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Freitag, 14. November 2014

in den Arm genommen

Ich werde ziemlich oft auf den Arm genommen. Von Freunden, Kolleginnen, meinen Kindern (denen macht das besonders viel Spaß!). Sie tun das liebend gern und meinen es in der Regel nicht böse. Dass ich so ein geeignetes Opfer bin, liegt nicht daran, dass ich Ironie nicht verstehen würde, sondern vielmehr daran, dass ich grundsätzlich bereit bin, alles zu glauben und für möglich zu halten. Naivität nennt man das. Ich begreife diese Eigenschaft, die sich nicht einfach abschalten lässt, schon lange nicht mehr als Schwäche, sondern als geheime Superkraft. Es ist viel schöner, mit einem Grundvertrauen als mit einem Grundmisstrauen durchs Leben zu gehen. Und abgesehen von den harmlosen Späßen, die man sich mit mir erlaubt, mache ich vor allem positive Erfahrungen mit dieser Haltung, die keine antrainierte, sondern eine angeborene und/oder in frühester Kindheit erworbene ist.

Der Titel dieses Blogposts lautet aber nicht auf, sondern in den Arm genommen.
Und das kam so:

Gestern war ich mal wieder bei meiner Friseurin. Wir kennen uns jetzt ungefähr fünf Jahre. Wenn ich das hochrechne, also circa sechs Friseurbesuche pro Jahr, diese mal fünf genommen, liegen wir bei etwa 30 Begegnungen. Da lernt man sich schon ein wenig kennen. Längst sind wir per du, kennen unseren jeweiligen Beziehungsstatus, wissen Bescheid über die literarischen Vorlieben, bevorzugten Urlaubsziele und politischen Einstellungen und haben schon so manches privat-persönliche Problemchen besprochen. Diese Gespräche, manchmal auch nur sanft plätscherndes Geplauder, gehören zum Rundumwohlfühlkomplex, den so ein Friseurbesuch für mich bedeutet. Zwei bis zweieinhalb Stunden Auszeit, gefüllt mit lauter Wohltaten von Kopfmassage und wohlriechenden Pflegeprodukten über Kaffee mit Bailey's und Gala lesen (wo sonst, wenn nicht hier?) bis hin zum perfekten Schnitt inklusive oben erwähnten Gesprächen. 

Gestern sprachen wir über das Neugeborene ihrer Kollegin, kamen von da auf die Fehlgeburt einer Freundin, die diese zunächst verschwieg, worauf wir zum Thema Tabu schwenkten, Tabuisierung von Krankheit, Tod und Trauer, aber auch anderen Dingen, wie sie zum Beispiel Eltern gerne vor ihren Kindern verbergen, diese aber doch spüren, dass etwas nicht in Ordnung ist und durch das inkongruente Verhalten der Eltern nachhaltig in ihrer (Selbst)Wahrnehmungsfähigkeit gestört werden. Und wie sich das alles fortsetzt durch die Generationen. Das bis heute unüberwundene Kriegstrauma, weitergegeben an die Kinder und an die Enkel. Dann kamen wir vom Verallgemeinernden wieder zum Persönlichen und wie wir das erlebt hatten mit unseren Eltern. Deren Abschottung, ihr Unvermögen, dessen verheerende Auswirkung auf uns als Kinder und so weiter. 

Am Ende empfahl ich ihr das Buch "Isabel & Rocco" von Anna Stothard, einer großartigen jungen britischen Autorin, die zur Zeit, gerade mal dreißigjährig, schon an ihrem vierten Roman schreibt. "Isabel & Rocco" hat sie mit siebzehn geschrieben. Eine Geschwistergeschichte, ein Roman über eine schwierige Eltern-Kind-Beziehung, in der sich die Eltern entziehen bis zum tatsächlichen Verschwinden. Isabel und Rocco, sechzehn und achtzehn Jahre alt, werden sich selbst überlassen, verschmelzen zu einer Einheit, vernachlässigen das Haus und sich selbst, wie sie von den Eltern emotional vernachlässigt wurden. Ganz spannend und klug geschrieben, sehr sinnlich, als Leser riecht und fühlt man regelrecht das Beschriebene, erotisch und ungeheuer einfühlsam.

Ja, so schweife ich hier ab. Zurück:

Am Ende, als ich bezahlte, nahm A., meine Friseurin, mich spontan in den Arm. Wir drückten und hielten uns ein Weilchen, länger als für eine Begrüßungs- oder Abschiedsumarmung üblich. Da steckten viel Wärme und ganze unausgesprochene, aber dennoch deutlich übermittelte Sätze drin: "Das war schön. Es tat gut, mit dir zu reden. Wir wissen umeinander. Danke. Es ist ein Glück, dich zu kennen. Hab es gut. Ich freue mich aufs nächste Mal." Und was wir aussprachen: "Frohe Weihnachten und einen guten Rutsch! Wir sehen uns im neuen Jahr. Ciao, bis dann!" 

Die Nähe und Wärme nahm ich mit. Und dachte darüber nach, wie bedeutend Umarmungen sind und wie unterschiedlich in ihrer Aussage:

Die Umarmung der Kollegin am ersten Arbeitstag nach meinem Urlaub: "Schön, dass du wieder da bist!" "Hab ich euch gefehlt oder seid ihr auch ohne mich klargekommen?" "Natürlich sind wir ohne dich klargekommen, ..." "Na toll!" "... aber mit dir ist es schöner." ":-)"

Die Umarmung der fernen Freundin beim Wiedersehen: "Ich freu mich so, hab dich total vermisst, wir müssen uns ALLES erzählen."

Die spontane Umarmung eines noch nahezu Fremden bei Feststellung eines inneren Gleichklangs: "Hey du, das ist schön grade mit dir. Bin froh, dass wir uns begegnet sind."

Die Umarmung des Expartners (was für eine leere und unangemessen versachlichende Worthülse für 25 Jahre voller Höhen und Tiefen): "Gut, dass es dich gibt. Es war ganz schön hart die letzten Jahre. Bin so froh, dass das wieder geht, dieses Umarmen, dieser freundschaftliche Umgang. Und ein bisschen traurig ist es auch. Immer noch, nicht wahr? Eine Beziehung lässt sich nicht beenden, nie. Sie verändert sich nur, und wenn man Glück hat und sich Mühe gibt, lässt sie sich noch positiv gestalten. Danke für dich und dafür, dass ich das wieder sagen/denken/fühlen kann."

Die Umarmung der ausgeflogenen Kinder: "Du. Mein Kind. Auf immer."

Allen gemeinsam: Die menschliche Nähe, der Ausdruck herzlicher Verbundenheit.

12 Kommentare:

  1. Das ist anders, das ist nicht beim Schreiben von Dir absehen.
    Interessant die Schilderung der Naivität. Wie bei mir.
    Umarmungen lassen mich ersteifen, wenn sie von nicht mir nahen Menschen kommen- das gibt dann diese großen Dreiecke - oben leicht zusammen, unten sehr weit auseinander. Es ist nicht so einfach! Bei Dir liest es sich davon gut!

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    1. Ich hab über dieses von mir absehen noch viel nachgedacht, vielleicht wird da noch ein Blogpost draus.
      Ich kann das gut nachvollziehen mit den Umarmungen bei dir. Ich war da auch lange nicht wirklich frei. Und bis heute geht Umarmen unter bestimmten Voraussetzungen gar nicht, z.B. wenn mein Gegenüber (stark) alkoholisiert ist. Aber wenn ich mich wohl und innerlich nah mit jemandem fühle, finde ich Umarmungen sehr schön.

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  2. Ja, mit dieser Naivität sitzen wir in einem Boot. Ich werd sie auch nie verlieren, das ist nun nach einem langen Leben schon klar. Ich bin immer fassungslos, wenn jemand sagt "!Das glaub ich Dir nicht!" Ich glaube immer alles, was man mir erzählt, warum sollte man mich belügen? Nur den Medien glaube ich oft nicht. Danke für eine Umarmung mit diesem Text. <3

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    1. Geht mir genauso mit dieser Fassungslosigkeit, wenn mir jemand nicht glaubt.
      Umarmung für dich! <3 (und die Bewertungen vergesse ich nicht! :-))

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  3. ... ein wunderschöner vielschichtiger text über das "umarmen", danke!

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  4. das ist ein wunderschöner text. ich fühle mich jetzt selbst ein wenig umarmt.

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    1. Danke, das freut mich sehr, wenn der Text übers bloße Erzählen hinaus so wirkt.

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  5. Da geht es mir wie der muetzenfalterin.
    Dieser Text gibt auch mir das Gefühl umarmt worden zu sein.
    Er ist, im wahrsten Wortsinne, berührend.

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    1. Wie schön, danke! Es freut mich wirklich, mit meinem Text offenbar eine Umarmung weitergegeben zu haben.

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  6. Ja, das hast Du. Dank! Und ich würde Dich auch sehr gern mal wieder in echt umarmen. Deine leichtgläubige FrauFrog aus Hamburg

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  7. Oh ja, meine liebe Frau Frog, mal wieder eine Umarmung in echt wäre schön. Dieses Jahr wird es wohl nichts mehr. Aber so bald wie möglich im nächsten! <3

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