Dienstag, 27. März 2012

Ins Grüne

Von Zeit zu Zeit wird der Anstaltsbus in den Hof gerollt und mit Wasser und Seife, Schwämmen und Tüchern, Bürsten und Wedeln bearbeitet, bis er blitzt. Da drängen sich die im Haus Verwahrten an den Fenstern, glucksen und zappeln und winken, denn sie wissen: Bald geht es hinaus ins Grüne. Davon sollen ihre Augen gesunden, und noch mehr das, was dahinter liegt. 
Während der Fahrt bekleckern sie sich mit Pfefferminztee aus Thermosflaschen und zwitschern und flattern wie Vöglein vorm Öffnen der Käfigtür. Angekommen, stolpern sie eins übers andere hinaus ins Freie, schleudern die Schuhe von den Füßen und rennen mit ausgebreiteten Armen über Wiese und Feld. Der Wind hebt sie empor, sie fliegen ein Stück, verfangen sich in blühenden Zweigen und landen zersaust im Gras. Dort schlagen sie Purzelbäume, graben ihre Zehen ins Erdreich, plumpsen vornüber und versenken ihre Nasen ins kitzelnde Grün. Fest schließen sie ihre Fäuste um Klee und Löwenzahn, niemals mehr lassen sie los. 
Doch kaum sind die Picknickdecken ausgebreitet und die Speisen darauf angerichtet, verwandeln sie sich in hungrige Bären. Dann stürmen sie herbei, langen zu und stopfen in sich hinein, prusten und schmatzen und wischen sich über die fettigen Lippen. Sie vertilgen Gebirge, dehnen sich weit über ihre Ränder hinaus und kichern über die Frühlingsluft, an der sie sich wieder und wieder verschlucken. Hier draußen dürfen sie gierig sein, das ist nicht nur erlaubt, das ist erwünscht, denn alles um sie herum ist satt und rund - das Grün, das Gelb, das Blau - und alles ruft ihnen zu: Esst! Trinkt! Platzt vor Freude! 
Ist der letzte Krümel verputzt, strecken sie ihre prallen Bäuche in die Sonne und lassen sich wärmen wie von Eltern, die einander lieben, aber ihr Kind noch viel mehr und es in ihre Mitte nehmen, Tag um Tag um Tag. Schmetterlinge rasten auf ihren geschlossenen Lidern, Käfer schmiegen sich in ihre Ohrmuscheln und Spinnen verknüpfen ihre losen Enden mit dem Rest der Welt. Das Grün schaukelt sie sanft. So dösen sie vor sich hin, empfangen helle Träume, und für eine unvermessene Weile bleiben sämtliche Schatten fern.

6 Kommentare:

  1. Wunderbarer Text. Was für eine Sprachgewalt!

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  2. Mehr als köstlich!
    In jedem denkbaren, fühlenden Sinn des Wortes...

    (Ein wenig fühl ich mich ertappt...
    https://twitter.com/#!/foxeen/status/183527395582672896
    ... Fühlt sich gut an, dieses "ertappt",
    ein Synonym zu "berührt"...)

    Fuxgrüne Grüße! <3³

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  3. Danke, liebe Füxin! (mjam, Bärlauch ...) Bunte Grüße zurück. <3

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  4. Was für ein satter und sinnlicher Ausflug. Da bin ich mittendrin und fühle mich glücklich.Danke, dass du noch mal darauf aufmerksam gemacht hast. <3 Frog

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    1. Ist schon sooooo lange her. :-) Manchmal stöbere ich in meinen alten Texten ... Kommt ja nix neues mehr nach. ;-)
      Danke für deinen Kommentar! <3

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