Sonntag, 6. Oktober 2013

Der Aufbruch 3 (nach dem Traum 24)

Die Nachtigall. Der Abschied von ihr ist der seltsamste von allen, die mit meinem Fortgang einhergehen. Schliefe sie noch immer, könnte ich sie einfach mitnehmen, könnte sie weiterhin hüten und durch die notwendigen Verrichtungen am Leben halten. Aber nun, da sie erwacht ist, braucht sie mich nicht mehr, und ich bezweifle, dass sie mich aus freien Stücken begleiten wird. Sie wird sich einen Partner suchen, das heißt, da sie ein Männchen ist, wird sie sich eine Partnerin herbeisingen, mit dieser eine Familie gründen. Sie wird ganz einfach ihrem Instinkt folgen und genau das von der Natur für sie Vorgesehene tun. Und sie wird es nicht in Frage stellen. Wird sie glücklich sein? Ohne darum zu wissen?

Ich habe Rucksack und Tasche geschultert, halte in der einen Hand das Bündel mit dem Proviant und in der anderen einen Stock, den du mit Schnitzereien versehen und auf deinen Wanderungen benutzt hast. Meine Schultern sind stark und meine Beine kräftig. Am schwersten wiegt mein Herz. Noch.

Auf dem ersten Wegstück, dem Lauf des Flusses folgend, begleitet mich die Nachtigall. Manchmal fliegt sie ein Stück voraus, um sich dann auf einem Zweig niederzulassen, bis ich sie eingeholt habe. So geht das eine Weile, bis sie endlich von einem Zweig emporflattert, mich ein letztes Mal umkreist und dann in entgegengesetzter Richtung davonfliegt. Ach, du kleiner Vogel! Du geliebtes, zartes, starkes Wesen. Du Begleiter einer Zeit der Wunder. Ich wünsche dir alles Glück der Welt.

Die Endgültigkeit dieses Abschieds bedrückt mich weniger, als ich vermutet hatte. Da blitzt ein silbrigheller, knisternder Funke durch all das Dunkel der vergangenen Tage. Vorfreude, Gespanntheit, Lust auf etwas Neues.

Nach vielen Stunden, aber noch vor Einbruch der Dämmerung, mein Proviant ist fast aufgezehrt, erblicke ich die ersten Häuser am Rand der Siedlung. Wir hatten dort bei freundlichen Menschen und mit dem wenigen Geld, das wir besaßen, Ausrüstung für unseren Aufenthalt im Freien gekauft. Ich habe keine Furcht, die kleine Stadt und ihre Bewohner sind mir in guter Erinnerung. Bald nehme ich erste Geräusche wahr: Feierabendverkehr, vereinzelte Rufe, ein Kinderlachen, das Läuten der Türglocke beim Bäcker. Dann die Gerüche: Asphalt, Benzin, Brot, gebratenes Fleisch. 

Am Brunnen auf dem Marktplatz lasse ich mich auf einer Bank nieder, Rucksack und Tasche platziere ich neben mir auf dem Boden. Ich strecke die Beine aus und dehne meine Arme. Das Plätschern des Brunnens erinnert mich an den Fluss, Freund unserer Lagerzeit, Begleiter meines heutigen Weges.

Am anderen Ende der Bank sitzt ein alter Mann, auf seinen Knien ein kleines Mädchen. Immer wieder taucht sie ihre Hände ins Wasser und streicht dann mit ihnen durch sein schütteres Haar. "Ich mache dir eine Königsfrisur", ruft sie und kichert. Der alte Mann brummt vor Vergnügen und kitzelt das Kind am Bauch, dass es zu zappeln beginnt und sich vor Lachen krümmt. Dann bemerkt es mich, sieht mich mit großen Augen an, streckt sich zum Ohr des Mannes und flüstert ihm etwas zu. Er nickt und wendet sich mir lächelnd zu. 
"Meine Enkelin meint, wir sollten Sie mal nach Ihrem Namen fragen. Sie sind neu in der Stadt, nicht wahr?"
"Ja, das bin ich", erwidere ich und füge nach kurzem Zögern hinzu: "Und einen Namen habe ich nicht." 
Der Alte stutzt und blickt mir forschend in die Augen. Die Kleine hingegen springt auf, klatscht in die Hände und ruft: "Das ist toll! Dann denken wir uns einen aus. Ja, Opa, machen wir das? Denken wir uns einen Namen für sie aus?" 
Ohne den Blick von mir zu wenden, nimmt der Mann das Mädchen am Arm, zieht sie zu sich heran und mahnt sachte: "Pst, meine Kleine, immer mit der Ruhe. So etwas will mit Bedacht angegangen sein. Mir scheint, wir lernen hier gerade eine ganz besondere Person kennen." 
Das Kind schmiegt sich an seine Beine und verstummt. Er aber nickt mir mit warmer Freundlichkeit zu, zwinkert und sagt: "Fürs erste heißen wir Sie herzlich willkommen in unserem Königreich."

6 Kommentare:

  1. Alle Traurigkeit ist verflogen, und die Erzählung ist bei mir angekommen.:)

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    1. Das freut mich, liebe Eva! Du wirst ahnen, wie sehr. :-)

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  2. Bei mir kommt sie auch an, liebe Iris, aber viel mehr noch bei dem Kind in mir, das immer zu wenig Beachtung findet.

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    1. Liebe Phyllis, wie schön! Und wie interessant die Geschichte mit dem zu wenig beachteten Kind ...

      Was mich betrifft, sind mir, glaube ich, noch gar nicht alle Ebenen bewusst, um die es in der Geschichte geht, auch wenn ich zu wissen meine, woher sie kommt.

      Herzliche Grüße!

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  3. Diese Geschichte fesselt mich und berührt auf allen Ebenen alle meine Sinne. FrauFrog

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