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Donnerstag, 29. Mai 2014

Pure Alchemie

... 

Wie sie ihr Haar ins Abendlicht wirft. 
Geschenk einer vertrauten Bewegung.
Sein Blick folgt dem Schwung aus Silber, Zwilling des fernen Horizonts.
Ihre letzte gemeinsame Fahrt steht bevor. 

Was sie zurückgelassen haben: die abgewetzten Klingen.
Was sie im Begriff sind zu vergessen: das Blut in den Schuhen.
Sie haben die Segel gesetzt und warten auf ablandigen Wind. 
Der wird ihre Müdigkeit wegblasen, hinaus in den großen Schlaf. 

Wie sanft sich das Wasserlaken kräuselt. 
Gleich wird es von der Hand der Gezeiten zurückgeschlagen. 
Dann greift er noch einmal in ihr Haar. 
Dann sucht sie noch einmal seinen Blick.
Der Rest ist pure Alchemie.

... 


                     
(Vielleicht ist es nie so. Dann wäre genau das meine Motivation.)

Sonntag, 25. Mai 2014

Spiegel (Loses Blatt #74)

Ein weißes Blatt Papier ist der bessere Spiegel.

Freitag, 23. Mai 2014

Margriet de Moor

Mein Exemplar des Romans "Erst grau dann weiß dann blau" von Margriet de Moor, den ich mir 1993 sofort bei Erscheinen kaufte und den ich bereits mehrere Male gelesen habe, der zu den für mich persönlich wichtigsten 10 Büchern gehört, dieser Roman, also mein Exemplar davon, trägt seit Mittwoch Abend auf dem ersten Blatt, gerahmt von meinen Initialen und einer von mir notierten Seitenzahl, das vorgestrige Datum und den Namen der Autorin, handschriftlich mit Füller von ihr eingetragen. Ich bedankte mich bei ihr für die wundervolle Lesung aus ihrem aktuellen Roman "Mélodie d'amour" und sagte ihr, dass mir ihr erster Roman sehr viel bedeutet hat. Dass er mir anteilig Lebensretter war, mir half, meine Integrität wiederzuerlangen bzw. das Recht, um sie zu kämpfen, das sagte ich natürlich nicht. Zuviel Pathos, vor allem für diesen kurzen zur Verfügung stehenden Moment innerhalb einer Schlange von Menschen, die mit einem Buch in der Hand darauf warten, ebenfalls einen kurzen Moment der Zweisamkeit mit der Autorin zu erleben. Für einen Blick in freundliche blaue Augen, einen kurzen Austausch über einen Tisch hinweg. "Was soll ich schreiben?" - "Einfach für ..." - "Gerne. Danke für Ihr Kommen." - "Danke. Vielen Dank."

"Wen wird es stören, daß ich zwischendurch auf eine Landschaft schaue, die niemand außer mir kennt, und mir Dinge ins Gedächtnis rufe, an die zu denken angenehm ist, stolze, barbarische, persönliche Dinge, die ich nie, mit wem auch immer, teilen können werde ..."
Dieser Satz steht auf der Seite, die ich mir vor etwa zwanzig Jahren vorne im Buch notiert habe. Es ist mein Lieblingssatz, zugleich Essenz des Romans. Für mich.
Magda, die Hauptperson verschwindet eines Tages, ohne ihrem Mann oder dem befreundeten Ehepaar eine Nachricht zu hinterlassen. Sie spürte schon lange, 
"daß sich ganz in der Nähe des Lebens, in dem man zufällig gelandet ist, ein anderes befindet, das man seelenruhig genauso gut hätte führen können."
Zwei Jahre lang ist sie unterwegs. Zwei Jahre intensiven Lebens und Erlebens, in denen wir als Leserinnen sie begleiten. Dann kehrt sie zurück, so unauffällig, wie sie verschwunden ist, und nimmt ihr altes Leben wieder auf, als sei nichts gewesen. Kein Wort erzählt sie über die Zeit ihres Fortseins, niemand erfährt etwas. Schwer auszuhalten vor allem für Robert, ihren Mann, schwer bis zur Unerträglichkeit. 
Und das bleibt auch für uns Leser, die wir Magdas Reise ja miterleben durften, ein Geheimnis: Warum sie so gar nichts erzählen will und kann. Ein Geheimnis, das vielleicht ein wenig erklärt wird durch die oben zitierte Textstelle. Es sind Gedanken, die Magda auf der Rückreise, kurz vor der Ankunft durch den Kopf gehen. Verständlich, dennoch ein Rätsel, letztlich unlösbar. 
Was für ein Geschenk, wenn ein Buch seine Leserin mit einer offenen Frage zurücklässt. Einer Frage, die über das eigentliche Romangeschehen hinausgeht. Wie eine im Innern geöffnete Tür in ein fremdes Draußen. Aber immerhin: eine Öffnung, ein Draußen!


Also wirklich, jetzt schreibe ich statt über den neuen Roman von Margriet de Moor, der schließlich Gegenstand der Lesung war, über ihren ersten. Und statt den aktuellen signieren zu lassen, hielt ich ihr das alte Buch mit dem halbzerfledderten Umschlag hin. :-)
Ich habe den neuen Roman noch nicht gelesen, das werde ich jetzt tun. Margriet de Moor hat große Teile aus dem ersten Abschnitt vorgelesen. Das Gehörte gefiel mir gut. Ich mag ihre Art zu formulieren, zurückhaltend, auf den Punkt, mit leisem Humor. Übrigens spricht sie perfekt Deutsch, erzählte auch, dass es in ihrer Kindheit noch üblich war, dass an niederländischen Volksschulen die drei Fremdsprachen Englisch, Französisch und Deutsch unterrichtet wurden, und dass ihr Vater, selbst Schulleiter, das Deutsche liebte und es in ihrer Familie nicht die sonst verbreiteten Vorbehalte gab. 

Margriet de Moors Romane sind auch und im Grunde musikalische Kompositionen. Beim aktuellen Buch vergleicht sie die Handlungs- und Erzähltempi der vier Teile mit Musiktempi wie Allegro, Andante, Presto ... 
Stark spürbar war dieses musikalisch-kompositorische übrigens auch in "Sturmflut", der Geschichte zweier Schwestern, die einen Abend lang die Rollen tauschen, ein Spiel mit dramatischen Folgen, denn es ist das Datum der großen Flutkatastrophe 1953, bei der fast 2000 Menschen ums Leben kamen. In gegenläufigem Tempo werden dann das kurze, auf letzte 36 Stunden beschränkte Leben der einen Schwester und das lange, bis zum 85. Lebensjahr fortdauernde der anderen erzählt. Für mich neben "Erst grau dann weiß dann blau" der stärkste Roman de Moors.

Und nun "Mélodie d'amour" - Liebeslied. Ein Roman, der aus vier für sich stehenden Erzählungen besteht, lose miteinander verknüpft durch die Personen, die in einem Teil eine Hauptrolle, in einem anderen Teil eine Nebenrolle spielen. Gelesen hat die Autorin aus der ersten Erzählung. In der geht es um Gustaaf und Atie, seine Frau, die er noch immer innig liebt, obwohl er sie einst betrogen hat. Die Erzählung beginnt mit Aties Tod und beschreibt dann im weiteren rückblickend Szenen aus der Ehe der beiden, ihr tatsächlich vorhandenes Glück, Momente der Zärtlichkeit und Verbundenheit, das Nachdenken über die langsame Veränderung des körperlichen Begehrens, über Krankheit, Untreue, Duldung, das Kippen an einem nicht wirklich bestimmbaren Punkt ... Es ist ein Roman über die Liebe in ihren verschiedenen Spielarten und als Kraft, die sowohl beglückend und heilsam als auch verstörend und zerstörend sein kann.

Margriet de Moor bezauberte am Mittwoch Abend ihr Publikum. Mit ihrer Stimme, dem liebenswerten holländischen Akzent. Mit der Art, wie sie sich irgendwie tänzelnd zwischen dem Zweiertisch auf dem Podium und dem Stehpult, an dem sie las, bewegte. Im Gespräch mit Bettina Schulte, Redakteurin der Badischen Zeitung, die den Abend moderierte und der sie ständig widersprach oder die Antwort verweigerte. Statt sich auf Bewertungen einzulassen ("das ist doch ein Glück; das ist böse; ... das ist sowas wie ein Omen; ... ") oder auf Fragen einzugehen ("Warum reagiert er/ sie so? ... War das der Punkt, an dem es kippte? ..."), erwidert de Moor Dinge wie: "Es ist nicht gut oder schlecht oder ein Zeichen, es ist einfach." oder: "Das weiß ich auch nicht. Ich kann nur vermuten; ich glaube es ist so und so". Sie ist all ihren Figuren innig zugeneigt, aber sie gibt nicht vor, sie bis ins Innerste zu kennen. Das fällt mir in all ihren Büchern auf: Die Integrität, die sie den Figuren verleiht, indem sie eine Grenze des Respekts zieht und nicht jeden Seelenwinkel grell ausleuchtet. 
Desweiteren spricht sie vom Dreiecksverhältnis Autor - Buch - Leser, das ihr gerade in diesem Gespräch wieder so deutlich vor Augen geführt werde. Zwei Jahre lang habe das Buch allein ihr gehört. Nun sei es aus dem Haus wie erwachsene Kinder und mache, was es wolle. Und die Leserschaft dürfe ebenfalls machen, was sie wolle, mit dem Buch. Jede einzelne Leserin dürfe sich Fragen zum Buch stellen und sich diese dann auch selbst beantworten. ... 
So das Erinnerte sinngemäß. Es war ein schöner, lebhafter Abend mit einem vollen, runden Nachklang.

Wer mehr über Margriet de Moor erfahren möchte: Es gibt eine Website, die Wissenswertes zu Biographie, künstlerischem Hintergrund und ihren Büchern bietet. Hier.

Mittwoch, 21. Mai 2014

So, liebe Worte

Der Worte so müde. Vor allem der eigenen. Dabei bin ich gar keine Anhängerin der Überzeugung, es sei längst alles gesagt. Im Gegenteil! Viel zu viel ist gesagt, aber längst nicht alles. Dieses Zuviel hindert mich, bremst mich aus. Bloß nicht noch etwas hinzufügen! Und auf der anderen Seite hängt das Ungesagte in der Luft. Dem nur mit vorsichtiger Annäherung beizukommen ist. Das sich nicht fassen lässt. All das (im Moment noch) Unaussprechliche, das wir mitunter in silbernes Gold zu fassen versuchen. In beredtes Schweigen. Und in sein Gegenteil. Ja, genau. (Ja, wirklich?)

Der Worte so müde, der immergleichen Pointen, der geschliffenen Sätze, die allein durch ihr Oberflächenfunkeln überzeugen. Schaut man genauer, fällt man ins Leere. Bitte keine beschauliche Poesie, keine Schönworterei! Oder nur dann, wenn es passt. Und das tut es, je nachdem, wohin man den Blick lenkt, erstaunlich oft. Denn ein Zitronenfalter auf einer Wildrose ist noch immer kein Kitsch, sondern ein zerbrechlich vollkommenes Geschenk der Natur. Ebenso der Gesang einer Nachtigall, eine hellgrüne Waldlichtung, ein äsendes Reh, ein über Kiesel springender Bach, dessen Wasser im Sonnenlicht glitzert, Gras oder Strand unter den Füßen, ... All dies steht, einmal in Worte gefasst, unter Kitschverdacht.

Der ästhetischen Prüfungen so müde. Der kritischen Blicke, der gelehrten Münder. So müde, so müde, so müde. Finde da mal, unabhängig!, ein einziges aufrichtiges Wort. Ein zugewandtes, aber nicht zugeschnittenes. Finde das mal! Und dann wühlst du, um zu überzeugen, im Schmutz, trägst das Dunkel ans Licht, rührst in Blut und Schweiß, brichst Knochen, schneidest in Fleisch. Denn ehrlich gibt es nur als Tabubruch. Angeblich! Stirb deinen Tod, stirb ihn langsam, das nimmt dir jeder ab. Aber dein (manchmal!) vor Freude glucksendes Leben, das behalt für dich. Da müssen sie kotzen.

Der Schwarzmalerei so müde und der Pastellfarben so müde. Was denn nun? Der Trends so müde, der pseudoklugen Kritiker. Pfeif auf die selbsternannten Gurus und auf jeden, wirklich jeden Hype. Pfeif auch auf die, die dir sagen "Mach dein Ding." Auf die, die sagen "Das hast du gut gemacht" genauso wie auf die, die sagen "Das ist Mist." Pfeif drauf. 

*

Immer wieder, wirklich immer wieder reibe ich mich an denselben Themen, schreibe ich mich in Rage, eine vergleichsweise harmlose Rage allerdings. Gegen den inneren Kritiker ebenso wie gegen die innere Feigheit vor dem äußeren Kritiker. Muss wohl sein.

*

So, liebe Worte, auch wenn ihr vor allem durch Unvollständigkeit und Vorläufigkeit glänzt: Noch einmal kurz umarmen und dann ab ins Freie!

Dienstag, 20. Mai 2014

Lose Blätter - Sammlung (#66 - #73)

-  


- Die Erwartungen steigen und steigen. Schon sind sie mit bloßem Auge kaum noch zu erkennen.

- Unmöglich, im Dunkel der Nacht das beschriebene vom unbeschriebenen Blatt zu unterscheiden.





- Wer wir sind, wenn wir nicht drüber nachdenken. 

- Einmal aus der Luft gegriffen und wieder zurück.


 


- Sich in die eigenen Grenzen schmiegen.

- Darauf warten, dass das Ungezähmte die Zeilenzwischenräume verlässt.


-


- Sich keine Erinnerungen aufzwingen lassen. Hand anlegen an das, was dir gehört.

- Das Ungroßartige wagen.


-


Sonntag, 18. Mai 2014

Status:

Auf der Suche nach einer Möglichkeit, dem allgemeinen (wenn auch subjektiv empfundenen) Zuviel etwas entgegenzusetzen, das weder seine (des Zuviels) Steigerung noch meine Zurücknahme bedeutet ...

Samstag, 17. Mai 2014

Ach Sommer

Ach Sommer
lass mich Beute sein
deines Raubvogellichts
raube mir, Apfelluft,
den zögernden Sinn
stürze mich, Baum,
aus dem Nest
zieh mich, Sonne, empor
zum süßen Kreisen
über Grün, Grün und Grün 
hohe Zeit, Mensch,
dich mit allem zu verbünden
was fliegt


***



zum #frapalymo no 17 

Folgende Wörter stammen aus "Raubvogel süß ist die Luft" von Sarah Kirsch:

Raubvogel
süß
Luft
kreisen
Mensch
Baum
stürzen
Sonne
ziehen
rauben
Licht
fliegen
Sommer

Freitag, 16. Mai 2014

Vogelfrau (Vogelfrau 9)

S T I L L E

Um mich her hochkonzentrierte Geschäftigkeit. Nein, keine Hektik, kein Durcheinander. Sie halten an sich und besprechen sachlich das weitere Vorgehen. Aber ich spüre ihr inneres Vibrieren. Sie wollen wissen, unbedingt. Die Ornithologin ist schon eine Nummer. Ein bisschen verrückt, glaube ich. Als sie kurz allein mit mir im Raum war, hat sie mich auf die Stirn geküsst und mir ins Ohr geflüstert, dass sie ganz sanft sein werde. Sie hat einen irren weißen Haarschopf, dem mit einem Kamm wohl nur schwer beizukommen ist. Trägt knallroten Lippenstift. Der ist schon ein bisschen verwischt, weil sie immer wieder den Zeigefinger auf ihre gekräuselten Lippen legt. Dann halten lustigerweise auch alle anderen inne, so deutlich zeigt ihre Geste, dass sie eine Denkpause braucht.

S T I L L E

Ich habe mich ein wenig verliebt. Wie ich mich immerzu verliebt habe. In Menschen, die minimal abweichen. Und das erklärt doch schon alles, nicht wahr? Denn wer, bitteschön, weicht bei genauerem Hinsehen nicht ab von der Masse? Die ganze Masse ist, in ihren Einzelteilen besehen, ein einziges Abweichen und sich Positionieren auf winzigkleinem Raum, der nur eine einzige Person fasst. Nur dass ich bei manchen genauer hinsehe als bei anderen. Weil sie unmittelbar meinen Instinkt ansprechen. Wie Bluhm und Treuer mit ihrer auffälligen stillen Zugewandtheit. Wie die Ornithologin mit ihrer offensichtlichen Schrägheit. Wobei die, natürlich, auch allen anderen hier auffällt. Da werden überraschte und amüsierte und genervte Blicke getauscht. Da wird auch mal hörbar geseufzt. Mir gefällt's.

S T I L L E

Ihr merkt, ich vibriere selbst ein wenig. Meine Melancholie weicht einer Art gespannter Vorfreude. Und fast könnte ich über meiner Menschenverliebtheit den Ernst der Lage vergessen. Aber keine Sorge, Schwestern, das tue ich nicht. Ich traue den Menschen hier im Raum einiges zu. Versteht, dass sie Zeit brauchen, um das alles zu verdauen! Ich bin in guten Händen. Soeben wird das Sezierbesteck ausgebreitet. Es geht los.

S T I L L E

Donnerstag, 15. Mai 2014

Hühnerstall

Ineinandergestürze
Massenkrakeelerei
auf Höfen und in Ställen
zerfleddert die Zeit
wird der letzte freie Raum
überschluckt von unserer Gier
Hunger!
und dich schauen wir nicht an
versehrte Kreatur
wollen selber das
was dir gebührt
glaubt denn keiner
dass auch wir
leiden
sterben
trotz des blind gepickten Korns
wir dummen, dummen Hühner
einziger Inhalt:
Zergackern der möglichen Scham
zu Staub Zertreten der Frage
wer wir wären
ignorierten wir den Zaun

Samstag, 10. Mai 2014

Treuer (Vogelfrau 8)

Ein paar Stunden zuvor:

Treuer fürchtete sich.
Nicht nur jetzt, in diesem Moment. Nein, die Furcht war ihr ständiger Begleiter, treu wie kein anderer.
Niemand wusste davon, niemand sah es ihr an. Da war auch nichts, das man ihr hätte ansehen können, denn sobald sie unter Menschen war, verspürte sie keinerlei Furcht mehr. Dann war sie stark und präsent. Dann konnte sie frei heraus reden und lachen, Forderungen stellen und Respekt einflößen, und alles war echt. Ihre Furcht verschwand, sobald sie am Morgen das Haus verließ.
Aber in der Nacht, allein in ihrer Wohnung, da fürchtete sie sich. Wenn sie nach Hause kam, knipste sie mit dem Sammelschalter, den sie direkt neben der Wohnungstür hatte installieren lassen, sämtliche Lampen an. Anschließend machte sie ihren Kontrollgang durch die Zimmer mit Blick in jede Ecke, hinter jede Tür. Erst dann drehte sie dreimal den Schlüssel im Schloss und zog Schuhe und Jacke aus.

Treuer dachte an die Tote. Die Vogelfrau, wie Bluhm sie nannte. Ihre Haut war weiß und zart, jedenfalls da, wo sie vom Sturz unbeschadet war. Da schien sie regelrecht unangetastet. Die weißen Schwingen. Der Flaum und die zarteren Federn, die vom geringsten Lufthauch bewegt wurden und von Lebendigkeit sprachen. Nicht von Auslöschung, wie der Asphalt und das Blut und der kalte Obduktionstisch.
Das Wunder der angewachsenen Flügel. Dr. F... hatte, als ihr das Wort Wunder von den Lippen sprang, die Stirn gerunzelt. Natürlich, hier in der kalten Sezierkammer war man Wissenschaftler pur. Es gab Fakten und streng begrenzte Schlüsse, die daraus gezogen wurden. Es gab offene Fragen und Thesen und Methoden und Spuren und Indizien und Beweise. Aber Wunder gab es nicht. Jedenfalls keine ausgesprochenen. Morgen sollte weiter untersucht, sollte geröntgt, seziert und mikroskopiert werden. Ein Ornithologe würde hinzugezogen werden.
Treuer dachte an den Satz, der auf der Rückseite der Liste stand: Ich bin nicht die Einzige. Einer der Kollegen hatte am Abend noch gemeint, wenn sie nicht allein gewesen sei, müsse man unbedingt auch in diese Richtung ermitteln. Ihr war das sofort aufgestoßen, der andere Wortlaut: die Einzige - allein. Sie war zu müde für eine Klarstellung und eine möglicherweise folgende Diskussion gewesen und hatte deshalb nichts gesagt. Ich bin nicht die Einzige. Nicht die einzige was? Vogelfrau? Nicht die Einzige, aber mit Sicherheit allein, sonst hätte sie sich nicht in den Tod gestürzt. Und wie es aussah, waren da noch mehr, die zwar nicht die Einzigen, aber ganz und gar allein waren.

Treuer lag im Bett, die Lampen waren ausgeschaltet bis auf die im Flur, die brannte die ganze Nacht hindurch. Ein kleines Licht gegen die Furcht. Wovor? Vor dem Dunkel und den darin lauernden Gestalten, die nur darauf warteten, ihre Nerven zu zerfetzen. Die mit ihren Klauen ihr Fleisch durchbohrten, mitten in ihren Leib griffen, um alles säuberlich Geschichtete durcheinander zu stoßen. Die keinen Halt machten vor dem Weggesperrten, die mit ihren Zähnen Schlösser knackten ... 
Treuer stöhnte auf und wälzte sich auf die andere Seite, knipste zusätzlich das Lämpchen auf ihrem Nachttisch an, betrachtete das Foto, das dort im Silberrahmen stand: Sie als Kind auf einer Schaukel, hoch in der Luft, die Flügel des Elfenkostüms schimmerten in der Mittagssonne. Es war ihr fünfter Geburtstag, die Schaukel hatte der Vater gerade am stärksten Ast des Kastanienbaums aufgehängt. Bald würden die Gäste kommen. Sie spürte den Wind an den nackten Beinen, goldener Sonnenflitter regnete durchs Blätterdach auf sie herab. Alles sprühte und ihr kleines Herz platzte fast vor Glück. Das war die ganze herrliche Welt und sie mittendrin.

Irgendwann schlief Treuer ein, endlich, und mit ihr schlief die Furcht.

Freitag, 9. Mai 2014

Besuch von Fremden

Er nennt die Dinge beim Namen und sagt, was Sache ist. So einfach. Jeder glaubt ihm aufs Wort. 
Sie hatte sich lange angelehnt an diese stabile Art der Gewissheit. Bis sie eines Morgens Besuch bekam. 

Ein leises Klopfen an der Tür. Sie öffnete zögernd, erwartete sie doch niemanden. Da standen ein paar der Dinge, die er so selbstverständlich beim Namen nannte. 
Dürfen wir uns vorstellen, fragten sie höflich. 
Kommt herein, sagte sie, ich kenne euch ja längst. 
Aber dann benahmen sie sich doch ganz unerwartet. Wurden ihr fremder mit jeder Minute, die verstrich. Ihr war unbehaglich zumute. Schließlich überwand sie sich: Ich hatte, ehrlich gesagt, eine ziemlich abweichende Vorstellung von euch. Tut mir leid. 
Die Dinge kicherten: Macht nichts, daran sind wir gewöhnt, geht uns eigentlich jedesmal so. 
Sie schlugen ein Spiel vor, das sie Stummes Schauen nannten. Jeder durfte sich frei in Haus und Garten bewegen und Beliebiges verrichten. Alle würden einander beobachten. Ohne Argwohn, mit unverhohlener Neugier. Nach einer festgesetzten Zeit würde man wieder zusammenkommen und die vorläufigen Ergebnisse austauschen. Dann ging es in die nächste Runde. Beendet war das Spiel mit dem Level Stummes Staunen. Wenn die alten Namen weggewischt und die neuen noch nicht erfunden waren. Wenn alle um ihren Gewinn wussten.

Sie hatten viel Spaß miteinander. 
Am Abend, nachdem die Dinge sich verbschiedet hatten - Bis zum nächsten Mal! Ja, gerne schon bald! - spürte sie ein neuartiges Glück. Ob es sich halten lassen würde gegen seine Art der festen Reden? Eins wusste sie mit Bestimmtheit: Da war viel mehr weiße Fläche als gedacht. Und es gab keinen Grund, sich davor zu fürchten.

Mittwoch, 7. Mai 2014

Tanz den Anagramm!

für S.


Wie der Clan sich erhitzt!
Sein Lachen ritzt
die schwärzeste Nacht,
bis sie aus allen Ritzen lacht.

Ihr richtet die Lanz
und die Ratzel im Nicht,
bis lichter Tanz
durch die Dämmerung bricht.

Dann lichten wir zart 
unsre Gegenwart.
 


*** 


Liebe Frau Paulchen, Ihr #frapalymo macht mir Spaß! :-)

Dienstag, 6. Mai 2014

Sagt die Feder zum Stein

Sagt die Feder zum Stein:
Wie schwer du es hast,
so viel schwerer als ich.

Der Stein drauf zur Feder:
Zu bleiben, meine Liebe,
ist ein Leichtes für mich.


***


Auch dieses Gedicht entstand im Rahmen des #frapalymo-Projekts von Sophie Paulchen.


Sonntag, 4. Mai 2014

Im Erwachen flog mir ...

Im Erwachen flog mir
ein Vöglein zu

Ich war nicht die erste
bei der es verweilte
und war nicht die letzte
aber zwischen zwei Flügen
gehörte es mir



***


angeregt durch Sophie Paulchens #frapalymo-Projekt, Impuls 4: "etwas leichtes"

Freitag, 2. Mai 2014

Dann

Dann
eines Tages
sind wir endlich
unumstellt
dann 
gehen wir über
in die salzige Luft
unseres Sehnens
dann 
fliegen wir
himmelweit
in alle Richtungen zugleich
dann 
sind wir
nicht mehr
und nicht weniger

Donnerstag, 1. Mai 2014

Die Hände meines Vaters, ein bretonischer Küstenort und Hauptsache bewegt

Deine Hände waren ein Hafen, den ich viel zu jung und viel zu überstürzt verlassen habe, und in den ich erst kurz vor deinem Tod zurückgekehrt bin. Große schwere Hände. Sensibel genug, um feine Bleistiftlinien zu zeichnen und aus Papierbögen Schiffchen zu falten. Stark genug, um Eisen zu schmieden und um mich hoch in die Luft zu werfen und wieder aufzufangen. Zärtlich genug, um mein aufgeschürftes Knie zu verarzten und mir das Haar aus der Stirn zu streichen. Brutal genug, um deinem Zorn Ausdruck zu verleihen auf entsetzter Haut. Nicht auf meiner. Trotzdem schmerzte es. Als ich nicht mehr wegsehen konnte, verließ ich den Hafen. Da war ich zwölf. Erst an deinem Sterbebett steuerte ich ihn wieder an, hielt deine Hand, die kaum noch Gewicht hatte, keinen Widerstand mehr bot. Leicht wie ein Vogel ruhte sie in meinen Händen. Nur warm war sie noch.

*

Ich habe immer eine Sehnsucht in mir gehabt. Selten wusste ich sie zu benennen. Ein Gefühl wie Heimweh und Fernweh zugleich. Meistens wünschte ich mich woanders hin. Immer sehnte ich mich nach einem beständigen Ort. Ich bin bisher vierzehn mal in meinem Leben umgezogen, am häufigsten in der Kindheit. Ich habe Grundschulen in drei verschiedenen Städten besucht. Inzwischen sind die Abstände größer geworden, nicht zuletzt meinen eigenen Kindern zuliebe. Vor etwa achtzehn Jahren machte ich mit meiner kleinen Familie Urlaub in der Nordbretagne. Wir fanden einen Campingplatz mit Blick aufs Meer. Dort, in dem Hafenstädtchen Binic, hatte ich erstmals das Empfinden, als wären Heimweh und Fernweh zugleich gestillt. Als schlösse sich ein Kreis. Der Atlantik ist mir in dieser Bucht wie ein Geliebter, sanft tragend und Widerstand leistend zugleich. Wind, Möwen und Sonne sind mir dort vertrauter als anderswo. Dieser Ort ist mir ein inneres und äußeres Zuhause geworden. Schon viel zu lange war ich nicht mehr da. Manchmal habe ich mich gefragt, ob ich in irgendeiner Weise von dieser Küste stamme. Ob ich vielleicht keltische Ursprünge habe. Aber es ist nicht wichtig, das zu erforschen und zu wissen. Wichtig ist, was ich spüre, wenn ich dort bin: Zugehörigkeit. Das Gefühl, angekommen zu sein. Nichts, was man erklären muss.

*

Was ich seit vier, fünf Jahren zunehmend wahrnehme: Ein Gefühl des Zuhauseseins im Schreiben und in der Bewegung. Beides hängt zusammen; und mit Bewegung meine ich sowohl eine körperlich-räumliche als auch eine gedankliche. Reisen, Entwicklung, Lebendigsein. Ein Heimatfinden und -einrichten in mir und im Unterwegssein, in meiner Gangart, in meinem Tempo. Ich selbst als mein allereigenster Ort, egal wo, Hauptsache bewegt. Unterwegs und mit der Ahnung eines Hafens im Kopf.


***


Dieser Text entstand nach Anregung durch das Heimat-Projekt der Mützenfalterin. In ihrem Blog gibt es bereits eine Reihe schöner, persönlicher Texte zum Thema.


*** 


08.05.2014

Die Twitterin @dites_donc übersetzt manchmal die Tweets anderer ins Französische. Eine schöne Idee, finde ich. Und nun hat sie den letzten Abschnitt meines Textes übertragen. Hier:

Ce qui grandit en moi depuis quatre ou cinq ans, c’est cette sensation d’être chez moi dans l’écriture et le mouvement - les deux sont liés. Le corps, les idées : en mouvement. Voyager, évoluer, être vivant. Me retrouver en moi, m’y faire ma place. Et bouger, à mon rythme, au pas qui est le mien. Être mon propre repère, itinérant. Avoir un ancrage intérieur, vibrant.

 Gefällt mir gut. Merci beaucoup, chère @dites_donc!