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Mittwoch, 2. Mai 2012

Der Schrei

Er stand am Fenster und presste seinen weit aufgerissenen Mund gegen die Scheibe. Die da draußen würden ihn sowieso nicht hören, deshalb schrie er lautlos. Einer sah zu ihm hin und deutete mit dem Finger, weitere Blicke folgten, es wurden mehr und mehr. Sie steckten die Köpfe zusammen, sicher berieten sie sich. Er hielt die Pose, ließ gegen das Glas strömen, was einer unerschöpflichen Quelle zu entspringen schien. 
Dann tat sich etwas da draußen, Bewegung kam in die Menge, sie drehten ihm den Rücken zu. Kurz darauf wandten sie sich wieder um und hielten einen Bogen Papier in die Höhe, darauf eine Ziffer mit sieben oder acht Nullen dahinter. Es war absurd. Diese Verrückten! Und sie liefen frei herum, während er eingesperrt war.
Er zog den Vorhang zu und ließ sich der Länge nach aufs Bett fallen. Dort drehte er sich zur Wand und legte einen Finger auf die Stelle, von der er Tapete und Putz abgekratzt hatte. Sie hatte die Form und den Umfang seines geöffneten Mundes. Hin und wieder leckte er einen Tropfen Blut vom Mauerwerk.

***

Wegen besorgter Nachfragen hier noch eine nachgereichte Erklärung: Anlass für diesen Text ist die aktuelle Versteigerung von Edvard Munchs "Der Schrei". Vermutlich wird dieses Bild wie einige andere Kunstwerke einen absurd hohen Preis erzielen. Meine Meinung dazu ist, dass kein Geld einem Kunstwerk gerecht wird, keine Summe seinen Wert spiegelt. Um nicht missverstanden zu werden: Natürlich soll ein Künstler seinen "Lohn" erhalten, ruhig auch hohe bis höchste Summen. Aber das Kunstwerk selbst muss gesehen werden können, frei und von vielen, ist doch Betrachtung/ Wahrnehmung das einzige, wodurch es wirklich gewürdigt wird. Als Handels- und Prestigeobjekt büßt es seinen Sinn ein.

2 Kommentare:

  1. Welch geniale Idee! Das mit dem blutendem Mauerwerk mache auch manchmal. Aber man kann auch darin verschwinden. Grüsse an Edvard Munch.

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    1. Danke! Ich hab das als Kind viel gemacht, bin zum Glück nicht verschwunden. LG, Iris

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