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Donnerstag, 2. Januar 2014

Hör zu! (eine Kindergeschichte)

Zum Einstand ins neue (Schreib)Jahr habe ich eine alte Geschichte von mir herausgekramt, geschrieben vor ca. fünf Jahren, eine Kindergeschichte, angelehnt an reale Erinnerungen, ein wenig ausgeschmückt ... Ich mag sie. Lest selbst:

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Hör zu!

Wenn Tante Anneliese heute zu Besuch kommt, wird es vermutlich so ablaufen wie all die Male zuvor: Sie wird sich auf dich und deine Brüder stürzen, noch während sie ihren Mantel und ihre vielversprechend ausgebeulte Tasche eurer Mutter in die Hände drückt. Sie wird ihre Arme um euch schlingen und euch an ihren monumentalen Busen pressen.
Da ihr Tobi immer in eure Mitte nehmt, wirst du wieder unter einer ihrer Achseln landen, eingeklemmt zwischen Brust und Oberarm. Dir wird auch diesmal kurz die Luft wegbleiben, bis sie euch endlich wieder von sich schiebt, euch nach wie vor am ausgestreckten Arm festhaltend, um euch einer eingehenden Musterung zu unterziehen.


Im Hintergrund wird nun eure Mutter beschwörend die Augen aufreißen und mahnend einen Zeigefinger senkrecht in die Luft strecken, während euer Vater Grimassen schneiden und euch aufmunternd zublinzeln wird. Er ist euer Verbündeter und kann Mutters ältere Schwester ebenso wenig leiden wie ihr.
Klaus wird wie immer am besten wegkommen. Denn ganz gleich, wo ihr euch rumtreibt und welche Abenteuer ihr zu bestehen habt, er bleibt stets staubfrei und fleckenlos. Wie er das schafft, ist dir ein Rätsel.
Tobi, der Dreckspatz wird ein entzücktes Lächeln und ein liebevolles Haarezerstrubbeln ernten. Er ist und bleibt Tante Annelieses "süßer kleiner Racker".
Zum Schluss wird ihr Blick an dir hängen bleiben, und so, wie er an dir auf und ab wandert, wird er dir die gefahrvollen Unternehmungen des Vormittags in Erinnerung rufen:

Als Klaus in der Ferne die Feinde erspähte, stürztet ihr euch ins Gebüsch. Die Folge: eine zerrissene Strumpfhose und eine tiefe Schramme am Schienbein.
Atemlos kämpftet ihr euch durchs Dickicht: Dornen in der Haut, kleine Zweige in den Haaren und ein Triangel in der Bluse.
Eine halbe Stunde lang harrtet ihr aus, die Gesichter in die Brombeeren gedrückt: ein Kratzer quer über Nase und Wange, schwarze Flecken um den Mund und Spinnweben im Haar.
Schließlich war die Gefahr vorüber und ihr konntet weiter eures Weges ziehen, immer auf der Hut vor Feinden und auf der Suche nach einem Stück Land mit einer Wasserstelle.


Und so wie jedesmal wird Tante Anneliese das Unfassbare tun, etwas, das in ungeheuerlicher Weise die Strapazen missachtet, die ihr auf euch genommen habt, um für eure Familien eine neue, sichere Heimat zu finden: Sie wird auf ihren Daumen spucken, einen ekligen Spuckesee voller kleiner Bläschen und wird, während sie mit der anderen Hand dein Kinn umklammert hält, in deinem Gesicht herumwischen, bis sie mit dem Ergebnis zufrieden ist. Wenn sie endlich fertig ist mit ihrer Säuberungsaktion, wird sie sagen: "Marion, mein Spatz, bring mir doch bitte ein Glas Holunderbeerlimonade!" Zwinkernd wird sie hinzufügen: "Und dann wollen wir mal schauen, ob ich euch etwas Schönes mitgebracht habe."

Deine Brüder werden "Au ja!" rufen und Tante Anneliese voraus ins Wohnzimmer stürmen.
Euer Vater wird sich aus Solidarität zu dir an den Hals fassen, die Augen verdrehen und ein würgendes Geräusch machen. Daraufhin wird eure Mutter den Kopf schütteln und ihm auf den Fuß treten. 


Du wirst in die Küche laufen mit Wut im Bauch und Ekel in der Kehle. Du wirst ein hohes Glas aus dem Schrank angeln. Du wirst es mit Mineralwasser aus dem Kühlschrank füllen. Dann wirst du einen Schuss Holunderbeerensirup hineingeben.
Während du vorsichtig mit einem langstieligen Löffel umrührst, wirst du die Schlieren und Spiralen bewundern, die der dunkelviolette Sirup durchs Wasser zieht, das Fallen und Aufsteigen, das Verblassen bis die gesamte Flüssigkeit eine einheitliche Farbe aufweist.
Du wirst daran schnuppern, die Augen schließen und das Prickeln der Kohlesäurebläschen an deiner Nasenspitze spüren.
Dir wird das Wasser im Mund zusammenlaufen, und nun - nun wirst du folgendes tun:

Du wirst in deinem Mund die Spucke sammeln. Sauge dazu die Wangen etwas ein, spiele mit der Zunge herum, du wirst sehn, es ist ganz leicht, im Nu hast du eine ordentliche Menge Speichel gesammelt. Und diesen wirst du nun sachte, sachte - du willst ja nicht, dass etwas daneben geht - in Tante Annelieses Glas tropfen lassen.
Dann wirst du dir mit dem Handrücken über den Mund wischen, dein freundlichstes Lächeln auflegen und nochmal ein wenig im Glas herumrühren.

Und während du Tante Anneliese die Limonade reichst, wirst du daran denken, wie du nach dem Mittagessen mit deinen Brüdern in den Garten geschickt werden wirst, damit die Erwachsenen in Ruhe ihren Kaffee trinken und sich über Dinge unterhalten können, die "nichts für euch sind", und wie du Klaus und Tobi dort hinterm Brombeerbusch vom besten Ereignis des Tages berichten wirst.

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