Wenn er aus Fluss und Gras auftauchte, hatte er für einen Augenblick freien Zugang zu der am Ufer wurzelnden Weide. Er trat dicht an sie heran, und sie schichtete mit ihren Blätterfingern holziggrünrauschende Abdrücke in seine Sinne. Dann entrollte sich erneut das Banner zwischen ihnen mit dem Aufdruck: Die Weiden (salix) sind eine Pflanzengattung aus der Familie der Weidengewächse (saliceae).
Er erinnerte sich an die Zeit, als seine Mutter abends an seinem Bett gesessen hatte, bei weit geöffneten Fenstern und Türen, und mit sanfter Stimme Einladungen ausgesprochen hatte. Nach und nach wurde dann sein Zimmer bevölkert von Tieren mit gelben Augen und glänzendem Fell, wilden Tieren, die durch dichte Wälder streiften und Beute machten, die nachts unter freiem Himmel schliefen, nachdem sie Zwiesprache gehalten hatten mit einem runden silbernen Mond, die morgens am Teich aus ihrem Spiegelbild tranken, die das Rudel mieden und Freundschaft mit denen schlossen, die ebenso einsam waren wie sie. Mit ihm verbündeten sie sich und nahmen ihn mit auf ihre Streifzüge, bis er erschöpft in bildlose Tiefen sank, ein heimatloser Vagabund.
Und es gab die Zeit danach, die Zeit des zweifelhaften Geschenks, als man ihn in der Schule mit den Buchstaben bekannt gemacht hatte. Er war neugierig gewesen, und sie näherten sich ihm mit einnehmender Höflichkeit. Er lernte, sie zu Wörtern zu verknüpfen und die Dinge zu sehen, von denen sie erzählten. Er begann, die Sätze zu lieben und war nicht mehr auf die Einladungen seiner Mutter angewiesen. Statt im Garten oder am Fluss, traf man ihn immer häufiger in einer Ecke des Hauses an, über ein Buch gebeugt, mit dem Finger unter den Zeilen in fremde Länder reisend und die Ozeane befahrend. Er tauchte und ritt und flog, und am Abend fiel er erschöpft wie früher in den Schlaf, nur seine Haut blieb hungrig.
Immer häufiger geschah es nun, dass aus den Mündern der Erwachsenen keine Einladungen mehr fielen, denen die Geladenen prompt folgten, sondern dass Buchstaben von ihren Lippen purzelten, die zierliche oder gewaltige Zusammenfügungen bildeten, je nach Sprecher. Wo ihn früher ein Hund angesprungen hatte, wurde dieser nun von einer Kette aus einem 'H', einem 'u', einem 'n' und einem 'd' zurückgehalten, und ein emporwachsender Stamm wurde von einem 'B', einem 'a', einem 'u' und einem 'm' umringt.
Neben diesen Buchstabenreihen mit ihrer eingegossenen Bedeutung gab es aber auch andere, lose aufgefädelte, die scheinbar heute dies und morgen jenes bedeuten konnten. 'Du', 'mein lieber Sohn', 'immer' und 'ja' waren solche, ebenso 'ein hübscher Junge' und 'so ein kluges Kind'. Kaum hatte er sich an ihnen gewärmt, traten sie plötzlich in Gemeinschaft mit einem Steinauge oder einem Porzellanmund auf, und er musste sie aus ihrem weichen Bezug herausnehmen und auf mehrere offene Ablagen verteilen.
Die notwendig gewordene Schärfung seiner Augen und Ohren ließ ihn bald wahrnehmen, wie schlecht manches Buchstabenkleid saß, in das sich die Besucher seiner Mutter hüllten und - für ihn unbegreiflich - wie sich auch seine Mutter immer dann, wenn Besuch kam, zu enge oder zu weite Kleider überstreifte, die zudem entweder farblos oder aber mit einem schreienden Muster versehen waren.
Immer häufiger verließ er das Haus und die Wörter, die es beherbergte und suchte Zuflucht am Fluss.
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Lassen wir ihn ausruhen, die Geschichte geht weiter. Ob sie unseren Ahnungen folgt? Stellen wir uns in den Wind und warten ab.
O, da sind aber wundervoll-kostbare Wörter versteckt. Ich habe das Lesen genossen und harre geduldig dem Kommenden.
AntwortenLöschenIch muss auch wieder geduldiger harren, dieser zweite Teil ist sehr bewusst konstruiert und gefällt mir deshalb nicht so gut wie der erste, der sich mehr aus sich selbst heraus schrieb. Aber freut mich, wenn Du dran bleibst. :-)
LöschenBin auch gespannt. Mir gefällt auch der 2. Teil sehr gut, obgleich man das "Konstruierte" spürt. Aber das entspricht doch auch der Entwicklung, die statt hat, finde ich, und ist also angemessen.
AntwortenLöschenDanke, liebe Melusine. Ich glaube, Du kennst das auch, dass manche Texte sich quasi selbst verfassen und dann einfach so sein müssen, wie sie sind und einem wahr und richtig vorkommen, weil sie (scheinbar) völlig unmanipuliert sind. Ich zweifle nie die Worte an, die sich von selbst einfinden, aber die von mir ausgesuchten und zusammengefügten hinterfrage ich ohne Ende. Aber das gehört vielleicht wirklich zur Entwicklung und ist eigentlich sogar Teil der Thematik. - Ich bin auch gespannt.
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