lächelte. Und hielt deinem Blick stand, obwohl er so laut schrie. Sie lächelte, sah dich an, und da bemerktest du, dass sie dich las.
Du kamst wieder am nächsten Tag, schlugst die Seiten um und ließest sie weiterlesen. Sie weinte manchmal stellvertretend für dich, das machte dein Herz leicht, jedenfalls für einige Augenblicke. Sie las dich, und wenn sie wieder arbeiten musste, gab sie dir ein Buch in die Hand und sagte: Hier, jetzt lies du!
Du verschlangst die Seiten, die Bücher, spürtest einen nahezu unstillbaren Hunger. Verzweifeltest manchmal an dem Bewusstsein, dass du nie, niemals würdest alles lesen können. Und dass dir niemand würde deine gestohlenen Jahre ersetzen können. Nichts konntest du aufholen. Du warst langsam geworden, wolltest es auch sein, aber du fühltest dich auch schwer von Begriff. Nichts vernetzte sich mühelos. Du verfolgtest die Nachrichten; nach Jahren des kanalisierten Informationsflusses warst du gierig danach. Du lerntest, aber du konntest nicht mithalten.
Irgendwann suchtest du das Gespräch und merktest, dass du dich hier auf einem Pflaster bewegtest, das du kanntest und beherrschtest. Auch wenn die Themen andere waren als früher. Du warst es gewohnt zuzuhören und Wesentliches herauszuhören. Du wurdest ein begehrter Gesprächspartner, warst ein gefragter Spiegel, ein guter Moderator, einer, der Ressourcen und Lösungen fand, wo keiner sie mehr vermutet hatte. Alle sahen etwas in dir. Keiner sah dich. Du zeigtest dich auch nicht.
Du fühltest dich zunehmend wieder eingesperrt. In dir selbst, in beklemmender Enge. Warst innerlich zugestellt mit all den verpassten Möglichkeiten, den nie gemachten Erfahrungen, dem ungestillten Wissensdurst. Du wolltest lernen, lernen, lernen und krepiertest fast an der Scham über diese klaffende Lücke in dir. Du wagtest dich dennoch hinaus. Zu zögerlichen Gratwanderungen. Zu waghalsigen Seiltänzen. Und überhaupt zu Tänzen.
Du entdecktest ein neues Parkett für dich. Deine Ohren öffneten sich der Musik, du verstandest Klänge und Rhythmen unmittelbar. Sie schickten Wellen durch deinen Körper, belebten deinen Puls. Aus Klang wurde Echo wurde Bewegung. Du tanztest deinen Tanz, dein Leben. Tanztest den Schmerz, den Schrei, die Freude, das Lachen aus vollem Hals, ja, schließlich auch das. Und lerntest einen kennen, der tanzte wie du. Ganz aus sich.
Du lerntest einen kennen, der tanzte wie du, und der erkannte, was dein Tanz bedeutete. Er nahm dich in den Arm, so fest, dass dir der Atem stockte. Du spürtest die Welle des Schmerzes, die durch seinen Körper lief und die er dir abgenommen hatte. Du spürtest, dass ein Austausch stattfand, ein Gleichklang, ein tiefes Verstehen. Du hattest erstmals seit langer Zeit das Empfinden, du könntest dich neu einlassen. Auf einen Wunsch, ein Gefühl, einen Menschen.
Und du hattest Angst. Du wolltest und wolltest nicht. Du machtest einen Schritt vor und zwei zurück. Du sprudeltest über und verkrochst dich in ein Loch. Du lachtest und weintest und schriest. Du wolltest so sehr. Du hattest solche Angst. Du wolltest so sehr ...
Glaubtest schließlich, du hättest eine neue Möglichkeit entdeckt: dich ganz unverbindlich auf eine verlässliche Verbindung einzulassen. Die dann sogar Jahre hielt. Bis der eine mehr Sicherheit wollte und du mehr Freiheit. Bis ihr gemeinsam die Konsequenz zogt aus euren entgegengesetzten Unfähigkeiten.
Du standest am Anfang. Aber nicht neugeboren. Nicht jung und mit dem Leben vor dir. Du standest am Anfang mit einem Rest Zeit, von dem du nicht wusstest, wie lange er reichen würde, ob er genügen würde. Du wolltest dich in Geduld üben, aber nichts versäumen. Du wolltest langsam gehen, zwischendurch stehen bleiben, um zu schauen. Wolltest dennoch irgendwann irgendwo ankommen.
Du spürtest, dass all das dein Leben ausmachte: Deine Angst, dein Sehnen, deine Trauer, dein Schutzbedürfnis, dein Freiheitsdrang, dein Mangel, deine Vorläufigkeit, dein Wissensdurst, dein Scheitern … und dass du ein Recht auf all das hattest.
Irgendwann fingst du an gegen den Schmerz zu schreiben.

(Winter 2009) 

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