Die kleine Hexe ist ein wenig naiv. Und daran wird sich auch in weiteren 183 Lebensjahren nichts ändern. Jedenfalls ist dies schwer anzunehmen. Nicht, weil sie nicht lernfähig wäre, nein, sondern weil sie festhält an ihrer Naivität. Deretwegen wurde sie schon mit den verschiedensten Bezeichnungen belegt, als da wären dummes Gör oder Anarchistin oder Guthexin, um nur einige wenige zu nennen. Lauter Begriffe, über die sie sich jeweils ins Fäustchen lacht, beweisen sie doch vor allem die Verlegenheit ihrer Widersacher. Aber nicht aus Bosheit lacht sie, nein, sondern aus diebischer Freude, weil sie es nämlich besser weiß und sich einfach still dem Buchstaben widersetzt und schon lange nicht mehr mit der Welt hadert, wenn sie missverstanden wird.
Atuell ist sie damit beschäftigt, an ihrer 1957 erschienenen Autobiografie ein paar längst überfällige Änderungen vorzunehmen. Es treibt ihr die Schamesröte ins Gesicht, wenn sie daran denkt, über wie viele Jahre sie sich durch ihren besten Freund, den Raben Abraxas davon hat abhalten lassen. Vor den anderen Hexen hat er sie gewarnt, vor allem vor der Wetterhexe Rumpumpel, die sie Tag und Nacht beschattet, um nur ja nichts zu verpassen, das sich bei der Oberhexe petzten ließe. Ob sie nicht schon genug Ärger gehabt hätte, ob sie nicht einfach mal ein gemütlich-beschauliches Leben ohne ständige Auseinandersetzungen führen könnten, hat Abraxas immer wieder insistiert.
Aber schließlich hat sie sich nicht mehr abbringen lassen von ihrem Vorhaben. Seit einigen Wochen sitzt sie nun über dem Buch und wägt ab. Der Inhalt soll ja nicht verfälscht werden. Aber was genau ist der Inhalt? Sind es die Wörter, ist es die Geschichte, ist es deren Botschaft? Sie diskutiert mit Abraxas, der sich endlich ergeben hat und nun zum hilfreichen Mitdenker wird. Sie überlegen, dass die Wörter als Gefäß dienen, das die Geschichte transportiert. Das Gefäß ist das, was zuerst ins Auge fällt, worauf sich der Blick aber nicht konzentrieren soll, schließlich geht es um den Inhalt, also die Geschichte und/ oder deren Botschaft. Nicht wahr? So fragen sie sich.
Aber die Wörter sind so schön, seufzt Abraxas immer wieder. Was die kleine Hexe zu resolutem Widerspruch treibt. Sie sind nicht schön, ruft sie, sie sind nicht einmal wahr, und überhaupt, es sind doch nur so wenige, die wir ersetzen, das tut der Gesamtschönheit doch keinen Abbruch, im Gegenteil. Aber du selbst hast sie doch damals ausgewählt und aufgeschrieben. So leicht lässt Abraxas sich nicht überzeugen. Ja, das habe ich, gibt die kleine Hexe zu, und weißt du, warum? Weil ich schon immer naiv war. Aber naiv zu sein bedeutet nicht, zu keiner Einsicht fähig zu sein. Naiv zu sein heißt nicht, stur zu sein. So wie du es bist, Abraxas, fügt sie mit einem Zwinkern hinzu.
Es ist kein leichtes Unterfangen, und im großen Hexenbuch findet sich kein einziges Rezept, das sich in diesem Fall anwenden ließe. Die kleine Hexe schwitzt, und Abraxas rauft sich die Federn. Tag und Nacht arbeiten sie, bis sie endlich zu einem Ergebnis kommen. Es ist ein Kompromiss, meint die kleine Hexe. Aber ist es auch das Richtige?, fragt Abraxas. Das weiß ich nicht, sagt die kleine Hexe, kommt wohl drauf an, von welchem Standpunkt aus man es betrachtet. Aber es fühlt sich richtig an, weil es gut ist. Glaube ich.
Du bist so naiv, sagt Abraxas. Ja, sagt die kleine Hexe und lacht sich mal wieder ins Fäustchen.
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Ich habe in der ganzen Sache (noch) keine endgültige Position für mich gefunden. Die kleine Hexe war mein Lieblingskinderbuch, ich konnte mich sehr gut mit ihr identifizieren, kann das eigentlich bis heute. Es hat etwas mit ihrer Naivität zu tun und dem Wunsch, Gutes zu tun, fernab von moralischen Vorstellungen und auch fernab vom Wunsch nach Lohn oder Ruhm.
Gerade weil dieses Buch zu meinen Lieblingen zählt und ich die Geschichte nach wie vor wunderbar finde, befürworte ich die minimalen Veränderungen, die nichts am Sinn der Geschichte verändern. Ich halte es aber auch für gut und wichtig, die Ursprungsversion zu erhalten sowie den gesamten Vorgang der Umschreibung, diesen vielleicht auch im Deutschunterricht zum Thema zu machen.
Insgesamt bin ich für eine Prüfung im Einzelfall, wie das ja bisher geschieht. Die Vorgehensweise des Thienemann-Verlags empfinde ich jedenfalls als sehr sensibel und behutsam. Hier seine
Stellungnahme.
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Unter den vielen Artikeln zum Thema im Netz gefallen mir vor allem jene, die in einem persönlichen, undogmatischen Ton gehalten sind. Es gibt da ein paar wenige, die sich mir trotz ihrer gegensätzlichen Positionen grundsätzlich erschließen und mein eigenes Weiterdenken so zwar nicht vereinfachen, ihm aber dienen.
Aktuelle Beispiele u.a.
bei Alban Nikolai Herbst (wo sich allerdings für meinen Geschmack der Kommentarthread zu weit vom Thema entfernt bzw. dieses zu sehr ausdehnt)