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Donnerstag, 16. Mai 2013

Übungen und einfache Dinge (nach dem Traum 10)

"Sie wirbelte herum, die Hand mit dem Messer in Schulterhöhe, bereit zum Verteidigungsstoß. Doch im Zwielicht konnte sie seine Position nicht deutlich ausmachen. Genau die Lichtverhältnisse, die er liebte. Dass er es gewesen war in seinem schwarzen Talar, bezweifelte sie keinen Augenblick. Niemand sonst war in der Lage, mit einer einzigen kurzen Berührung einen derartigen Kältestoß durch ihren Körper zu jagen. Dort, wo sein Finger auf ihre Schulter getippt hatte, ertastete sie ein kleines rundes Mal mit scharfen Rändern. Eisverbranntes Gewebe. Sie würde es herausschneiden müssen. Wieder einmal. Doch die Narben störten sie längst nicht mehr. Die waren der Preis, den ihre Auswilderung kostete. Er glaubte vermutlich, dieser Preis sei ihr zu hoch, sie würde ihn irgendwann nicht mehr zahlen wollen. Aber da kannte er sie schlecht ..."

Als ich aus dem Traum hochschrecke, siehst du mich an, als seist du dabeigewesen und habest die Szene genau beobachtet. 
"Es war nur ein Traum", platze ich sofort heraus, wie zur Verteidigung.
"Es war eine Übung", erwiderst du, und versetzt mich damit zum wiederholten Male in Erstaunen.

Seit ich dir versprochen habe, mehr von den Hütern zu erzählen, verfolgen sie mich im Traum. Aber anstatt ängstlich zu fliehen, setze ich mich dort zur Wehr. Das heißt, sie setzt sich zur Wehr. Denn ich träume von mir als einer dritten Person, einer, die zwar offensichtlich ich bin, aber herausgenommen aus mir, wie um mir die unschuldige Rolle einer Zuschauerin zu überlassen, die wählen kann, ob sie hin- oder wegsieht, ob sie gut oder schlecht findet, ob sie sich gar ein Beispiel nimmt.
Jedesmal erwache ich mit einem schlechten Gewissen aus diesen Träumen. Noch habe ich niemanden verletzt oder getötet, aber die Absicht, es im Notfall zu tun, hege ich zweifelsfrei. Ich trage stets ein Messer bei mir und scheine nicht nur mich, sondern auch meinen Platz verteidigen zu wollen. Einen frei gewählten Platz, den zu räumen ich nicht bereit bin.

Manchmal beobachtest du mich im Schlaf, so wie eben. Wenn ich das bemerke, versuche ich sogleich, meine geträumten Absichten zu relativieren. Ich schäme mich vor dir für meine Gewaltphantasien, die ich mir im Wachzustand niemals erlauben würde.
Doch du sagst dann Dinge wie "Es war eine Übung" oder "Dies ist erst der Anfang". Und ich verstehe nicht, bist du doch selbst der friedfertigste Mensch, der einzige. Aber deine Hand, die sich beschwichtigend auf meine Schulter legt, sagt mir, dass ich gar nicht verstehen muss. Dass es einen anderen Weg des Begreifens gibt.

"Können wir jetzt bitte Fische fangen und Kräuter sammeln? Können wir auf den Baum klettern und die höchsten Früchte pflücken? Dann ein Mahl zubereiten und essen? Können wir anschließend im Fluss baden? Uns danach zueinander legen und uns lieben, bis wir rundum satt sind? Und wenn wir genug haben, die Sonne verabschieden und den Mond und die Sterne begrüßen? Können wir all diese einfachen Dinge tun?"

"Natürlich", sagst du, "genau darum geht es doch."

 *

 Woran mich ihr Verteidigungstraum erinnert: Tirade.

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