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Sonntag, 30. Dezember 2012

Bonne et Heureuse Année 2013 !




Et maintenant: Départ en Alsace.

Je vous souhaite une bonne et heureuse année.
 
A très bientôt!

  

Mittwoch, 26. Dezember 2012

Mit Herz und Hand und Mund

Es muss ja nichts, dachte sie, dieses Datum ist ein beliebiges, warum soviel hineinlegen.
Sie glitt zurück in die Kissen, in die schlafwarme Mulde eines fast vergangenen Jahres, in den Frieden ihrer Stummheit. Sie konnte sich darauf verlassen, dass niemand an ihre Tür klopfen würde, dass niemand durchs Fenster spähen oder einen Zettel in den Briefkasten werfen würde. Sie hatte einen gründlichen Schnitt gemacht vor genau einem Jahr. Und wie gut es funktioniert hatte. Bereits nach wenigen Wochen war sie vollkommen unbelästigt geblieben.
Sie schmiegte sich in die Wärme der Kissen, lediglich die Feuchtigkeit störte sie ein wenig, den metallischen Geruch hingegen nahm sie gar nicht mehr wahr. Sie schob die Finger unter den Rücken, dorthin, wo sich eine Lache gebildet hatte. Es irritierte sie ein wenig, dass sie die Blutung nie hatte stoppen können. Und dass der Fluss nicht versiegte. Sie zog eine Hand wieder hervor und griff in ihren Brustkorb. Ihr Herz fühlte sich an wie ein frisch geschlüpftes Vögelchen, wild und hungrig und angewiesen. Ein wenig zaghaft.
Sie seufzte und schloss die Augen. Wenn sie schlafen könnte. Wenn sie sich einem Traum in die Arme werfen könnte, der sie forttrüge. Wenn er mit ihr übers Meer flöge und sie dort fallen ließe. Wenn sie bis auf den Grund sänke, sich dort mit beiden Füßen abstieße und wieder auftauchte. Wenn ein unberührter Strand auf sie wartete. Wenn sie diesen reingewaschen betreten könnte, um einen Anfang zu machen, ein bewusstes erstes Mal.
Sie strich noch einmal mit den Fingern über ihr Herz und führte dann die Hand an ihren Mund. Aus diesen dreien sollte das erste Wort entspringen, das sie an dem weißen Strand sprechen würde. Und aus diesem ersten Wort würde ihr neues Leben entstehen. Es wollte also gut überlegt sein. Dafür bedurfte es mehr als eines bloßen Zeitpunkts, dafür bedurfte es eines weiten Raums.
Sie sank immer tiefer in die Kissen, so tief, dass diese schließlich über ihr zusammenschlugen. Eine Umarmung, dachte sie beglückt und glitt hinüber in ein weiteres unbenanntes Jahr.

Sonntag, 23. Dezember 2012

Alle Jahre wieder (Loses Blatt #53)

Sich vor allen anderen Dingen Frieden wünschen und feststellen, dass es ihn weder geschenkt noch zu kaufen gibt.

Freitag, 21. Dezember 2012

Lieblings... - Liste 2012 (kleiner Jahresrückblick)

Schon jetzt, da ich in den nächsten zwei Wochen u.a. aus diesen Gründen vielleicht nicht dazu kommen werde, ein kleiner Jahresrückblick, der alles beinhaltet, was auf irgendeine Weise mit meinem Bloggerinnendasein zu tun hat. Anderes - Privateres - bleibt außen vor.

*

Vorsichtig eingetaucht, mit den Füßen zuerst und da zuerst mit den Zehenspitzen. Immer wieder zum Luftholen auf- und abgetaucht. Die Oberfläche durchstoßen, aber nicht untergegangen. Vom Fliegen geträumt und Schwimmen gelernt. Türen aufgestoßen, nach innen und nach außen. Raum eingenommen und ihn für Besucher geöffnet. Vorbehalte gegen Erfahrungen getauscht. Für jeden Schritt, für jeden Schwimmzug beschenkt worden. So viel gewonnen.

 *

2012 war ein volles und gutes Jahr für mich. Wesentlichen Anteil daran hat das Bloggen: mein eigenes Schreiben und die damit verbundene Entwicklung, das Lesen anderer und der Austausch mit ihnen. Das Kennenlernen neuer Menschen, von denen einige zu Freunden wurden. Mein Fazit ist Dankbarkeit, mein Vorsatz: so weitermachen.

*

Es folgt eine Liste meiner diesjährigen Lieblinge, unsortiert und mit Sicherheit unvollständig:


Lieblingsbuch: Mit Blick aufs Meer von Elizabeth Strout

Lieblingsfilm: Moonrise Kingdom von Wes Anderson

Lieblingsalbum: Tempest von Bob Dylan

Lieblingstweet: "Es tanzt am Ende der Fiktionen." von @monikavincent

Lieblingsgedicht: Echo von Ulrich Koch (siehe auch hier: Milchmädchenpresse)

Lieblingsgeschenk: eis/ erinnerung von Sebastian van Roehlek

Lieblingsblog: Gleisbauarbeiten von J. S. Piveckova aka Melusine Barby

Lieblingsfarbe: nach wie vor Grün

Lieblingsfreiraum: mein Blog

Lieblingszustand: durchlässig

Lieblingsausrede: "Ich würde ja fliegen, hinge nicht ein ganzer Planet an meinen Füßen."

Lieblingsprojekt: Vögelchen (läuft derzeit unter Verschluss weiter)

Lieblingssprachfindung: Vater Mutter Kind

Lieblingsübung: Lieben was war und was ist

Lieblingserfahrung: Teilen

Lieblingserfolg: die Umsetzung der zu Jahresbeginn gefassten Vorsätze

...

Freitag, 14. Dezember 2012

Das Gesuchte (Blatt #52)

Versuchen, das Gesuchte zu sein.

Neil Young: Heart of Gold

Was durch die Jahre bleibt: Bestimmte Lieder und unbestimmte Sehnsüchte.
Was ebenfalls bleibt: Momente, in denen das genügt. 

*



I want to live,
I want to give
I've been a miner
for a heart of gold.
It's these expressions
I never give
That keep me searching
for a heart of gold
And I'm getting old.
Keep me searching
for a heart of gold
And I'm getting old.

I've been to Hollywood
I've been to Redwood
I crossed the ocean
for a heart of gold
I've been in my mind,
it's such a fine line
That keeps me searching
for a heart of gold
And I'm getting old.
Keeps me searching
for a heart of gold
And I'm getting old.

Keep me searching
for a heart of gold
You keep me searching
for a heart of gold
And I'm growing old.
I've been a miner
for a heart of gold.

*

Thanks to Neil Young, der bei mir gleich nach Bob Dylan kommt.

Montag, 10. Dezember 2012

Schnee auf blühende Rosen

Vor dem Abwurf der nächsten Haut ein Zögern und die Frage, ob sie sich nicht doch noch ein Weilchen bewohnen ließe.

Über Zuwendung wollte ich schreiben und den wertungsfreien Blick. Über Marina Abramovic, die ich bewundere, und ihre Aktion "The Artist Is Present". Ich habe Sätze in meinem Kopf aufgeschichtet, zahlreich und doch zu wenig. Sie genügen nicht, genügen mir nicht, mein Anspruch an mich selbst ist hoch, aber nicht zu hoch, wie ich finde.
Dazu kommt, dass mich gerade andere Dinge beschäftigen. Es gibt kein Dringlichkeitsgefühl, nichts drängt mit Macht hinaus.

Die Zeit fliegt nicht, nur die Informationen tun es.

Spielt es denn eine Rolle, ob ich heute oder morgen oder im nächsten Jahr über etwas schreibe, das mich mein Leben lang beschäftigt? Wie lange darf etwas reifen? Wen frage ich das?

Wenn die allerletzte Schicht abgetragen ist, liegt eine neue darunter. Und immer so weiter.

Ich habe noch nie einen zusammenhanglosen Raum betreten. Wie denn auch, es gibt ja keinen.
Die Welt ist nicht da, um uns zu beruhigen.
Die Wahrscheinlichkeit, dass es Dinge gibt, die zu erfassen wir mit unseren begrenzten Möglichkeiten nicht in der Lage sind, beträgt 100 %. Eine vergleichbare Sicherheit bietet nur der Tod. Solche Verlässlichkeiten sind mir Gedächtnisstützen fürs Eigentliche.

Die Haut löst sich, ich kann den Finger darunterschieben. Schließe ich die Augen, fällt Schnee auf blühende Rosen.

Lea Brumsack und Tanja Krakowski: CulinARy MiSfiTS

Esst die ganze Ernte!


Das finde ich sinnvoll und mache deshalb gerne Werbung dafür.
Und hier kann man die Aktion unterstützen.

Die passende Kochbuchempfehlung: Taste the Waste
Mehr Infos zum Thema auf der Taste the Waste Homepage.

Dienstag, 4. Dezember 2012

Mein Brot

Das Haus spreizt seine Äste und legt sie schützend um das Nest, in dem ein Lied seine Jungen füttert. Ich sitze im Schatten des Hauses, an seinen Stamm gelehnt und blättere in einem Brot. Ich verzehre es in kleinen Bissen, manchmal verschlinge ich aber auch mehrere Seiten auf einmal. Es sättigt mich auf angenehme Weise, und als die Dämmerung eintritt, habe ich es fast ausgelesen. Ich wickle den Rest des Brotes in Papier und verstaue es in meinem Rucksack. Die jungen Lieder in den Zweigen über mir sind bereits verstummt, die Eltern hüpfen zum höchsten Ast und danken dem Himmel, bevor sie sich zu den Kleinen betten. Das Haus raschelt leise. Ich trete den Heimweg an. Es ist tiefe Nacht, als ich endlich die Segel hisse. Der Mond schüttet ein Meer aus. Ich schließe die Augen und überlasse mich dem Wind und den Wellen. Mein Brot träumt von mir.

Sonntag, 2. Dezember 2012

Was lässt Du am liebsten?

Was lässt Du am liebsten? 

Diese Frage stellte ich spontan auf Twitter ein, nicht unbedingt Antworten erwartend. Schließlich werden auf Twitter gerne diejenigen belächelt und beschimpft, die auf Fragen antworten. Soll ja alles nur Denkanstoß von höherer Ebene sein oder rhetorische Frage, weiß man doch schon alles selbst und zwar besser als der Rest, weshalb man gerne belehrt, und weil man so toll ist, belehrt man kunstvoll, rhetorisch kunstvoll. Nunja, was ich davon halte, lässt sich vermutlich schon aus meinem Ton herauslesen. Ich mag keine Überzeugungen mit einem Punkt dahinter, der eine Grenze zieht. Und noch weniger mag ich Überzeugungen, die als Frage verkleidet daherkommen. Ich bin ein Fan von Kommas, die zeigen: Hier ist noch nicht zuende gedacht, ich bin interessiert an allem, was jenseits meiner Meinung liegt, ergänzend, bestreitend, darüberhinausgehend. Und ich bin ein Fan von Fragen, offenen Fragen, die tatsächlich nicht unbedingt an einer abschließenden Antwort, aber an einer Einbeziehung des Gegenübers in einen Denkprozess interessiert sind.
Natürlich bin ich selbst nicht frei von starren Ansichten und erliege viel zu oft der Versuchung, mich rhetorisch über andere erheben zu wollen. Nur ist und bleibt das ein Machtspiel, das nicht zueinander führen kann und selbst im "Sieg" einen schalen Geschmack hinterlässt.

Okay, das klingt vielleicht nach etwas zuviel Überbau für diese doch sehr simple Aktion. Gerade dieses Simple, Unkalkulierte macht für mich aber den Charme des Ganzen aus. Es geht um nichts Weltbewegendes, trotzdem berührt es mich, weil es ein kleines feines Erlebnis von Zugewandtheit und freundlichem Miteinander ist.
Ich fand es schön, zu sehen, wie einfach und spontan und unverfälscht sehr tolle Menschen aus meiner Timeline auf diese einfache, spontane Frage reagierten.

Hier sind die Antworten in chronologischer Reihenfolge:

Was lässt Du am liebsten?

- Baumeln.

- Los.

- Mich gehen.

- nichts.

- bleiben.

- Blöde Zeitgenossen stehen

- 5e grade sein.

- zu.

- die Sau raus.

- mein Leben an mir vorbeiziehen, fasziniert und tatenlos zusehend.

- mich treiben

- zu. Von Herzen.

- den Dingen ihren Lauf!

- Jemanden ins Herz hinein.

- Meine Liebe sprudeln. Ich habe soviel davon.

- das ruder los.

- die Pflicht, damit ich die Kür genießen kann.

- die g-saite schnurren.

- raum

- den Hund von der Leine

- dem Kind seine Freiheit

- Auf jede Frage eine Antwort zu finden!

- Blicke schweifen.


Danke an: @Vittenko, @Silbermund, @kleinemy, @werwild, @HerrVanBohm, @Charlott7777, @UteWeber, @kaedinger, @schriftsteller, @mainwasser, @monikavincent, @_Anna_Log, @strickleiter, @vassility, @textzicke, @poetin, @outist, @Lady_of_Prussia, @e_mm_e1, @FrauFrog (2x), @JenseitsBeyond, @MonaThal


Achja, was lasse ich eigentlich am liebsten?
In manchen der obigen Antworten finde ich mich bereits wieder. Eins fällt mir aber noch ein: frei.

Freitag, 30. November 2012

So ein Wort

Ein Wort wie ein Baum
oder eins wie der Wipfel
eines Baums
oder eins wie ein Nest
im Wipfel
eines Baums
oder eins wie ein Vogel
im Nest
im Wipfel
eines Baums
oder eins wie die Brust
eines Vogels
im Nest
im Wipfel
eines Baums
oder eins wie das Herz
in der Brust
eines Vogels
im Nest
im Wipfel
eines Baums
wie ein pochendes Vogelherz
so ein Wort

Donnerstag, 29. November 2012

Ljudmila Ulitzkaja: Das grüne Zelt

Hätte damals am Gymnasium die Russisch-AG nicht wegen Raummangels in der nullten Stunde (also bereits um 7:00 Uhr!) stattfinden müssen, wäre ich mit Sicherheit länger als ein halbes Jahr dabeigeblieben, und das Wenige bis zu meiner Kapitulation Erlernte wäre nicht innerhalb kürzester Zeit in Vergessenheit geraten. Ich hatte nämlich ein Faible für die Sprache Tolstois, mir gefielen ihr Klang und das kyrillische Alphabet, gefallen mir bis heute. 
Hätte der Unterricht damals also nicht zu solcher Unzeit stattgefunden, wäre ich nun (möglicherweise) des Russischen mächtig und könnte mir die Lesung, die zu besuchen ich gestern Abend das Vergnügen hatte, im Originalton ins Gedächtnis rufen. So muss nun leider die - allerdings geniale - Übersetzung Ganna-Maria Braungardts herhalten.

Ljudmila Ulitzkaja gehört zu meinen Lieblingsautorinnen, seit ich 1997 ihren ersten Roman Medea und ihre Kinder las. Es folgten Reise in den siebenten Himmel, Die Lügen der Frauen, Ergebenst, euer Schurik, Maschas Glück, zwischen diesen einige, die ich nicht gelesen habe und hier deshalb nicht aufzähle.

Und nun ihr neuester, 600 Seiten starker Roman Das grüne Zelt, in dem es um drei Freunde geht, die in der Sowjetunion zu Dissidenten werden. 
Aus dem Klappentext: "Ilja, der Fotograf, vervielfältigt und verbreitet in seiner Freizeit verbotene Literatur. Als sich Jahre später herausstellt, dass er auch für den KGB tätig war, muss er fliehen. Micha ist Jude und schreibt seit seiner Jugend Gedichte. Wegen seiner Nähe zum Samisdat wird er denunziert und kommt ins Lager. Sanja kümmert sich während Michas Haft um dessen Frau und kleine Tochter. Dennoch hält ihn nach Michas Tod nichts mehr in der Sowjetunion."

Die Geschichte ist breit angelegt, in mehreren ineinander verwobenen Strängen erzählt und mit üppigem, um die überschaubare Hauptgruppe von sechs Menschen gruppiertem Personal ausgestattet. Es vermischen sich Biografie und Fiktion, einige Personen existierten real, werden aber wohl eher den russischen Lesern bekannt sein, manches entspringt den konkreten Erfahrungen der Autorin.
Wie in ihren früheren Werken besticht sie auch hier mit einer Kombination aus entlarvendem Blick und zwerchfellkitzelndem Humor, soviel lässt sich nach dem Hören eines Ausschnitts bereits sagen.

In einem vom Hanser-Verlag auf YouTube hochgeladenen Interview beschreibt Ulitzkaja ihr Verhältnis zur Sowjetmacht und ihre Beobachtung einer "Restalinisierung" in Russland, welche sie zum Schreiben des Grünen Zelts veranlasste:



 
Ihre Lesung beendete sie auf die Frage aus dem Publikum, ob sie ihre Bücher als Frauenliteratur bezeichnen würde, mit einer Feststellung, die ich hier mit Vergnügen festhalte und weitergebe: Der Begriff Frauenliteratur werde immer als Abwertung verstanden. Es sei natürlich eine Tatsache, dass Frauen viel später mit dem Schreiben begonnen haben als Männer, folglich stamme aber auch die größere Anzahl schlechter Bücher von Männern. Ihrer Auffassung nach sei inzwischen die Zeit der Frauen angebrochen, was auf eine Rettung der Erde hoffen lasse.

Das grüne Zelt nehme ich mir nun vor und empfehle es hier bereits ungelesen allein aufgrund meiner Erfahrung mit ihren früheren Büchern und des gestern Abend Gehörten.

Mittwoch, 28. November 2012

Schreibarbeitsvergnügen (Loses Blatt #51)

Seitdem ich Schreiben als Arbeit betrachte, bereitet es mir noch mehr Vergnügen.

Montag, 26. November 2012

Frei bewohnbare Wörter

Vielleicht leere ich bei Gelegenheit ein paar Wörter und wasche sie aus und lasse sie an der Sonne trocknen und stelle sie den Dingen zur Verfügung als frei wählbare und frei bewohnbare Gefäße. 
Vielleicht zieht dann ein Baum ins Haus und ein Vogel ins Lied und ein Buch ins Brot, zieht die Bewegung in den Weg und der Weg ins Ziel und das Ziel in den Beginn. 
Vielleicht geschieht dies mit großer Ernsthaftigkeit, vielleicht wird es aber auch ein großer Spaß, ein Spiel wie Blindekuh oder Bäumchen wechsle dich.
Vielleicht wird es ein Fest.
Vielleicht kann es funktionieren, wenn ich mich raushalte.

Samstag, 24. November 2012

Für mich

Vorgestern sprach ich übers Teilen, heute bekam ich ein wunderbares Geschenk (als Reaktion auf meine "Vater Mutter Kind"-Reihe), das mich sprachlos macht:



sie wendet sich ab
und zu nach dir um
sie kennt kein ich du er es
nicht einmal sich selbst kennt sie

ab und zu taucht sie
auf dreht sich um / ohne zu sehen
wer da steht / sie kennt niemanden
man sagt: sie kenne kein pardon

taucht auf ab und zu und Du
stehst da / ertappt und überwältigt und hast k
eine sprache gefunden sie vorwärts zu w
enden


von Sebastian van Roehlek 

*

Ich danke Dir von Herzen, lieber Sebastian, und sage es hier noch einmal: Du findest so gute Worte, da kann ich getrost sprachlos werden.

Sonntagsspaziergang 2 (Vater Mutter Kind 4)

Wie zum Beispiel die Hand des Vaters sich um deine schließt und den langweiligen Sonntagsspaziergang zu einem Engelsflug macht. Verschwindet deine kleine Hand vollends in seiner großen. Ist sie ein Vögelchen im Nest. Bist du selbst ein Vögelchen unter weitem Fittich. Fällt dein Blick auf eure Füße, versuchen deine kleinen einen Gleichschritt mit den großen, merken die großen das und verlegen sich aufs Trippeln. Musst du kichern.
Ist es überhaupt immer ein Spaß mit dem Vater, macht der so lustige Dinge, kennt er so viele Witze, kann er so tolle Sachen wie Hütten bauen und Schaukeln an hohen Ästen aufhängen und auf Grashalmen und Eichelhülsen pfeifen und Lagerfeuer machen. Kann er dich am Ende des Spaziergangs auf seinen Schultern tragen, ohne müde zu werden. Sitzt er später geduldig auf dem Sofa und lässt sich von dir die Haare kämmen und zu einer Königsfrisur gestalten.
Sind während alldem die Mutter und die Schwester unzufrieden. Schießen sie euch Blicke in den Rücken, flüstern sie einen Ärger hinaus, den du nicht hören willst. Scheppern sie in der Küche mit dem Geschirr, stören sie euren Frieden. Willst du das nicht und verschließt du deine kleinen Ohren, öffnest du sie nur für die Geschichten und die Lieder des Vaters.
Merkst du gar nicht, wie sie dich schützen, wie sie dich nicht einweihen in ihr Wissen um das Böse, wie sie dich im Glauben lassen, alles sei gut. Halten sie dich für klein und dumm. Aber bist du das nicht. Schützt du dich nämlich selbst. Wählst du die Türen, die du öffnest und die du schließt. Machst du es ganz anders als die Mutter und die Schwester. Wirst du ein ganz und gar stures Kind, lässt du nichts mehr an dich heran. Wird das immer so bleiben.
Sehen die Mutter und die Schwester deine kleine Gestalt und deine weiche Haut. Glauben sie, dass du nichts siehst und nichts weißt. Beneiden sie dich darum, manchmal so sehr, dass sie dir böse sind. Wünschen sie zugleich, dass du so unangetastet bleibst, so kindlich und frei.
Wissen sie nichts über dich.

Freitag, 23. November 2012

In deinem Bett 2 (Vater Mutter Kind 3)

Wie zum Beispiel euer Ehebett nach Verlangen riecht und du würgen musst. Stehst du davor und blickst auf den trunken schlafenden Leib. Liegt dieser mittendrin. Wird er erwachen, sobald du dich legst, wird er sich bäumen und über dich kommen. Hörst du sein gieriges Keuchen, spürst du sein gewaltiges Fordern, wirst du verschwindend klein. Kannst du dich nicht überwinden, deinen Platz einzunehmen. Schleichst du hinaus und schließt leise die Tür.
Stehst du gefällt im Flur zwischen drei Türen, hinter denen es schläft. Öffnest du die zum Zimmer deiner älteren Tochter. Weckst du das Kind, rückt es ganz nah an die Wand, macht es dir Platz in der Wärme. Zieht es eine Grenze dicht an seinem Rücken entlang. 
Kennst du diese Art Grenze, hast du selbst eine solche gezogen, damals im letzten Kriegsjahr. Lebte dieses jüdische Mädchen bei euch, versteckt und beschützt, ein ganzes Jahr lang. War sie so alt wie du, hätte sie deine Gefährtin sein können. Stahl sie dir aber deinen Platz im Bett. Nahm sie dir die Möglichkeit, deine Freundinnen zu treffen. Musstest du immerzu im Haus bleiben, war ja die Schule sowieso geschlossen und war die Gefahr viel zu groß, dass ein Wort über deine Lippen käme. Hast du versucht, verständig zu sein. Hast du ein Einsehen gehabt, war dieses Einsehen aber fern deinem Herzen. War da ein großer Zorn in dir auf das fremde Mädchen, so groß, wolltest du sein Leid nicht mehr sehen und die tödliche Gefahr. Sahst du nur noch dich und deinen Verzicht.
Hast du bald darauf begonnen dich zu schämen, so sehr. Wolltest du nie wieder selbstsüchtig sein. Wolltest du helfen und gut sein, wolltest du retten, was dir in die Hände fiel, wie zum Beispiel den zerschlagenen Mann ohne Mutter und ohne Heimat. Wolltest du alles wiedergutmachen, was schlecht war. Stießest du aber in jeder Richtung an eine Grenze ähnlich der im Bett deiner Tochter. Entzieht sich ein jedes deiner Hand, die sich so gerne beschwichtigend und heilend auf alles legen würde. 
Fällst du ohnmächtig in einen ohnmächtigen Raum.

Donnerstag, 22. November 2012

Teilen

Da lese ich im Netz verschiedene kleine Artikel zum Thema Zufriedenheit und Glück und freue mich daran, auch an deren wechselseitiger Wirkung, denke in Folge über meine eigene Haltung dazu nach und stelle fest, dass Glück für mich untrennbar mit Dankbarkeit verbunden ist, beide aber nicht als bloßes Empfinden, sondern als etwas Aktives. Setze ich mich also hin und verfasse eine seitenlange Abhandlung über meine Sicht der Dinge, gespickt mit diversen Links, lehne mich Stunden später zufrieden zurück, koche mir dann einen Kaffee und lese nochmal eben Korrektur, um das Ganze anschließend mit einem Klick auf meinem Blog zu veröffentlichen, und stelle mit Erschrecken fest, dass ich eine regelrechte Predigt geschrieben habe. Eine Erkenntnis, die mich würgen lässt. Ich könnte mir in den Hintern treten, was ich nach einem sekundenbruchteilkurzen Moment des Überlegens auch tue. In Form eines Klicks auf den Button "löschen". Puh.

(Dieser christlich-fundamentalistische Einfluss, über den ich bereits in diversen Texten mehr oder weniger verschlüsselt geschrieben habe, lässt sich, auch wenn er mittlerweile 20 Jahre zurückliegt, nicht so leicht abschütteln. Ich hüte mich seither zwar vor allem, was nach Vereinnahmung und Manipulation riecht. Erfolgreich. Eine Sensibilisierung, die mich fast vom einen auf den anderen Moment schützte vor erneuter "feindlicher Übernahme". Trotzdem kommen manchmal noch Dinge aus mir, eine Art, mich auszudrücken, Verinnerlichtes, das sich anscheinend nicht mit einem einzigen Ruck abwerfen lässt, das in die tiefsten Schichten eingedrungen und auch nach der zigsten Häutung noch nicht komplett abgestreift ist. Ich schäme mich dafür, so zu sein. Es verletzt mich, und ich arbeite daran. Aber dieses Arbeiten gleicht tatsächlich einem Prozess des wiederholten Häutens, der sich nicht künstlich beschleunigen lässt, sondern seine Zeit braucht.)

- Einatmen. Ausatmen. -

Eigentlich wollte ich über Glück schreiben und über Dankbarkeit. Auch über das Teilen, das sich bei mir als nächste Assoziation einstellte. Aber jetzt ist die Luft raus. Oder ich traue mich nicht mehr.
Ich schicke meine Gedanken zurück an den Punkt der Freude über die Vernetzung auf verschiedenen Ebenen. Die kleinen feinen Texte der Mützenfalterin über Zufriedenheit und Glückmomente und den zeitlich dazwischenliegenden von Sherry über Glück. Zurück an den Punkt, wo ich merkte, dass Glück für mich nicht in erster Linie ein Ereignis oder ein Empfinden ist, sondern eher mit meiner Haltung zu tun hat, mit der Fähigkeit und Bereitschaft, neben dem, was fehlt, das zu sehen, was ist, dieses nicht als selbstverständlich zu betrachten, sondern als Glück und für dieses Glück zu danken, übrigens ohne einen Adressaten wie Gott, das Leben, oder das Schicksal dafür zu brauchen. Den Dank wiederum nicht als ein Sichabfinden oder Sichzufriedengeben zu betrachten, sondern als Energiequelle für ein Fortschreiten zu nutzen ...

(Ich breche hier ab. Vielleicht ist es nicht so leicht nachzuvollziehen, aber ich kämpfe gerade sehr mit meinem eigenen Ton.)

Zum Schluss noch der Hinweis auf ein Projekt, auf das ich über Ute Schätzmüllers heutigen Blogeintrag gestoßen bin: the light ekphrastic von Jenny O'Grady. 
Utes Beschreibung des Projekts: "Alle drei Monate wird ein Kombinationsprojekt ausgeschrieben, zu dem sich bildende Künstler und Autoren bzw. Dichter bei ihr melden können. Sie wählt aus den Anmeldungen ca. acht Teilnehmer aus und erstellt Paare aus jeweils einem bildenden und einem schreibenden Künstler. Anschließend übermitteln die Partner sich gegenseitig Werkbeispiele und wählen schließlich ein Werk des jeweils anderen als Inspiration für die Erschaffung eines neuen Kunstwerks.  Diese fertigen Werke werden schließlich mitsamt ihrer Inspirationsquelle und einigen Informationen zu den Künstlern und Autoren auf dem Blog: “the light ekphrastik” und bei Facebook präsentiert."
Ein schönes Beispiel dafür, wie bereichernd Teilen sein kann. Im Gegensatz zu Konkurrieren.

Was mich übrigens kürzlich überaus freute: Dass Melusine meine Blütenblätter in ihrem schönen Interview auf Gesine von Prittwitz' Blog SteglitzMind empfahl. Das ehrt mich, denn abgesehen davon, dass ich Melusine persönlich sehr mag und schätze, sind ihre Gleisbauarbeiten für mich eines der inspirierendsten in der weiten Landschaft der Blogs.

Gehört das alles überhaupt zusammen? Ja, natürlich!

Dienstag, 20. November 2012

So friedlich

So friedlich, das lässt sich nicht ergreifen und festhalten, das lässt sich nur still ein- und ausatmen. 
(Und als tatsächlich erlebt und somit möglich in der Erinnerung abspeichern.)

Samstag, 17. November 2012

Hinaus

Sie hat sich wieder hingelegt. Endlich zufrieden mit der Tiefe der Grube. Die Erde ist kühl, aber das Blut im Rücken ist warm. Bald wird das Wasser hereinströmen, dann kann sie ihre Kiemen testen. 
Derweil liegen die Flügel ordentlich gefaltet in der Truhe. Dort teilen sie sich den Platz mit Notizbüchern, Muscheln und Steinen. Wer möchte den Deckel hochklappen und stöbern? Mit den Fingern über die Federn streichen, die Bänder von den Kladden lösen und den Träumen folgen, die immer nur aufs Meer gerichtet waren. 
Irgendwann wuchsen die Flügel, ihrem unbezähmbaren Wunsch Folge leistend. Nun liegen sie abgetrennt, nutzlos. Wollt ihr die DNA zum Beweis? Die offenen Wunden an ihren Schultern - noch würden sie sich wieder um die Wurzeln schließen. 
So viele Jahre hatte sie geglaubt, es ginge ums Fliegen. Als die Flügel dann endlich durchgebrochen waren, verging ihr die Lust. Diese Höhe. Dieser Abstand. 
Nun würde sie tauchen und ahnte doch schon, dass es auch darum nicht ging. Es war ein weiterer Abstecher, den sie machte, um in die Nähe von Weite zu gelangen.
Hört, das Wasser kommt! 
Sie atmet ganz ruhig und denkt nicht an den übernächsten Schritt. Wir hingegen denken an nichts anderes und werden dennoch geduldig warten, werden dabei nicht untätig sein. Das Boot kann einen neuen Anstrich vertragen. Die Segel wollen ausgebessert sein. Proviant muss an Bord ...
Wir könnten ausrasten vor Freude auf die bevorstehende Fahrt. Denn diesmal wird es weder hinauf noch hinunter gehen, sondern hinaus, weit hinaus.

Donnerstag, 15. November 2012

Jost Renner: Sag

Sag,
was Du zu sagen hast.
Sag es im Guten.

Sprich von Deiner Liebe,
red von Deinem Schmerz.

Sag es in Versen
und wahre die Form,
in der Du erkennbar bleibst.

Und wenn niemand Dich hört,
dann red gegen Wände
oder rufe laut in den Wald.

Sag, was Du zu sagen hast,
denn Dein Wort zählt -
die Dir verbleibenden Tage.


*


Dieses Gedicht habe ich gestern bei Jost Renner gefunden, dessen Blog Liebesenden zu meinen Lieblingslektüren gehört. Es finden sich dort lauter feine Gedichte, die in ganz eigener und, wie ich finde, zärtlicher Weise von Schmerz und Liebe sprechen.


"Sag, was Du zu sagen hast. Sag es im Guten." - Dieser Satz trifft mitten hinein in meine persistenten Zweifel daran, ob ich denn etwas zu sagen habe. Also etwas, das von Bedeutung sein könnte für irgendjemanden in irgendeinem Zusammenhang. Es geht nicht um eine Erlaubnis, oder höchstens um eine, die ich mir selbst erteile oder verweigere. Es geht um die Relevanz. (Ich wiederhole mich hier, schreibe nicht zum ersten Mal darüber, sorry, sicher werden noch mehr Einträge dazu folgen.)
Aber es sind da ja Gedanken, und sie wollen hinaus. Im Guten, das ist mir wichtig, denn wo es nicht im Guten gemeint ist, kann es auch nichts Gutes bewirken, davon bin ich überzeugt.
(Und ich tanze trotzdem auf dem Blocksberg! Das muss als Randbemerkung mit hinein, ohne dass ich es an dieser Stelle näher erläutern will. Notiz an mich: Irgendwann mal über die Radikalität des leisen Liebens schreiben.)

"Sprich von Deiner Liebe, red von deinem Schmerz." - Wovon sonst, denke ich im ersten Moment, im zweiten fallen mir all die Texte ein, in denen ich nicht explizit über mich und von mir schreibe, und im dritten Moment wird mir klar, dass auch diese Texte meine Liebe und meinen Schmerz wenn nicht zum Thema, dann doch als Richtschnur haben. Das Erleben meiner Figuren muss nichts mit meinem eigenen Erleben zu tun haben, aber mein Umgang mit ihnen ist davon geprägt. Man kann sich schlicht nicht aus seinen Texten heraushalten.
Und dann gibt es sie ja trotzdem auch, diese Texte, die von der eigenen Liebe und dem eigenen Schmerz sprechen. Diese sind die schwierigsten, finde ich, ist man nicht auf Reaktionen der Anteilnahme aus, sondern will dieses Persönliche genau wie alles andere zur Verfügung stellen, teilen und freilassen, damit der Leser es betrachten und benutzen oder verwerfen kann, wie er es will und braucht, ohne (falsche) Rücksicht auf den Verfasser.
Und es schließt ja nicht aus, dass man mit einigen wenigen dann doch ins Gespräch kommt über die persönlichen Dinge, aber mein Ziel ist das nie, da wähle ich lieber den direkten Weg des Gesprächs.

"Sag es in Versen und wahre die Form, in der Du erkennbar bleibst." - Für mich müssen es nicht unbedingt Verse sein. Aber die Form zu wählen, in der ich erkennbar bin/ bleibe, das ist eine Forderung, zu der ich ein Ja, ein Nein und ein Jein habe. Ich will mich ausdrücken, aber oft ist es eher so, dass ich etwas ausdrücken will, und möchte, dass sich der Leser der Sache zuwendet und nicht mich im Text zu erkennen sucht. Nicht, weil ich mich verstecken will, sondern weil es mir wirklich, wirklich, wirklich um die Sache geht.
Auch hier ist es also wieder so, dass es in manch einem Text nicht um meine Person geht, sondern um irgendeinen Gegenstand materieller oder ideeller Art, aber wie und weshalb ich darüber schreibe, hat natürlich mit mir zu tun und zeigt etwas von mir, nur dreht es sich eben nicht um mich. Vielleicht ist genau das mit obigem Satz gemeint.
Davon abgesehen empfinde ich es als (möglicherweise lebenslangen) Prozess, eine/ die Form zu finden, in der man unverwechselbar erkennbar ist, die also eine wirklich ganz und gar eigene ist.

"Und wenn niemand Dich hört, dann red gegen Wände oder rufe laut in den Wald." - Diesen Satz finde ich so schön, weil er zwar etwas Trauriges beinhaltet (nicht gehört zu werden), aber auch etwas Befreiendes: Ich muss mich nicht von Hörern (bzw. Lesern) abhängig machen, weder von ihrer Anwesenheit noch von ihren Reaktionen, ich kann auch für mich und in die Stille und in den Lärm sprechen, flüstern, schreien. Das hat etwas sehr Integres, was sich darin fortsetzt, dass, wenn dann doch einmal Hörer anwesend sind, die zudem reagieren oder nicht, ich nicht anders sprechen möchte als zur Wand oder zum Wald.
Nicht missverstehen! Ich meine damit nur, dass meine Rede sich nicht an Zuwendung, Gefallen oder Missfallen orientieren soll. Entgegengebrachte Aufmerksamkeit möchte ich jedoch mit Aufmerksamkeit erwidern. Und einem Verständniswunsch kann ich durchaus mit einem Verständlichmachungsversuch begegnen.

"Sag, was Du zu sagen hast, denn Dein Wort zählt - die Dir verbleibenden Tage." - Dieser Satz berührt mich am stärksten. Er ist so gut formuliert in seiner Mehrdeutigkeit. Mein Wort zählt. - Ja, nicht mehr und nicht weniger als das eines jeden. Das kann ich ohne weiteres akzeptieren und für mich in Anspruch nehmen, ohne darin einen Widerspruch zu meinen Zweifeln an der Relevanz meiner Äußerungen zu entdecken.
Aber meint denn dieses Zählen nicht gerade, dass es Relevanz hat? Nein, ich glaube nicht. Meines Erachtens geht es vielmehr um einen Wert abseits jeglicher Leistung und zu erwartender oder erzielter Wirkung. Mein Wort zählt, es ist etwas wert, allein aus dem Grund, weil es mein Wort ist. (Ich bin nicht ganz zufrieden damit, wie ich das hier formuliere, aber ich krieg's grade nicht besser hin.)
Und: Mein Wort zählt die mir verbleibenden Tage. - Dieser Hinweis auf die Endlichkeit des Lebens ändert den Blick auf die Fragen nach Relevanz und Form. Wir haben nicht unendlich viel Zeit und werden sowieso keine Vollkommenheit erreichen. Warum also nicht wertschätzen, was ist, im vollen Bewusstsein der Vorläufigkeit, die in allem liegt.

*

Lieber Jost, ich danke Dir herzlich fürs Ausleihen Deines Gedichts und bin mir bewusst, dass meine Auslegung eine sehr subjektive und unvollständige ist. Ich durfte mir Deine Worte zu eigen machen, das hat mir gut getan.

Montag, 12. November 2012

In Bewegung zu bleiben

Aufzubrechen
etwas zu finden
sich zu bücken
es aufzuheben
es nach Hause zu tragen
ihm einen Platz einzuräumen
es täglich zu betrachten
es zu pflegen
sich daran zu freuen
sich daran zu gewöhnen
ein Sehnen zu spüren
erneut aufzubrechen
etwas zu finden
sich zu bücken
...
zu begrüßen
zu sammeln
zu schätzen
zu bewahren
...
zu verwerfen
...
ein Gefüge zu schaffen
...
bewegt zu sein
in Bewegung zu bleiben

Sonntag, 11. November 2012

Tauchgang

Warum ich ausgerechnet jetzt an der tiefsten Stelle tauche - ich weiß es nicht, es schien richtig zu sein, wenn nicht gar notwendig und unausweichlich. Diese Sicherheit ging mir während des Tauchgangs verloren. Ich verharre zwischen Tiefer- und Wiederauftauchen. Irgendetwas will zum Abschluss gebracht sein, so scheint es mir. Ich müsste den Sauerstoffvorrat kontrollieren, will gleichzeitig auf Risiko spielen, denn wer weiß, ob ich noch einmal den Mut aufbringen werde. Oder die Kraft, die Ausdauer, die Lust.

Ließe sich Wahrhaftigkeit pflücken wie eine Blume, aufheben wie ein Kiesel, schälen wie eine Frucht. Ließe sie sich in irgendeiner Weise erschließen, die nichts mit graben und schürfen und aufbrechen zu tun hat. Oder wäre sie wie Luft, umhüllend und durchdringend, oder fließend und umschließend wie Wasser. Vielleicht ist sie das und bin ich mittendrin oder unlöslicher Teil, mir dessen nur nicht bewusst ...

Ich befinde mich mitten im Ozean, die Maße der Abstände zu Oberfläche und Grund sind identisch, ich halte Zwiesprache mit der Strömung und den Meeresbewohnern. Alles sieht mich an und ich fürchte mich nicht, jedenfalls nicht auf dieser Ebene der relativen Kontrollierbarkeit. Dennoch: Ein Zuhause ist das hier nicht, worin gleichzeitig etwas Anziehendes liegt, denn ein Zuhausegefühl wage ich seit je am ehesten in der Fremde zu entfalten. Wenn ich noch ein Weilchen bliebe ...

Ich habe nicht die geringste Ahnung, ob ich, entschlossen loslassend, aufsteigen oder sinken würde.

Samstag, 10. November 2012

Rettung

Gerät sie unter den Turm
schüttet sie Feuer ins taumelnde Blut
senkt das verwüstete Kind ins Meer
hebt sie das Wort hoch hinaus übers Tal
umschlingt sie die fallende Welt

Donnerstag, 8. November 2012

Sonntagsspaziergang (Vater Mutter Kind 2)

Wie zum Beispiel die Hand deiner jüngsten Tochter sich in deine schmiegt, den ganzen weiten Spazierweg lang und du manchmal zu fest zudrückst aus lauter Furcht, sie könnte dir ihre Hand entziehen. Aber tut sie das nicht, tritt sie dir stattdessen auf den Fuß und ruft "Hey, nicht so fest!", lacht noch dabei, ach, schießt dir eine Träne ins Auge. Nicht fassen kannst du dein Glück. Ist es so ganz und gar unverdient, zetern von hinten die Blicke, fallen sie stumm über eure Händeeinheit her. Sind da eine Frau und ein Mädchen, waren deine Frau und deine älteste Tochter. Spürst du den Vorwurf in ihren Blicken. Und die Traurigkeit. Bist du weit entfernt von einem Triumph, würdest du die beiden in deinem Rücken doch ebenso gern an den Händen halten. Wird das aber nie wieder möglich sein. Bist du ein Ungeheuer. Kannst du einfach nicht stehenbleiben und dich umdrehen und ein anderer sein. Wirst du immerzu wüten. 
Und wirst du immer der Mann sein, der ein Sohn ist, der die Mutter vermisst. Hat diese keine Hand für dich frei, hält sie darin deine toten Brüder. Bist du selbst mit dem einen Bruder nach dessen Geburt gestorben, bist du mit dem anderen im Krieg gefallen, bist du mit dem dritten verschollen. Bist du dreimal verschwunden und unsichtbar. Bis die Mutter eines Tages nicht länger vermisst, sondern vergisst, sich selbst und die Brüder und dich. Kennt sie dich nicht und niemanden mehr. Bist du nun tot oder frei? Weißt du es nicht. Vergisst du dich. 
Spürst du die bedingungslose Hand, die in deiner liegt. Spürst du die verhungernden Blicke im Rücken. Spürst du dein Unvermögen. Denkst du während des gesamten Weges an die Flasche in der Werkstatt und dass immer etwas zu werkeln ist in diesem vorwurfsfreien Raum mit dem unerschöpflichen Vorrat an Vergessen.

Sonntag, 4. November 2012

In deinem Bett (Vater Mutter Kind 1)

Wie zum Beispiel die Mutter dich weckt mitten in der Nacht und dich bittet, dichter zur Wand zu rücken, damit sie Platz hat neben dir, in deinem Bett. Nicht zu dem stinkenden Vater will sie sich legen, der über sie hereinbrechen könnte, der seine wütenden Fäuste auf ihrem Gesicht platzieren könnte und seinen ganzen berauschten Leib auf dem ihren, der doch ein Nein ist.
Spürst du diesen Nein-Leib neben deinem, wirst du zum Stock, willst du weder die Wand noch diesen entsetzten Rücken berühren. Braucht die Mutter ihren ganzen Schutz für sich selbst. Musst du im Zeitraffer wachsen und dich entscheiden. Gegen den Vater musst du dich entscheiden. Und musst du über deine kleine Schwester wachen, die im ahnungslosen Raum nebenan schläft, wie man sich nur wünschen kann zu schlafen.
Wirst du nie wieder so schlafen können wie die kleine Schwester, nie wieder allein in deinem Bett, auch dann nicht, wenn die Mutter den Platz gar nicht wünscht, wenn sie doch wieder beim Vater liegt.
Der Vater. Erkennst du seine Hände nicht mehr, die dich gehalten und hoch in die Luft geworfen und wieder aufgefangen haben. Erkennst du gar nichts mehr an ihm, nicht die Reiterknie, nicht die Hochsitzschultern, nicht die Blaublitzaugen, nicht den Mundharmonikamund, nicht die Gitarrenfinger. Wie kann das ein und derselbe Vater sein.
Und erkennst du auch die Mutter nicht mehr, ihren Schoß und ihren Leib, ihre Brust, ihre Arme, kennst das Warme, das Weiche, das Starke nicht mehr, war doch eine Burg und hat niemals gezittert vor Angst.
Kennst du sie beide nicht mehr. Sind nicht mehr Vater und Mutter, sind nur noch Mann und Frau, sind dein verstoßener Sohn und deine geliebte Tochter, und bist du hundertmal älter als zehn.

Samstag, 3. November 2012

Wunsch

Ach, könnte ich meine Zeilen so eng setzen, dass nicht der geringste Raum dazwischen bliebe.
  
*

- Bedeutet das Öffnen der Türen zugleich die Erlaubnis zum beliebigen Füllen der freien Räume mit Projektionen jeglicher Art? 
- Warum reißt meine Haut so leicht? 
- Wer sagt denn, dass die Ungezähmten laut sein müssen? 
- Mein Reichtum bleibt das noch nicht Preisgegebene.
- Die Sehnsucht, die ich selbst kaum kenne, auch wenn es einzig meine ist, wer wollte sie mir deuten?
- Das wird hier zu persönlich, um noch meins zu sein.
- Du stellst dich selbst zu sehr in Frage.
- Beende die Assoziation. 

- Lesen Sie nicht das Kleingedruckte, und wenn Sie nicht widerstehen können:
- Nehmen Sie es nicht persönlich, aber ernst, und verzichten Sie auf Interpretation (wenn Sie können).

Freitag, 2. November 2012

Wild (Blatt #50)

Der Wolf ist nicht wilder als das Reh.

Donnerstag, 1. November 2012

Suchanzeige

Winter gewesen und nie wieder Tau
Frühling, federnder Sprung in den
Sommer gewesen und - oh - auf ewig -
Herbst sein wollen und Fall
durch zuschreibungslosen Raum in ein
anderes, eigenes Sein 
- werden - wollen - was ist - wäre möglich -

verzweifelt gesucht: Ein wilder Ort, 
irgends 

Mittwoch, 31. Oktober 2012

Morgen

Dem Tag Versprechungen gemacht
den Weg dann doch vor die Menge geworfen
keinen eigenen Fuß gesetzt
aber dem Spiegel die Zähne gezeigt
(lächerlich)
in der Tasche ein ewiggültiges Attest
wer rechnet noch mit dir
dein Glück: das Weiterdrehen
in die abertausendste Neugeburt
der Wiederundwiederundwiederaufgang

Samstag, 27. Oktober 2012

Hinter Stäben

Sind da Stäbe aus Papier, teilen die Welt in überschaubare Rechtecke. Nein, sind da Stäbe aus Wort, schwarzem Wort, teilen das Leben in Böse und Gut. Sind da zwei Dimensionen. Ist da ...?
Wer wünscht sich schon mehr als Verwirrung, als Rätsel und Magie. Ein unversiegbarer Brunnen davon sollte genügen für den Rest deiner Jahre. 
Sitzt du am Fenster und sinnst, ||: zurück und voraus :||, senkst deinen Blick auf die zittrigen Knie. Da ist Bewegung gefangen hinter Stäben aus Buch, aus schwarzgebundenem Buch. Immer noch? Glaubst du an das Fortwähren deiner Gefangenschaft?
Lenkst du den Blick zur Tür, siehst du sie offen. Lenkst du den Blick hinaus, siehst du den Platz des Wärters leer. Lenkst du den Blick um die Ecke, siehst du ... deine eigene Neugier!
Hebst du den unbenutzten Fuß, strengst du dich an, bemühst du dich selbst statt der Ausflucht der Stäbe.
Fragst du dich draußen, ob da jemals ein Verschluss, ob da jemals ein Wärter, ob da jemals ein Befehl ...?
Senkst du den Blick auf den Weg, lässt du dich nieder, legst du dein Ohr auf den pochenden Stein, nimmst du dein Herz in die Hand, bläst den Staub von der Haut, hältst den Muskel ins Licht und verbrennst du die tote Spur. Kostet dich einen einzigen Atemzug nur, einen leisen Entschluss.
Trittst du die Stäbe in den Grund, zerfetzt du das schwarze Tier, nimmst du dir vor, zu lernen:
erstens, wie man auf zwei Fingern pfeift
zweitens, wie man lauthals lacht
drittens, wie man sich sichtbar macht

Freitag, 26. Oktober 2012

Scout Niblett (Feat. Will Oldham): Comfort you

Schöne Version des Van-Morrison-Songs auf Scout Nibletts Album This Fool Can Die Now, von dem ich vor einiger Zeit schon mal den Titel Kiss gepostet hatte.


 


I wanna comfort you
I wanna comfort you
I wanna comfort you
Just let your tears run wild
Like when you were a child

I'll do what I can do
I wanna comfort you
You put the weight on me
You put the weight on me
You put the weight on me

When it gets too much for me
When it gets too much, much too much for me
I'll do the same thing that you do
And I'll put the weight on you
Huh
I'll put the weight on you
I'll put the weight on you

And I'll do the same thing that you do
I'll put the weight on you
I wanna comfort you
I wanna comfort you

And I wanna comfort you
Just let your tears run wild
Like when you were a child
I'll do what I can do
I just wanna comfort you 


Freitag, 19. Oktober 2012

Aufgewacht

Am Morgen augewacht in dem Bewusstsein, etwas gesehen zu haben, das aber im Aufwachen sich nicht halten ließ, sondern verschwand, weder durchs Fenster, noch durch die Tür, noch überhaupt hinaus, sondern zurück, wieder hinein und so weit weg, dass es Rückschlüsse auf eine Tiefe zulässt, die Mut erfordert, wollte man sie ergründen, etwa um das Gesehene wiederzufinden, um das man weiß, ganz sicher weiß, und das schön gewesen sein muss, weil wahr, was sich nicht begründen und beweisen lässt, als allein durch sein Gewesensein, welches wiederum bewiesen ist durch eine Wahrnehmung, die sicher stattgefunden hat, ganz sicher stattgefunden hat, und eine Berührung, die einen nackt zurücklässt, nackt und abgewaschen im Innern, von einer Welle oder einer Hand, die etwas wegwischt oder anhebt, eine Wandlung, sichtbar sich selbst, also war da etwas, das man wahrgenommen hat, und es hat den Blick erwidert, oder vielleicht hat es auch zuerst hingesehen, vielleicht war es überhaupt nur ein Schauen, mitten in den Schlaf, das die Augen weckte, die sich dann nach innen aufschlugen und sahen, aber nichts halten konnten von dem, was sie sahen und die nun zurückgelassen sind mit etwas, das da war, aber nicht beweisbar ist, und vielleicht ist dieses Wissen nur zu halten in sich selbst und wahr abseits jeglichen Begriffs und bedeutet Loslassen vor allem den Verzicht auf Verstehenwollen und Verstandenwerdenwollen.

Donnerstag, 18. Oktober 2012

Ursula Ziebarth: Gelesene Kinder

Ein Plädoyer für das Lesen von Romanen über Kinder, für das Lesen von Romanen, für das Lesen. (abseits von sogenannter "Fach"literatur)

Ich besitze ein einziges Buch von Ursula Ziebarth, es ist längst nur noch antiquarisch zu bekommen: Ein Kinderspiegel, 1979 bei Piper erschienen. "Ein Buch der Freundschaft zu Kindern, ein Schatz an Geschichten, Bildern, Träumen und, weil wir alle Kinder waren, ein Buch der Freundschaft zu den Menschen." (aus dem Klappentext) Ich habe bereits einmal daraus zitiert, hier.

Sollte ich, um die Aufmerksamkeit für diese bemerkenswerte Frau zu wecken, auf ihren Briefwechsel mit Gottfried Benn hinweisen? Würde man an dieser Stelle dann hellhörig werden, höbe das Wissen um die Bekanntschaft mit dem berühmten Dichter sie in ihrer Bedeutung? Ich glaube nicht an Werbung. An deren Macht natürlich schon, aber nicht an ihre Bedeutung für die Beförderung des Guten, an eine nachhaltige Wirkung auf das Weltwesen. Ich glaube an die Kraft von Graswurzeln.

In dem Text, auf den ich mich beziehe, geht es, wie der Titel schon sagt, um "Gelesene Kinder". Ziebarth schreibt:
"Auch gelesene Kinder sind unsere Kinder, wir sehen ihnen zu ohne daß sie es bemerken, begleiten sie ohne zu stören oder sie zu beschämen. [...]
Man versteht sich besser auf Kinder, nachdem einem geschriebene begegnet sind, [...], was ein paar Klugköpfe sicher sophistisch bestreiten werden, weil diese Kinder ja nur auf dem Papier existieren und wer sich mit ihnen beschäftigt, angeblich noch lange nichts von lebendigen Kindern wisse, ja, diesen durch Flucht in die Lektüre womöglich sogar ausweiche, sich also von der Realität entferne.
Auch Literatur ist eine Realität, schließlich dichten, schreiben, lesen Menschen spätestens seit dem Gilgamesch-Epos, und sie werden schon wissen, warum sie so beharrlich Leben schildern und geschildertes Leben in sich aufnehmen.
[...]
Der Verfasser von Oliver Twist und David Copperfield hat mehr für Kinder bewirkt als so mancher Fachliteraturverfertiger der pädagogischen Disziplin in seiner Unfähigkeit, Empfindungen für Kinder zu wecken, weil von Kindern in der Fachsprache nicht anders als von Objekten gesprochen wird, die es zu beobachten, zu untersuchen, zu beurteilen gilt.
[...]
Das Kind im Mittelpunkt oder auch nur am Rande eines Kunstwerkes aus Sätzen weckt, was Überlegungungen übertrifft: Zuneigung, anwendbare, auf lebendige Kinder anwendbare, nicht begrenzbar auszudehnende Zuneigung zu allen Kindern dieser Welt in ihrer Wehrlosigkeit.
Die großen Fürsprecher der Kinder sind nicht die Erfinder pädagogischer Instrumentarien, nicht die Empfehler angeblich optimaler Verhaltensweisen, sonder die uns zum Mitempfinden hinreißenden Darsteller kindlichen Lebens, die uns zwingen, sie zu adoptieren und die Substanz an Liebe, die ihre wörtliche Existenz in uns Lesern sich ansammeln läßt, zu verwenden auf jedes Kind, das unseren Weg kreuzt. Sie, die Kunstmacher, sind die Prediger in der Wüste."

Ziebarth nennt und beschreibt in ihrem Essay einige literarische Kinderfiguren*, mir selbst fallen weitere ein, ich kenne die Wirkung solcher Erzählungen, sie ist meines Erachtens nicht hoch genug zu schätzen. (Im Übrigen betrifft das nicht nur die Schilderung kindlicher, sondern allgemein menschlicher Schicksale.) In der Buchhandlung stehe ich immer mal wieder vor der Situation, dass ein Erziehungsratgeber gesucht wird (aus einer schier unglaublichen Masse, von der nur ein Bruchteil als brauchbar zu bezeichnen ist) und ich am liebsten empfehlen würde, stattdessen Romane zu lesen, Geschichten über Kinder, keine Appelle, sondern reine Schilderungen, aus den von Ursula Ziebarth genannten Gründen. Manchmal tue ich's .

* Folgende Beispiele für "Geschriebene Kinder" erwähnt Ursula Ziebarth in ihrem Text:
- Rudyard Kipling, Kim
- Jules Romain, Am 6. Oktober
- Jules Renard, Poil de carotte
- Robert Walser, Der Gehülfe
- Martin Anderson-Nexö, Ditte Menschenkind
- Charles Dickens, Oliver Twist und David Copperfield
- Bernward Vesper, Die Reise

Mittwoch, 17. Oktober 2012

Herbst

Herbst. Die Lust zu streunen unterm Laubteppich begraben, doch nur für die Voyeure, nicht fürs Selbst, denn das will weiter, immer weiter und bahnt den Weg im Stillen. Es gräbt sich tief hinein in einen Tunnel aus noch sommerwarmer Luft und fahlem Braun, aus praller Frucht und Fäulnis. Es wirft sich rücklings ins dampfende Blut und suhlt sich im Erinnern, legt dort die Hände in den Schoß und schöpft aus seiner eigenen Brandung. Aus seinen Wimpern rieselt Salz, mit dem reibt es die wunden Füße ein. Die werden bald schon wieder Schritte setzen in die Welt, das hofft es, aber jetzt, jetzt steht das Haus bereit, schluckt jeglichen Impuls und birgt in seinen Mauern einen Kosmos aus Erlebtem. Dies wird zur Haltbarmachung auf Papier gesetzt, in Ohren gegossen, zu Teilen fest in Schweigen gewickelt. All die gesammelten Schätze ---
Herbst. Die Lust zu streunen ruht in Gläsern auf dem höchsten Bord, und ein ketzerischer Gedanke entlässt sie Nacht für Nacht mit einem leisen Plopp schon vor der Zeit.

Freitag, 12. Oktober 2012

Da ist ...

... ausnahmsweise mal Nichts. Oft herbeigesehnt, und nun weiß ich nichts damit anzufangen. Selbst das will also gelernt sein.  
Bin dann mal Nichts üben. Werde vielleicht nichts darüber (zu) berichten (haben). Aber das macht sicher nichts.

Dienstag, 9. Oktober 2012

Lose Naht

Einzigarten 
haltbar vernäht
durch losen
Zwischenraum
stolpern sie sich
in die Arme
ungezählte Zeit
ihr Hingabereich
im Rücken der geheime
einzelbewohnte Ort
bis zuletzt

Sonntag, 7. Oktober 2012

Trakl lesen oder Es kichert unterm Verfall

Herbst, lose Zeit
Licht faltet Schatten
Wind atmet Flug
Wald säumt(*) das Streben
das Sterben

Nichts pulst so schön wie das Fremde
neidlos besehn

Einmal die Hand in ein Raunen getaucht
wirst du gepflückt
Zeit, loser Frühling
dort welkt dein Ach
und/oder/aber
ob du's glaubst oder nicht:

Es kichert unterm Verfall(**)


Ich empfehle, den Blick auszuwerfen und ihn neidlos aufs Fremde zu heften:

(*) das wunderbare Lyrikblog Waldsaum der Fremdlingin
(**) Georg Trakl im Allgemeinen und sein Gedicht Verfall im Besonderen

Freitag, 5. Oktober 2012

Carol Birch: Der Atem der Welt

"Ich wurde zwei mal geboren. Das erste Mal in einem Zimmer aus Holz, das über das schwarze Wasser der Themse ragte; das zweite Mal acht Jahre später auf dem Highway, als der Tiger mich in sein Maul nahm und eigentlich alles erst richtig begann."

So muss ein Buch anfangen! Nicht jedes natürlich, das wäre langweilig, immer nur Abenteuerromane, immer nur viktorianisches England, immer nur Meer und Schiffsreise, immer nur Geschichte einer Freundschaft - das geht nicht, das genügt nicht. Nein? Warum ziehen mich solche Bücher so magisch an? Wohnt ihnen nicht alles inne, was ein Leben von seinem Anfang bis zu seinem Ende bestimmt? Warum ist es mir völlig gleich, ob sie von einem Mann oder einer Frau geschrieben sind, ob die Protagonisten/ Helden männlich oder weiblich sind? Warum kann ich mich mit ihnen geschlechtsunabhängig identifizieren? Dass es so ist, weiß ich, und das ist es seit jeher. Aber warum? Und warum frage ich mich das, ist es von Bedeutung?
Ich sammle noch. Keine Antworten, sondern Fragen, stoße ich auf die richtigen, ergeben sich erstere sowieso aus letzteren, mühelos.
Ich greife hier nicht an, sondern auf und bewege mich in einer Gültigkeit (und auf eine solche zu), die keine allgemeine ist (vermutlich), aber Teil einer allgemeinen Gültigkeit, wie ich selbst Teil einer Allgemeinheit bin. Okay, jetzt wird's uninteressant oder undeutlich (für meine Leser, nicht für mich), ich schweife schweigend weiter.

Zurück zum Buch: Ich lese es gerade und bin begeistert. Für alle, die das viktorianische England lieben, das Meer, die Seefahrt und die Gefahr, für die Liebhaber guter (Abenteuer)Geschichten, für die Leser von Antonia S. Byatt ebenso wie die von Charles Dickens und Herman Melville:


oder, wer es lieber im Original mag:

Jamrach's Menagerie

Donnerstag, 4. Oktober 2012

Geht sie

Geht sie statt da hin 
dort hin
folgt sie statt dem Weg
ihren Füßen
glaubt sie statt ans Richtige
ans Mögliche

Dienstag, 2. Oktober 2012

das Nest

Bezieht sie das Bett
putzt sie das Fenster
wischt sie den Boden
lüftet sie den Schrank
leert sie den Papierkorb
gießt sie die Blumen
bereitet sie das Zimmer
gibt sie das Nest nicht auf

Sonntag, 30. September 2012

Leer

Ich kann mich nicht konzentrieren. Durchstöbere meine Blogroll, schaue aus Gewohnheit jeden neuen Beitrag an, überfliege die Zeilen und hängen bleibt - nichts.
Das liegt an diesem seit heute unbewohnten Zimmer, der ganze Tag hängt darin fest; wenn ich ihn hinausscheuchen will, krallt er sich in die Winkel. Ich habe ihm nachgegeben und muss das weiter tun, bis ich schlafen kann.
Oh, wie dramatisch das klingt, das soll es gar nicht. Es ist nur so: Die Wirkung meines Mantras, das sich im Laufe der letzten zwei Monate von "England ist nicht weit" zu "Hamburg ist viel näher als England" gewandelt hatte, ist heute mit dem Schließen der Tür hinter einem großen Kind mit Rollkoffer einfach so verpufft.
Hamburg ist nämlich nicht nah, im Gegenteil, wenn auch tatsächlich näher als England. Aber leider ist mit der geringeren Entfernung nicht gleichzeitig das Zimmer weniger leer. Hätte ich vorher wissen können, weiß ich aber erst seit heute. Und deshalb fängt es jetzt erst richtig an.
Dieser Text ist ein langgezogener Seufzer, der raus musste, vielleicht werden weitere folgen. Wer weiß das schon. Wer kennt sich schon so vorhersagbar genau. Sicher werden ab morgen auch wieder die parallelen Ströme fließen. Vermute ich.
Soviele unbekannte Größen in diesem Abschied.
Gleich kommt "Polizeiruf 110", ein kleiner beruhigender Fixpunkt.

Samstag, 29. September 2012

Blaumachen

Ich war auf dem Spielplatz.

Dieser wurde mal von Karin C. Inderwisch empfohlen, einer von mir sehr geschätzten Bloggerin, die nun neue Wege beschreiten wird. Viel Glück, liebe Karin! Und vielleicht auf ein Wiederlesen.

Freitag, 28. September 2012

Der Tisch wächst

Der Tisch wächst, genau wie das ganze Haus, und macht Platz für ... Nein, nicht für etwas. Im Moment macht er einfach nur Platz. Ich räume die gesamte Fläche frei und betrachte die Spuren im Holz, die von rund 20 Jahren gemeinsamem Essen, Feiern, Arbeiten, Planen und Spielen zeugen. Auch von Streiten und Weinen und Einsamkeit, aber diese Spuren sind weniger sichtbar. Es gibt keine Kuhlen von Faustschlägen oder Ränder von Tränen. Trotzdem haben sich ihm auch solche Ereignisse eingeprägt. 

Zu den sichtbaren Spuren: Dort stand der schneebestäubte Gugelhupf mit der einzelnen roten Kerze, die beim Auspusteversuch mit Ganzkörpereinsatz nicht verlöschte, aber herunterfiel und einen winzigen Brandfleck hinterließ. Hier steckte die - im Anschluss verbogene - Gabel als stolzaufrechtes Zeichen der Gemüseverweigerung. In manchen Ecken finden sich blasse Farbkleckse oder Kugelschreiberspuren, der immer zu kleinen Din-Größe der Papierbögen geschuldet. Über jener Stelle trafen sich einst zwei randvolle Rotweingläser zur klirrenden Versöhnung; es wäre an der Zeit, eine weitere derartige Stelle hinzuzufügen.

Dieser Tisch, an dem ich täglich sitze und esse und schreibe und Gespräche verschiedensten Inhalts führe, über den hinweg ich meine Gedanken aus dem Fenster und wieder zurück schweifen lasse und auf dem neuerdings wiederholt die Karte einer 750 Kilometer entfernten Stadt ausgebreitet liegt, dieser Tisch ist ein Buch. Ich werde mich nicht von ihm trennen können, auch nicht nach weiteren 20 Jahren. Wir teilen ein Stück Geschichte, er teilt sie mir täglich mit.

Mittwoch, 26. September 2012

Ihr eigenes Spiel

Sie war abgeglitten unter eine Hand aus steilen Buchstaben, eine Rasterhand, unter der lag sie nun, bewegungsängstlich und wortscheu, nichts passte. Bis sie paradox intervenierte und den Buchstaben befahl, streng mit ihr ins Gericht zu gehen. Hingegeben erwartete sie den Schlag, der an ihr vorbei von der Hand abfiel, kraftlos, am Boden kreuz-und-querten sich Stäbe zur beliebigen Anordnung. Ein Spiel. Soviel zur Gültigkeit der Buchstaben. Soviel zum über den Menschen geworfenen Gesetz. Sie schüttelte sich. Was sie da geglaubt hatte - am liebsten schwiege sie fortan. Oder erfand ihr eigenes Spiel.

Dienstag, 25. September 2012

Winter's Bone





Ein großartiger Film nach dem Buch von Daniel Woodrell und dieser Vorlage in nichts nachstehend - die gleiche Schönheit der Sprache, die gleichen starken Figuren, die gleiche archaische Wucht.

Buch auf englisch.
Buch auf deutsch.

Samstag, 22. September 2012

Ist alles ihrs

aus weniger ein Meer und tanzt nur noch auf ihrem eigenen Fest
woanders bleibt sie auf den Stühlen, streicht das weiße Leinen glatt, schaut zu
und schaut auch wieder weg
Was sagst du da? Wohin ist deine Neugier?
eingesammelt trag ich sie auf meiner Haut
darüber Kleider aus zwei Schichten, innen glatt und außen rau
darf mich der Spiegel bitten um den nächsten Tanz
ein Reigen um die eigene Relevanz
und pflücke hier und da Ergänzungen
zu meinem Strauß Geschichte
Um dich geht's da?
und mehr verrät sie nicht
ist alles ihrs

Freitag, 21. September 2012

Bist du Gefäß

Da schrieb heute früh einer, dessen Blog ich liebe wegen seiner Einzigartigkeit und das ich Ihnen und Euch deshalb ans Herz lege, schrieb dieser also von den "Vasentieren", und in Kombination mit dem Foto, das er unter seinen Text platzierte, assoziierte ich augenblicklich das Folgende:


Stehst du und weitest dich
stehst still und öffnest dich
machst du dich undurchlässig
hältst du dicht
bist du verlässliches Gefäß
lässt du dich füllen bis zum Rand
dort fließt du über
stehst du still
und bleibst du stumm
spitzt du die Ohren
lässt du ein was kommt
von oben her
lässt du dich füllen bis zum Rand
sinkst du auf deinen Grund
wirst Schlick und Schlamm
was dein ist du bist
sinkt auf deinen dunklen Grund
lässt du nur zu und immerzu
dich füllen
hältst du still
und stumm
bist du gehorsames Gefäß
bist du geschmückt zu Ehren
dessen das dich füllt
bist du solch lauteres Gefäß
kommt über deine Zunge nur
ein Lobpreis dieser Macht 
die dich von oben her
so randvoll füllt
nährst du aus dieser Fülle andere
zum selben Lobpreis
pflanzt du fort und fort
hinaus in alle Welt
du tüchtiges du artiges 
du prächtiges Gefäß


Danke, Andreas Louis Seyerlein, für die Anregung! (Ich glaube auch, dass es eher unglückliche Wesen sein würden, bin mir dabei der Subjektivität meiner Interpretation durchaus bewusst.)